DAS SPIEL IST AUS - ARTHUR NEBE
21. Fortsetzung
»Trotzdem! Wir müssen die ganze Mordsache noch einmal von vorn aufrollen. Erzählen Sie also, als ob wir noch gar nichts von der ganzen Angelegenheit wüßten!«
Metz begann zögernd und stockend. Der Kommissar machte ihm Mut. Der Unteroffizier wurde zutraulich. Munter floß seine Rede. Längst war er in seinen Erzählungen schon Wochen über die Tat hinaus. Dem Kommissar fiel die Gegensätzlichkeit von Metz' Unbekümmertheit zu seiner anfänglichen Nervosität auf.
An einer harmlosen Stelle unterbrach er den Erzählenden: »Wie haben Sie das eigentlich gemacht, als Sie festgestellt haben, daß aus der Pistole von Dr. Goebel nicht geschossen war? Sie wissen doch, als Sie vom Kompaniechef ins Tatzimmer geschickt worden sind, um nachzusehen, ob der Arzt nicht einen Selbstmord begangen haben könne!«
Bei diesen Worten hatte der Kriminalist Metz seine eigene Pistole in die Hand gegeben. »Sehen Sie einmal nach, ob aus dieser Pistole nach der letzten Reinigung geschossen worden ist!« Metz war plötzlich wieder nervös. Er hatte die Pistole in der Hand und seine Augen suchten im Gesicht des Kriminalbeamten. Sein Hals wurde rot. »Nun sehen Sie schon nach, Metz!«
Der Unteroffizier trat zögernd an das Fenster, hielt die Mündung der Waffe gegen das Licht und versuchte in den Lauf zu sehen. »Sie haben nicht aus der Pistole geschossen!« - »Ich nicht, aber denn ein anderer?« - Der Unteroffizier guckte verwirrt. Zögernd kam seine Antwort: »Das kann ... ja so etwas kann man doch ... wie will man denn so etwas überhaupt sehen?«
Der Kommissar nahm seine Pistole zurück und bat Metz, wieder Platz zu nehmen. Er setzte sich ihm hart gegenüber und fuhr freundlich fort: »Sehen Sie. Metz, Sie machen bei all Ihren Angaben einen großen Fehler. Sie gehen immer davon aus, daß Lankmann den Stabsarzt ermordet hat. Das stimmt ja gar nicht. Ich habe den Mann längst entlassen und nach Hause geschickt!«
Der Unteroffizier war sichtlich betroffen. Sein Hals, der die Röte inzwischen verloren hatte, schwoll an und seine Gurgel zeigte merkwürdig trockene Schluckbewegungen. Auf der Stirn von Metz zeigten sich Schweißperlen. Der Kommissar blieb ruhig und freundlich. »Was meinen Sie, Metz, habe ich einen Fehler gemacht?«
Die Antwort kam zögernd: »Einen Fehler? Nein ... eigentlich nicht .. Ich habe es mir auch schon gedacht, daß es der Lankmann vielleicht doch nicht gewesen sein kann. Aber ich meine, ich hätte das Beil bestimmt dem Lankmann gegeben.«
»Sie hatten es also nicht als nachweislich letzter Besitzer?« - »Nein, ganz bestimmt nicht. Ich hatte es einem anderen gegeben.«
Die Fragen fielen schnell und folgten, kaum, daß die vorangegangene beantwortet war. »Dem Lankmann gegeben?« - »Ja, wenigstens nehme ich das an.« - »Sie nehmen das also nur an, wissen es nicht genau?« - »Ja.« - »Und deswegen meinen Sie der Lankmann könne es auch nicht gewesen sein?« - »Ja.«
Metz' Gesicht war plötzlich so blaß geworden. wie es vorher mit hektischer Röte überzogen war. »Nun, Metz ...?« - Der Unteroffizier setzte zum Sprechen an, aber er sprach nicht. »Schön, Metz, dann will ich es Ihnen sagen, warum es Lankmann nicht gewesen sein kann. Weil Sie nämlich selbst den Arzt erschlagen haben!«
Der Unteroffizier, bisher nicht nur soldatisch ergeben, sondern geradezu unterwürfig, stierte den Kommissar immer noch an. Plötzlich veränderten sich seine Augen und wurden haßerfüllt. Er sprang auf, beugte sich zu dem Kommissar und schrie ihn an: »Ich! - Wie kommen Sie auf mich?! - Das müssen Sie mir erst beweisen!«
Am selben Tage wurde Lankmann aus der Haft entlassen und ein Haftbefehl gegen Metz unterschrieben. Der Kommissar hatte zwar noch keine Beweise dafür, in welcher Zeit Metz das Tatbeil auf Sark im Besitz gehabt hatte, aber seine Vermutung war schlecht von der Hand zu weisen.
Die große Schwierigkeit lag darin, daß Metz selbst beim Kriegsgericht genug gehört hatte, um zu wissen, daß ein Geständnis des Täters auch bei Vorliegen eines guten Indizienbeweises unbedingt erforderlich war. Wegen des Selbstmordes von Uhl. Daran klammerte er sich offensichtlich. Er war weder zu dem Geständnis zu verleiten noch konnten die Kriminalbeamten auch nur den geringsten Aufschluß über den Verbleib der dem Toten geraubten Gegenstände erlangen.
Die Zeit drängte. In der Reichszentrale für Kapitalverbrechen in Berlin gab es genügend drängende Arbeit für den Kommissar. So nahm er Metz mit ins Reich.
Die andere Umgebung, die Metz dort im Polizeigefängnis vorfinden würde konnte vielleicht nützlich werden. Es war ein bedenkliches Spiel, das der Kommissar da trieb, denn was am meisten gegen Metz sprach, war die Betriebsamkeit, mit der er das seinige getan hatte, um einen Unschuldigen auf das Schafott zu bringen. Das war nicht genug.
In Berlin blieb Metz lange Zeit sich selbst überlassen Seine Gefängnisgenossen wechselten. Eines Tages zog ein stämmiger älterer Berliner in seiner Zelle ein. Manz, Fassadenkletterer, Sicherheitsverwahrung. Metz wußte nur, daß Erich in einigen Wochen entlassen werden sollte, er wußte nicht, daß er eigens aus Brandenburg nach Berlin verlegt worden war, um Metz Gesellschaft zu leisten.
Erich wußte recht ordentlich Bescheid in allen Angelegenheiten, die die Kriminalpolizei betrafen. »Für den Wehner sitzt du ein? Du, dann nimm dich in acht!« - »Aber ich habe doch gar nichts getan!« - »Das mach einem anderen weis, aber nicht mir. Wenn die drüben hier einen einbuchten, dann tun sie das nicht ohne Grund. Aber wie du willst, du brauchst mir nichts zu sagen.«
In der Reichszentrale führte man über alle Gespräche, die in der Zelle von Metz geführt wurden, genau Buch. Der Zuchthausgefangene Erich wußte von dem Geschehnis auf der Insel Sark nicht das Geringste. Die Wiedergabe eines Gesprächs, das Erich mit Metz führte, wurde zudem im mechanischen Protokoll festgehalten. Die auf dem Schreibtisch des vernehmenden Kommissars eingebauten Mikrophone konnte kein Fremder vermuten
Wehner zu Erich: »Wecken Sie Metz nächstens einmal in der Nacht und sagen Sie ihm, er solle nicht so laut träumen, und von dem Beil erzählen, sonst wären die Kriminalisten schneller hinter seinen Schlichen als er das ahnen könne!«
Metz konnte fortan keine Nacht mehr schlafen, so sehr quälte ihn der Gedanke er könne sich im Schlaf versprechen. Eines Tages vertraute er sich seinem Leidensgenossen an. Er hatte den Stabsarzt ermordet aus Angst, der könnte seine Drohung den Unteroffizier wegen zu großer Dusseligkeit degradieren zu lassen - was gar nicht möglich war - , in die Tat umsetzen. Geschickt hatte er verstanden, das im Besitze des Lankmann befindliche Tatbeil gegen das aus der Küche umzutauschen, wobei dann das Verschwinden des überzähligen Beiles nicht weiter aufzufallen brauchte. -
Jetzt hatte Wehner das unmittelbare Geständnis in Händen. Der alte Ganove Erich hatte unmöglich etwas Falsches, selbst Gedichtetes übermittelt, denn dazu hätten ihm auch Einzelheiten außerhalb der Tat bekannt sein müssen. Außerdem gab es eine objektive Probe: Metz hatte seinem Zellengenossen erzählt, er habe den Holzstiel des Beiles und die Stiefeletten im Badezimmerofen des Reviers verbrannt. Die Asche war noch vorhanden. In ihr fanden die Leute vom Kriminaltechnischen Institut die Reste verbrannten Leders.
Rudolf Metz schwieg, als er vernommen werden sollte. Als ihm aus dem Lautsprecher die Stimme des Zuchthäuslers entgegenschnarrte, die vom ersten Tag des gemeinsamen Aufenthaltes an jede Einzelheit wiedergab, die der Mörder dem Fassadenkletterer erzählt hatte, fing Metz an zu weinen. Dann legte er ein Geständnis ab. Die Gegenüberstellung mit Erich war kaum noch erforderlich.
Das Motiv in seinen Einzelheiten gab Einblick in die Seele eines Mörders aus Zufall. Metz war eines von vielen Kindern einer armen Familie. Noch schulpflichtig, mußte er verdienen helfen. Dann kam er zu fremden Leuten.
Er wurde Soldat und kapitulierte. Wurde Unteroffizier, bekam Macht über andere. In der Erinnerung an seine Jugend kam er sich wie ein König vor. Und diesen königlichen Zustand sah er plötzlich gefährdet durch Dr. Goebel, als der ihm unmittelbar vor der Ablösung der Kompanie auf Sark erklärt hatte, er sei zu dumm und gehöre degradiert.
In der folgenden Nacht wälzte er sich im Bett, verglich den jetzigen Lebensstandard mit dem früheren und beseitigte die ihm vermeintlich drohende Gefahr, indem er den Arzt umbrachte. Die Mordausführung war so raffiniert, daß selbst der Arzt Metz nicht mehr »dusselig« hätte schimpfen können.
Bevor Metz nach Guernsey zurückbefördert wurde, wo ihn ein Kriegsgericht zum Tode verurteilte, hatten die Kriminalisten noch eine kleine Vorstellung gegeben: Ein Berliner Schulmedizinalrat hatte immer schon einmal einen »richtigen Mörder« kennenlernen wollen. Als Metz sein Geständnis abgelegt hatte, rief Wehner den Mediziner an
Um 17 Uhr kam der Arzt zur Kaffeestunde ins Dienstzimmer. »Trinken Sie einen Kaffee mit uns. Darf ich bekannt machen: Meine Sekretärin, dies ist Kriminalsekretär Philipps und dies ist Herr Metz.«
Der Mediziner gab jedem die Hand, nahm Platz und trank Kaffee. Nach einer Weile: »Nun bin ich aber begierig, Ihren neuesten Mörder kennenzulernen. Ich habe noch nie einen gesehen. Wo steckt er denn?«
Metz empfand die Situation nicht einmal peinlich. Munter plauderte er über die Dinge des Alltags. Er war schon ein wenig darüber weg.
Als im Dezember 1944 der KL-Kommandant von Buchenwald, der SS-Standartenführer Koch, und mit ihm seine Frau Ilse im Weimarer Justizpalast vor Gericht standen, um sich wegen Mordes und einer Litanei anderer Verbrechen zu verantworten, fällte das SS- und Polizeigericht*) erstmals Urteile, die Verbrechen an KZ-Häftlingen zumindest zum Gegenstand hatten.
Diesem Dezembertermin, den Nebe nicht mehr im Amt erlebt hat, sollten weitere folgen. Im Polizeigefängnis saß der sadistische Buchenwalder Bunkeraufseher, SS-Hauptscharführer Sommer, und im Gefängnis in der Polizeiunterkunft der SS-Lagerarzt, Hauptsturmführer Dr. Waldemar Hoven. Beide waren von Nebes Kripo wegen Mordes, Totschlags, Körperverletzung
*) Die SS- und Polizeigerichte waren echte Militärgerichte mit der Grundlage des Militärstrafgesetzbuches und den entsprechenden, für das Gebiet der Wehrmacht geltenden Prozeßordnungen. Ihre Zuständigkeit, erstreckte sich auf die Waffen-SS, die gesamte Polizei einschließlich Kripo, Stapo, Feuerwehren u. a., und die Konzentrationslager. Sie bedienten sich für die Ermittlungsverfahren, ebenso wie die Wehrmachtgerichte, der Kripo nur in Sonderfällen. Grundsätzlich war diese also für die SS, die Polizei und die Konzentrationslager ebensowenig zuständig wie für Verfahren in der Wehrmacht. mit tödlichem Ausgang u. a. überführt.
Der Hauptanklagepunkt gegen Koch war der wegen Mordes. Es ging um die Erschießung der beiden Häftlinge Krämer und Peix. Dem Kriminalrat Dr. Wehner hatte es einige Mühe gekostet, den Tatbestand des § 211 StGB anklagereif zu ermitteln. Denn nie zuvor hatte es Parallelen zum Fall Koch in der Kripoarbeit gegeben.
Man wußte, daß Koch ein tausendfältiger Mörder war. Aber um ihn wegen Mordes verurteilen zu können, bedurfte es mindestens eines Tatbestandes, der objektiv wie subjektiv zu beweisen war. Diesen Tatbestand galt es unter tausenden möglichen, wahrscheinlichen, ja sogar sicheren Tötungen herauszufinden.
Der Mitanzuklagende wegen dieser beiden Morde fehlte, der SS-Hauptscharführer Blanck. Als Wehner ihn im Februar 1944 festgesetzt hatte, erhängte er sich mit einem Strick
Im Gerichtssaal sprachen Ankläger und Kriminalist miteinander. »Daß Koch das Todesurteil erwartet, ist klar. Bei Ilse Koch bin ich mir im Zweifel. Zwar hat Himmler ein Fernschreiben geschickt und die Erwartung ausgesprochen, daß er für die Frau wenigstens sechs Jahre Zuchthaus erwartet, aber ob das Gericht auf einen solchen Befehl des RFSS eingehen wird, bezweifle ich.« Der zivilberufliche Amtsgerichtsrat und SS-Richter Dr. Hansen machte eine zweifelnde Gebärde.
»Uebrigens ist es Ihr Verdienst, wenn Koch heute zum Tode verurteilt wird. Denn ohne die klare Beweisführung in den beiden Mordsachen glaube ich kaum, daß das Gericht wegen der übrigen Anklagen zu einem Todesurteil kommen würde.«
Wehner erfuhr noch mehr. Himmler hatte bereits die Hinrichtungszeremonie für die Urteilsvollstreckung befohlen: In Gegenwart aller Konzentrationslagerkommandanten und SS - Gerichts - Offiziere sollte Koch vor angetretener SS - Lagermannschaft, zur Abschreckung für alle, feierlichst aufgehängt werden.
Daraus wurde nichts mehr. Als die Amerikaner auf Weimar marschierten und alliierte Fallschirmspringer in Tätigkeit traten, ließ SS-Sturmbannführer Dr. Paulmann, der leitende SS-Richter beim Höheren SS- und Polizeiführer Kassel, Erbprinz Josias zu Waldeck-Pyrmont, den zum Tode verurteilten Koch kurzerhand erschießen. Dr. Hoven ließ er frei, die Kommandeuse war nach ihrem Freispruch sofort entlassen worden.
Eugen Kogon tut die damaligen Vorgänge im »SS-Staat« auf 2S Seiten ab, in ihrem historischen Ablauf nicht immer richtig. Den Namen Arthur Nebes erwähnt er dabei nicht.
Keine Frage, daß Nebe nur höchst ungerne mit allem zu tun haben wollte, was mit der SS oder gar mit Konzentrationslagern zusammenhing. Und doch geht auf Nebe auch der Koch-Prozeß zurück, von dem Kogon sagt, daß »es sich nach seinem Dafürhalten keineswegs um eine bewußt eingeleitete Aktion zur Verwirklichung bestimmter Absichten oder gar um ein echtes Reinigungsbedürfnis gehandelt habe«.
Vielmehr sei »das Ineinander und Gegeneinander der persönlichen Interessenverflechtung der SS-Führer einfach an irgendeinem Punkte einmal ausgebrochen«. Das erste stimmt ohne Zweifel, das zweite ohne Zweifel nicht. Aufschluß allein gibt die historische Entwicklung des Koch-Prozesses, die ihren Anfang im Herbst 1942 nimmt, bei einem kleinen Weimarer Kripobeamten, dem Kriminalsekretär Emil Holtschmidt.
Beim Betrugskommissariat der Kripo Weimar saß ein Beamter, der zugleich NSDAP-Ortsgruppenleiter war. Ortsgruppenleiter aber war auch der Kaufmann Bornschein, der nur deswegen bei der Waffen-SS eingezogen und zum Kommandanturstab nach Buchenwald versetzt worden war, um ungehindert seine Schiebergeschäfte tätigen zu können. Die Besetzung des Betrugskommissariats mit dem Kollegen Ortsgruppenleiter bedeutete für Bornschein Sicherheit in seinen Schiebereien.
Das wurmte den Kriminalsekretär Emil Holtschmidt. Insgeheim trug er Beweismaterial zusammen. Niemand, nicht einmal sein Chef, geschweige denn Schieber Bornschein selbst durften etwas davon merken. Einzelne Kameraden halfen Emil.
Eines Tages begann Holtschmidt mit der Protokollierung von Zeugenaussagen. Er gab strenges Schweigegebot. Als er aber kaum das Präsidium verlassen hatte, um weitere Ermittlungen anzustellen, fand sich SS-Mann Bornschein auf dem Präsidium ein. »Ich verlange zu wissen, was hier gegen mich vorgeht. Was will man von den Zeugen, die gegen mich aussagen?«
Bornschein legte sein ganzes Ortsgruppengewicht hinter sein Begehren. Und Holtschmidt wußte, daß weder er noch die Kripo überhaupt zuständig war, denn Bornschein unterstand der SS- und Polizeigerichtsbarkeit.
Holtschmidt dachte aber nicht an sich, sondern daran, welcher Verdacht sich inzwischen ergeben hatte. Bornscheins Schiebungen nahmen ihren Auslauf im Buchenwalder Lager. Dorthin gingen die nächtlichen Lastwagenladungen mit bewirtschafteten Lebensmitteln. Und in Buchenwald saßen die SS-Führer, die für das Ermittlungsverfahren gegen Bornschein eigentlich zuständig waren. Da aber die SS selbst für Lebensmittel und geringwertige Gebrauchsgüter nicht aufnahmefähig war, konnten die Waren nur gegen Unsummen an die Häftlinge verschoben werden. Das wiederum ging nicht ohne die SS.
Kurz entschlossen fiel der unerschrockene Kriminalbeamte in den Wohn- und Geschäftsräumen des Kaufmanns Bornschein ein. Der Erfolg seiner Durchsuchung gab ihm recht. Er beschlagnahmte eine Unmenge Waren aller Art, die sämtlich der Bewirtschaftung unterlagen.
In seinem Rechtlichkeitssinn glaubte Holtschmidt eine Schlacht gegen die Korruption gewonnen. Stolz rief er den für den SS-Mann Bornschein zuständigen örtlichen Gerichtsherrn an, den Lagerkommandanten Pister, den Nachfolger des im Februar 1942 nach Lublin versetzten Koch. Erfolg: Haftbefehl gegen Schieber Bornschein und Fortführung der Ermittlungen durch Kriminalsekretär Holtschmidt, später durch den Gerichtsoffizier, SS-Obersturmführer Schmidt.
Bald jedoch konnte auch Holtschmidt erkennen, daß er mit der SS angebunden hatte. Er wurde ins Lager bestellt, beschimpft und bedroht. Aber er ließ sich nicht einschüchtern. Seine Ermittlungen gingen an den Gerichtsoffizier ab.
Zu seinem Erstaunen sah Holtschmidt bald darauf Schieber Bornschein wieder auf freiem Fuß. Also war der Ortsgruppenleiter und SS-Angehörige Bornschein leer ausgegangen, während andere für gleiche Vergehen auf Jahre zu brummen hatten. Wütend berichtete Holtschmidt nunmehr an das Reichskriminalpolizeiamt, wo Karlchen Schulz sich den Kopf zerbrechen mochte.
Für Karlchen Schulz war lediglich die KZ-Verflechtung neu. Er würde die Sache mit dem Hauptamt SS- und Polizeigericht besprechen, sich einen Ermittlungsauftrag beschaffen und einsteigen.
Karlchen Schulz war aber ein Glücksvogel. Zu dieser Zeit nämlich wurde der SS-Richter Dr. Konrad Morgen, von Hause aus Ziviljurist und nach kurzer Waffen-SS-Kriegsdienstzeit zur Waffen-SS-Justiz versetzt, zur informatorischen Beschäftigung in Nebes Amt kommandiert.
Das war der richtige Mann. Dr. Morgen fuhr als Beauftragter des Schulzschen Korruptionsreferates nach Weimar. Zugleich war er als SS-Richter zuständig. Mit Holtschmidt stieg er erneut in die Sache Bornschein ein, unbeschwert und unkorrupt, in keinem Personenverhältnis zu irgendwelchen Buchenwalder SS-Angehörigen und von einem maßlosen Ehrgeiz gepackt.
Damit hatte Holtschmidt den Flocken für die Lawine geworfen, die von nun ab über die korrupte Konzentrationslager-SS hinwegrollte. Dr. Morgens Verdienst bleibt es, durch nimmermüdes Drängen bei dem SS-Chefrichter Bender, bei dem SS-Obergruppenführer Pohl, der durch die Korruption innerhalb der Lager-SS am meisten kompromittiert war, bei Breithaupt, dem Chef der SS- und Polizeigerichtsbarkeit, bei Gott und aller Welt jeden vorzeitigen Stop der Lawine verhindert zu haben. Erbprinz Josias zu Waldeck und Pyrmont als örtlicher SS- und Polizeiführer war sein Gegner dabei nicht, überhaupt war kein Gegner sichtbar. Denn es ging ausschließlich um Bereicherungen der SS-Führer, um Verkauf bewirtschafteter Waren an Häftlinge, um Ausnutzung der Häftlingsarbeit für die eigene Tasche, Diebstahl, Unterschlagung und Untreue, sichtbar in den Kochschen Goldklumpen aus Häftlingszahngold und dem Schmuck der rothaarigen Kommandeuse. Nach Bornschein (9 Jahre Zuchthaus) kamen viele Bornscheins. Mit den ersten SS-Führern kam Koch.
Im August 1943 war das Kasseler SS- und Polizeigericht des Erbprinzen Josias unter Vorsitz des Sturmbannführers Dr. Paulmann und mit dem Untersuchungsführer (Staatsanwalt) Dr. Morgen Sondergericht für alle Verfahren gegen SS-Angehörige, die unter der gleichen Anklage aus allen Konzentrationslagern Deutschlands eine Gastrolle in Weimars Gefängnissen gaben. Daß die Gefängnisse immer voll waren, dafür sorgte Karlchen Schulz, der insbesondere aus Sachsenhausen wacker Zuchthaus-Anwärter lieferte.
Eine »bewußt eingeleitete Aktion zur Verwirklichung bestimmter politischer Absichten« war das sicherlich nicht. Es war einfach eine Kette, die sich aus dem Fall Bornschein mehr oder weniger von selbst ergab, an deren Entflechtung von Himmler bis Pohl das höchste Interesse bestand. Denn entweder war »der Staat« unmittelbar bestohlen oder die Häftlinge waren bestohlen. Dann aber war der Staat mittelbar betrogen. Denn was in die Taschen der SS-Angehörigen floß, ging dem SS-Staat verloren, der die Häftlingsleiber bis zu ihrem Tode verwaltete.
Es »brach also auch nicht einfach an irgendeinem Punkte das In- und Gegeneinander der persönlichen Interessenverflechtung der SS-Führer aus«, sondern die Verfahren waren bis zu diesem Zeitpunkt das Ergebnis der Ermittlungen einer Handvoll sauberer und korrekter Beamter, der Kripo wie der SS-Gerichtsbarkeit, die zudem die Absichten der SS-Führung nicht störten, sondern ihnen dienlich waren.
Das 1941/42 vorangegangene Verfahren gegen Koch stellte sich in seinem damals negativen Ausgang nicht als unterdrückt, sondern überwiegend als mangelhafte kriminalistische Leistung heraus. Kriminalisten waren damals am Verfahren nicht beteiligt.
Dr. Morgens Hauptziel war der Sturz des allmächtigen Koch. Dessen Sünden-Konto: schwarze Kassen mit den Geldern aus der Häftlingskantine, die Tätigkeit des Häftlings Meiners, der sich als Einkäufer frei bewegen konnte, veruntreutes Gold aus den Gebissen verbrannter Häftlinge im rekonstruierten Gewicht von 5000 g - das alles reichte natürlich zum Haftbefehl gegen Koch.
So war es verhältnismäßig leicht, auch Kochs gesamte Clique hinter Schloß und Riegel zu setzen: Ilse Koch, die Nutznießerin der Taten ihres Mannes; den Hauptscharführer Köhler, neben Meiners der Haupteinkäufer für den schwarzen Kaufmann Koch; den Hauptscharführer Michael, den Beschaffer des »schwarzen« Goldes. Den Hauptsturmführer Hackmann, Kochs Adjutanten, der seinen Chef fast noch übertroffen hat.
Die Hauptscharführer Sigel und Stroink gingen in Haft, Individuen Kochs, und Dr. Morgens Asservatenschränke glichen kleinen Panzerschränken Ali Khans. Wie Ilse Koch teilten auch die Ehefrauen der kleinen Kochs das Schicksal ihrer Männer.
Natürlich kam auch das Schicksal Hunderter und Tausender von Häftlingen zur Sprache. Die Begriffe Mord, Folterungen, Bestialitäten und sonstige Scheußlichkeiten schwirrten in der KZ-Luft wie die Fliegen über verwahrlosten Dunghaufen. Dr. Morgen registrierte, aber noch standen sie nicht zur Ermittlung. Dafür sprach der rührige SS-Staatsanwalt diese Dinge an, wo immer er nur konnte. Auch die Vorzimmer Himmlers selbst blieben nicht vor ihm verschont. Aber es blieb heißes Eisen.
Da ereigneten sich Mitte September 1943 merkwürdige Vorfälle an hintereinanderfolgenden Tagen. Der Vater eines im Zusammenhang mit Koch festgenommenen SS-Unterführers sollte vernommen werden. Der Mann erkrankte schwer an Vergiftungserscheinungen.
Die Ehefrau Hackmann sollte in Berlin vernommen werden. Sie erkrankte an Vergiftungserscheinungen und wurde in eine Klinik eingeliefert.
Der Hauptscharführer Stroink sollte von Lublin nach Buchenwald verlegt werden. Er fand Gelegenheit, sich im Gefängnis zu erschießen.
Und im Buchenwalder Arrest alarmierte die Gefängniswache einen Arzt, weil der Hauptscharführer Köhler ganz plötzlich mit Vergiftungserscheinungen in seiner Zelle lag.
Der Lagerarzt hatte nicht viel Zeit, sich um den kranken Köhler zu kümmern. Er mußte nach Weimar ins Theater. Oder war es Absicht? »Fesseln! Der Mann hat einen Selbstmordversuch unternommen.«
Am kommenden Morgen stellte ein anderer Arzt fest, daß Köhler mit dem Leben rang. Schweiß, Erbrechen, zyanotische Hautverfärbungen, halb bewußtlos. »Der Mann muß sofort ins Lazarett.« Im Weimarer Militärlazarett verschied er trotz aller erdenklichen ärztlichen Kunst.
Der ehrgeizige Dr. Morgen hatte den Fall seines kriminalistischen Lebens. Die Kette seiner Ueberlegungen schloß sich schnell: Wer war der Verstorbene? - Ein Haupt-Belastungszeuge gegen Koch. Wer war der selbsterschossene Stroink? - Ein Belastungszeuge gegen Koch. Also: Mord!
Wer konnte mit Giften umgehen, gleichzeitig ungehindert im Arrestbunker einund ausgehen? - Der Hauptsturmführer Dr. Hoven. Und wer war Hoven? - Der Geliebte der rothaarigen Kommandeuse. Wer also war daran interessiert, Koch zu gefallen? - Wiederum Dr. Hoven. Er allein konnte also nur der Mörder sein.
Wie ein roter Faden schleppte sich das Wort »Mord« durch die Fernschreiben, die den Buchenwalder Sender verließen. Und sie blieben bei den Empfängern nicht ohne nachhaltigen Eindruck: So stark waren also Kochs Einfluß und Stellung selbst nach seiner Inhaftierung noch, daß seine Individuen die laufenden SS- und Polizeigerichtsermittlungen durch Mord zu stören wagten.
Kriminalsekretär Emil Holtschmidt ließ die Lubliner Stroink-Untersuchungen liegen. Dr. Morgen hatte ihn nach Buchenwald zurückbeordert. Am Fall Köhler mußte der Fall Koch jetzt aufgezäumt werden. Der Mord an einen SS-Unterführer sollte der Aufhänger werden, um auch die Häftlingstötungen zum Gegenstand der Ermittlungen zu machen.
Die fast noch warme Leiche Köhlers wurde von dem Jenaer Gerichtsmediziner Prof. Dr. Dr. Timm seziert. Die Obduktion erbrachte den Verdacht auf alkaloide Vergiftung. Die zyanotischen Verfärbungen fanden aber damit allein keine Erklärung. Die chemische Untersuchung der Organteile mußte abgewartet werden. Art des Giftes sowie Menge stand auch nicht annähernd fest.
Dr. Morgen handelte. Dramatisch gestaltete sich die Festnahme Dr. Hovens, von dem die Fama meldete, er trage einen Ring mit eingeschlossenem mexikanischem Gift immer bei sich. Zwei Kriminalbeamte versteckten sich in Hovens Zimmer und überraschten den Mordverdächtigen, als er eintrat. Der SS-Richter leitete sie selbst.
Arthur Nebe in Berlin atmete auf. Wenn die SS-Brüder sich gegenseitig umbrachten, konnte es ein Anecken schlechterdings nicht geben. Und die Verantwortung trugen die SS-Behörden längst selbst, nachdem sie Dr. Morgen offiziell als Staatsanwalt eingesetzt hatten.
Dr. Morgens Besuche brachten stets tausend Neuigkeiten ins RKPA. Die Dinge um den Fall Koch trieben ins Uferlose. Der Festnahme des Dr. Hoven war die des früheren Bunkeraufsehers Sommer gefolgt.
Die Häftlingstötungen im Arrest sollten den Beweis erbringen, daß Sommer, Dr. Hoven und Koch, selbst handelnd oder durch Befehle, gemordet hatten. Verdacht folgte auf Verdacht. Sommer gestand dem unermüdlich ermittelnden Holtschmidt 40 Tötungen allein im Arrest. Mit Evipan- und Lufteinspritzungen. »Die Spritze?« - »Aus dem Revier.« - »Anordnung?« - »Dr. Hoven.«
Auch das reichte nicht gegen Koch. Hoven & Co. Auch der Erhängungstod des Häftlings Schiltmayer im Arrest führte da nicht weiter, obwohl man ein Lichtbild des Toten mit Würgemalen hatte und obwohl der Nachweis erbracht war, daß ein Toter aufgehängt worden war. Sommer: »Ich hatte immer einen Befehl des Kommandanten.« Und Koch: »Ich habe nur Vollstreckungsbefehle von Berlin durchführen lassen.«
Dr. Morgen und die Kriminialbeamten ersoffen in Mordvorgängen, konnten aber aus der ungeheuerlichen Vielzahl keine Fälle ermitteln, in denen Mordvorsatz bei Koch oder Sommer oder Dr. Hoven hätte nachgewiesen werden können.
Die Verdachtsgründe waren in vielen Fällen allerdings erdrückend. Man scheiterte aber einfach an der Vielzahl der befohlenen Tötungen und der tödlichen Versuche. Kein Mensch kannte sich mehr aus, da auch Kapo Wegerer vom pathologischen Institut, der jeden verstorbenen Häftling obduzieren mußte, mit seinen Aerzten und Helfern jeden erkannten Mord aus Angst, selbst daranzukommen, verschleierte.
Mit der Vergiftung des Hauptscharführers Köhler kam Dr. Morgen so und so nicht weiter. Nebes Anerbieten, einen Mordspezialisten zu entsenden, lehnte er ab. Er wollte den Fall allein klären. Anfang Dezember aber kannte er das Gift noch nicht, mit dem Köhler im September zu Tode gekommen war.
Der objektive Tatbestand das A und O jeder kriminalistischen Arbeit, bot sich ihm ein Vierteljahr nach der Tat noch verschleiert wie am ersten Tage. Da kam er auf die Idee, von den Giften aus zu schließen, die »seinem Mörder« Dr. Hoven am leichtesten zugänglich sein konnten. Als Anhaltspunkt hatte man die bei der Leiche Köhlers festgestellten zyanotischen Hautverfärbungen. Er spielte mit dem Gedanken, zum Tode Verurteilten die in Frage kommenden Gifte injizieren zu lassen.
Nebe war entsetzt und schlug Dr. Morgen Mitte Dezember 1943 erneut die Entsendung eines Spezialisten vor. Stapo-Müller stellte Dr. Morgen jedoch vier Häftlinge, deren Todesurteil zu erwarten stand, zur Verfügung. Dann sprach Müller mit seinem Duzbruder Nebe.
Am 23. Dezember 1943 sprach Lobbes mit Dr. Wehner. »Sie müssen nach Buchenwald, mysteriöser Mord an einem SS-Unterführer. Innerhalb des Dr. Morgenschen Korruptionskomplexes.« Wehner: »Etwa der Giftfall der vor einigen Monaten bei Karl Schulz erörtert worden ist?« - »Derselbe.« - »Und nachdem bisher Monate vergangen sind, ohne daß ein Ergebnis erzielt worden ist, soll ich am Tage vor Weihnachten in die Sache einsteigen?« Von den geplanten Versuchen war nicht die Rede. Wehner fuhr kurz nach Weihnachten. Seinen Chef Nebe sah er vorher nicht mehr.
Dafür erwartete den Berliner Kriminalisten die Ueberraschung gleich nach seiner Ankunft in Buchenwald. Fleckfieberspezialist Dr. Ding, nachmaliger Dr. Schuler, sprach ihn gleich auf die befohlenen Versuche an. Darauf Wehner: »Ab heute bearbeite ich den Fall Köhler. Und bis jetzt kenne ich den Fall nur vom Hörensagen. Schätzungsweise brauche ich acht bis zehn Tage allein, um mich durch die Akten zu wälzen.« Dr. Morgen dagegen: »Der Versuch ist von Gruppenführer Müller angeordnet. Er soll übermorgen durchgeführt werden«
Morgen und Wehner kamen nie zum Einverständnis. Wehner: »Ich denke, ich soll jetzt den Fall übernehmen?« Morgen: »Sollen Sie auch, aber möglicherweise findet die Sache sehr schnell ihre Aufklärung.«
Wehner bat Lobbes an den Fernschreiber und teilte ihm die beabsichtigten Versuche mit. Lobbes sprach mit Nebe und schrieb zurück: »Für Sie sind die Versuche nicht bindend, das ist nicht RKPA-Sache.«
Aber Müller hatte sie befohlen. Wehner sprach mit Dr. Ding-Schuler. »Wenn Sie die Ergebnisse der Versuche nicht brauchen, weshalb soll ich als Arzt dann den Henker spielen?« fragte Dr. Ding. Wehner: »Das müssen Sie wissen. Meine Arbeit ist zunächst den objektiven Tatbestand festzustellen. Noch liegen die Kleider des Toten mit Resten von Erbrochenem in der Asservatenkammer des Arrestes, noch liegt kein Gutachten über die durch Sublimation gewonnenen Stoffe aus den Köhlerschen Leichenteilen vor.«
Dr. Ding führte die Versuche nach einer erneuten Rücksprache mit Wehner dennoch durch. Er, und nicht Morgen und Wehner, wie Kogon schreibt, und mittels Injektionen, nicht in einer Nudelsuppe, wie Kogon weiß.*) Und die Versuche verliefen negativ, weil die Versuchspersonen nicht einmal erkrankten, geschweige denn starben. Und das, obwohl starke Alkaloide gespritzt werden sollten! Niemand hat gesehen, was Ding-Schuler wirklich gespritzt hat.
»Die gewonnenen Stoffe sind so minimal daß sie bei der Mikrosublimation ver lorengehen dürften«, war die Auskunft des Jenenser Universitätschemikers. Wehner konnte also mit den aus der Leiche Köhlers ermittelten Stoffen nichts anfangen. Die Hauptmenge des Erbrochenen aus der Zelle aber war nicht mehr vorhanden, weil sie nach der Einlieferung Köhlers in das Weimarer Sophienhaus nicht sichergestellt worden war.
Der Tod Stroinks in Lublin und die Vergiftung der Ehefrau Hackmann halfen Wehner ebenfalls nicht. Nichts war erwiesen,
*) Kogon war, laut »SS-Staat«, »erster Arztschreiber in Block 50, im Hygiene-Institut, Abteilung für Impfstoffe, bei SS-Sturmbannführer Dr. Ding-Schuler« Ding-Schuler führte Fleckfieberversuche mit oft tödlichem Ausgang an lebenden Häftlingen durch. kein Anhalt für eine Vergiftung gegeben.
Wehner rekonstruierte. Von der Front holte er die Arrestbediensteten zurück, die im September die Erkrankung Köhlers erlebt hatten. Konstruierte jede nur denkbare Möglichkeit, wie Köhler zu einer Vergiftung gekommen sein mochte. Als einzigen Anhaltspunkt hatte er dabei lediglich die einigermaßen sichere Annahme, daß Köhlers Körper das Gift kaum früher als am Tage der Erkrankung aufgenommen haben konnte.
Das Arrestessen kam als vergiftet nicht in Frage. Dazu hätten drei Personen informiert sein müssen. Der Essensausgeber am fraglichen Tage war zudem ein harmloser Mann. Gift von außen? - Dann mußte es der Täter auf den Hunger des Häftlings abgesehen haben. Hunger? »Der hatte keinen Hunger. Der hat sich so viel Essen, auch Schokolade, aus Lublin mitgebracht, daß er nichts nötig hatte.«
Wehner forschte nach diesen Lebens- und Genußmitteln, die Köhler vom Arrestpersonal nach und nach aus der Asservatenkammer erhalten hat. Dann schied aber Nahrungsmittelvergiftung aus. Dieser Ansicht war auch Prof. Timm. Viel geraucht? - Nikotin ist ein Alkaloid.
»Der Köhler und geraucht? - Wie ein Schlot gequalmt hat er. Trotz offenen Zellenfensters konnte man ihn durch den Spion oft nicht sehen. Auch seine Kippen hat er aufgequalmt. So. daß er Kopfschmerzen hatte und nicht schlafen konnte.« - »Woher wissen Sie denn das?« - »Na, er ließ sich doch etwas gegen Kopfschmerzen geben.« - »Von Dr. Hoven?« - »Nee, aus der Arrestapotheke.«
Das war ein Pappkarton mit angesammelten Arzneien. »Was haben Sie ihm gegeben?« - »Pillen.« - »Was für Pillen?« - »Gegen Kopfschmerzen stand drauf. Eine Heerespackung mit roter Aufschrift.«
Wehner stellte die »Apotheke« sicher. Der Zeuge gab die Art der Packung an, aus der er im September Tabletten entnommen haben wollte. Wehner ging aber sicher, indem er jedes einzelne Medikament bei Heeß untersuchen und daneben von der Sanitätsinspektion der Waffen-SS begutachten ließ. Er blieb dreimal auf Barbitursäure hängen. »Das wird die Lösung des Falles sein«, sagte Prof. Timm. »Nikotin und Barbitursäure. Das letztere als Ursache für die Hautverfärbungen.«
Bei diesem Ergebnis endete der Fall Köhler. Unglücksfall wahrscheinlich, für Mord keinerlei Beweise. Dr. Morgen war nicht einverstanden, aber das Ergebnis ließ sich nun nicht mehr umbiegen. »Wir brauchen einen Fall, der für Koch das Todesurteil bedeutet. Sonst kommt der Kerl mit ein paar Jahren Zuchthaus davon. Ermitteln Sie einen solchen Fall.«
»Was denken Sie selbst?« fragte Nebe seinen Beamten. Wehner: »Koch ist zweifellos ein Massenmörder. Es müßte möglich sein den einen oder anderen von Dr. Morgen bereits aufgeworfenen Fall nachzuweisen. Die Tötungen werden ja nicht bestritten Es gilt lediglich zu beweisen, daß sie weder befohlen noch auf der Flucht erfolgt sind.«
So wurde Dr. Wehner auf die Spur des Buchenwalder KL-Kommandanten Koch gelassen, um zusätzlich zu dem erdrückenden Morgenschen Beweismaterial dem Massenmörder einen Mord nachzuweisen. Wehner wählte den Umweg über Dr. Hoven. Sommer war zu primitiv, als daß man ihm in logischer Unterhaltung hätte beikommen können.
Koch selbst war nicht viel besser. Wehner ertappte ihn beim Kassiberlesen im Stapogefängnis, die Kassiber bestanden aus in Büchern unterstrichenen Buchstaben oder waren in Schlipse eingenäht. Auch Ilse Koch schien wenig geeignet. Sie soll sich im Polizeigefängnis mit Leuten des Schlages Sommer eingelassen haben, aber das hat niemand gesehen. Immerhin brachte sie es später auch in ihrer amerikanischen Haftzeit zu einem Kind*).
Wehner poussierte also den Dr. Hoven. Mit dem Festgenommenen ging er ins Kino, »um ihn auf andere Gedanken zu bringen«. Während Hoven allmählich abgelenkt wurde und das Spiel auf der Leinwand zu erleben begann, erfuhr Wehner in kurzen Antworten auf kurze Fragen mehr als in tagelangen Verhören.
Zu den Verhören hatte Wehner einen Psychiater zugezogen. »Höchstens durchschnittliche Intelligenz an der untersten Grenze, zu logischem Denkvermögen kaum in der Lage. Wahrscheinlich nur vermindert
*) Ueber die dankbare Rolle, die Ilse Koch für die republikanische Propaganda im Kampf gegen die Demokraten Clay, Royall, Marshall und Truman gespielt hat, berichtete der SPIEGEL in der Titel-Geschichte »Lady mit Lampenschirm«. (7/1950). zurechnungsfähig. Und so etwas ist bei der Waffen-SS Arzt!«
Dr. Hoven merkte kaum noch, wie er sich selbst belastete. »Nur nicht mehr von Dr. Morgen vernommen werden«, war seine inständig-ängstliche Bitte. Wenn ihm das Gericht den § 51 nicht zubilligt, ist er geliefert, dachte Wehner.
Aber Hoven sagte noch mehr aus. Ueber Sommer packte er aus und ebenso über Koch. »Den Krämer hat Koch bestimmt auf dem Gewissen. Das war ein anständiger Kerl.« Der Dreher Krämer hatt dem Doktor Hoven die Dissertation organisiert. »Und Blank?« - »Na, der tat, was Koch wollte.« - »Sie glauben nicht daran, daß Krämer auf der Flucht erschossen worden ist?« - »Bestimmt nicht.«
Wehner ließ Blanck festnehmen, Blanck, den KL-SS-Hauptscharführer. Der verschanzte sich: »Auf Befehl von Koch.« - »Und wie kam Koch zu dem Befehl?« - »Weiß ich nicht. Sicher von Berlin aus.«
Blanck schob auch die Fluchterschießung der Häftlinge Krämer und Peix auf einen Befehl von Koch. Ganz nebenbei war die Frage gekommen. »Da war doch Koch schon in Lublin? - Und was haben Sie seinerzeit ausgesagt, als das Kasseler SS-Gericht nach diesen Erschießungen gefragt hat?«
Blanck war übertölpelt und gestand. Er hatte von Koch den Befehl, Krämer (und damit das nicht auffiel, zugleich auch den Häftling Peix), ins Lager Dora zu überführen und unterwegs »auf der Flucht zu erschießen.«
»Das haben Sie dann auch getan?«
»Nein, das ging nicht. Ich hätte mich dann mit den Leichen abgeben müssen.«
»Also haben Sie Krämer und Peix nicht erschossen? - Sie sind aber doch erschossen worden!«
»Ich habe sie erst ins Lager gebracht und dann den Posten befohlen, sie sollen Krämer und Peix über die Postenkette jagen und dann erschießen.«
»Und als der Erbprinz den beiden Erschießungen nachforschte?«
»Da habe ich den Wachen eingeschärft, was sie aussagen sollten.«
»Und warum hat Koch Ihnen die Erschießung befohlen?«
»Wahrscheinlich hatte er doch selbst den Befehl bekommen.«
Blanck wußte, daß ihm das niemand mehr glauben würde und erhängte sich im Buchenwalder Arrest. Da ließ sich Wehner Häftlinge, die dem Häftling Krämer nahegestanden hatten, ins Polizeipräsidium nach Weimar kommen. So erfuhr er, daß Krämer dem Koch eine Syphilis kuriert hatte, die sich der Kommandant aus Norwegen importiert hatte**).
Hier lag auch das Motiv für den Mord. Denn Koch hatte seine Erkrankung sehr geheim zu halten verstanden. Gegenüber Krämer glaubte er sich ausreichend geschützt, solange er Kommandant in Buchenwald war. Aber wer garantierte ihm das Stillschweigen des Häftlings, nachdem er Buchenwald mit Lublin tauschen mußte? So mußten Krämer und Peix sterben.
Das war der Einbruch in die Konzentrationslager, an dem Nebes Kripo Anteil hatte. Der Höhepunkt, die Verurteilung des Koch zum Tode, ist Nebe selbst nicht mehr bekanntgeworden.
**) Auch hier irrt Kogon: Erbprinz Josias hat unmittelbar nach der Erschießung Krämers, die ihm notwendigerweise durch sein SS- u. Polizeigericht bekanntgeworden war, Nachforschungen nach den eigentlichen Gründen angestellt. Der Tod dieses Häftlings, der auch ihn einmal kuriert hatte und den er schätzte, hatte ihn beeindruckt. An eine Flucht Krämers wollte er nicht glauben. Aber trotz der angeordneten SS - gerichtlichen Untersuchung klärte er den Fall nicht. Von Kochs Syphilis erfuhr Josias erst im Laufe der Wehnerschen Ermittlungen. (Fortsetzung folgt.)
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