»Das Stahlnetz stülpt sich über uns«
Bonns liberaler Innenminister Gerhart Rudolf Baum, Herr über Zehntausende von Geheimdienstlern und Polizisten, fühlt sich zwei Zielen verpflichtet: Als Hauptverantwortlicher für die innere Sicherheit der Republik will er »Polizei und Nachrichtendienste erfolgreich arbeiten« sehen, als oberster Verfassungshüter und Datenschützer des Landes möchte er zugleich »möglichst wenig bürgerliche Freiheiten preisgeben«.
Ein frommer Wunsch? Was, wenn behördliche Effizienz sich allein durch mehr Computertechnik steigern ließe? Und wenn individuelle Freiheiten durch nichts so sehr bedroht wären wie just durch die elektronische Erfassung von immer mehr Bürgern?
Die jüngste Krise um Westdeutschlands Kripo-Präsidenten Herold, soviel scheint sicher, ist mehr als nur ein Spektakel um die Person eines Spitzenbeamten: Vielmehr markiert der Streit zwischen dem Polizeiministier und dem Polizeimanager einen Zielkonflikt von politischem Rang.
Auseinandersetzungen über Datenschutz, kommentierte die »Frankfurter Rundschau«, seien mittlerweile so gewichtig geworden wie die Problemthemen »Umweltschutz und Atomenergie«. Zumindest scheinen die Datensammlungen von Polizei und Nachrichtendiensten in großen Teilen der jungen Generation ebensoviel Mißtrauen zu mobilisieren wie die Reaktoren, zu denen sie »Nein, danke« sagen.
Die Furcht vor Spitzeln, Wanzen und Geheimcomputern habe sich bereits, resümiert die Hamburger FDP-Chefin Helga Schuchardt, »auf das geistige Klima in unserem Land in verheerender Weise ausgewirkt«. Die Bundesregierung müsse, meint auch Minister Baum, »der Furcht vieler Bürger Rechnung tragen, in einer Computergesellschaft vereinnahmt zu werden«.
»Von den 900 000 Studenten«, schätzt Berlins Hochschulsenator Peter Glotz, »hat die Hälfte wirklich Angst« -sie vor allem fühlen sich getroffen von dem 1972 er Radikalenbeschluß, nach dem bislang 1,5 Millionen Westdeutsche mit Computerhilfe überprüft worden sind.
Einschüchterung bewirken EDV-Systeme, von denen jahrelang kaum mehr als der Name -- »Nadis« und »Inpol«, »Pios« oder »Polas« -- bekannt war. Allein das Bundeskriminalamt, die Länderpolizeien nicht inbegriffen, hat, wie Baum nun bekanntgab, in seinen Computern Angaben über drei Millionen Bürger angesammelt. Wie viele Westdeutsche darüber hinaus von den Nachrichtendiensten elektronisch erfaßt werden, ist nach wie vor Geheimsache.
Um seinen Eindruck belegen zu können, daß entgegen gängiger Ansicht »keineswegs ein großer Teil der Bevölkerung von den Sicherheitsorganen in irgendeiner Weise überwacht wird«, ersuchte zwar Bonns Datenschutzbeauftragter Professor Hans Peter Bull die Geheimdienste um Veröffentlichung der Zahl ihrer Bürger-Dossiers. Doch der Wunsch des Professors (dem nur begrenzte Kontrollrechte zustehen) blieb unerfüllt. »Unsicherheit, Angst und Mißtrauen«, bedauert Bull, »sind die Folge.«
Schon ist das Ausmaß der Furcht vor den hunderttausend Augen des »Mr. Computer« (Herolds Spitzname) und seiner Kollegen zum Gegenstand wissenschaftlicher Recherchen geworden: »Ich kontrolliere, was ich in den Papierkorb werfe«; »ich wage es nicht, an einer Demonstration teilzunehmen«; »ich vermeide es, in linken Buchläden zu kaufen« -- diese Bekenntnisse veröffentlichte die »Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie«, mit 6500 Mitgliedern größter psychotherapeutischer Fachverband der Bundesrepublik, in einer 85-Seiten-Dokumentation über die seelische Lage der Nation.
Bereits geringste politische Aktivität, »beispielsweise der Besuch einer Veranstaltung«, berichten die Therapeuten, lasse bei jungen Westdeutschen »Zweifel darüber aufkommen, ob man damit seine berufliche Zukunft gefährdet«. Viele zögen sieh daher in »ihr privates Schneckenhaus zurück«.
Schon auf westdeutschen Schulhöfen kursiert kokett kostümierte Hysterie: »Lieber Gott, mach mich krumm, daß ich in den Staatsdienst kumm« -- das mittlerweile geflügelte Pennälerwort kennzeichnet die Mentalität ebenso wie ein larmoyant-sarkastisches Gedicht im »Roten Kalender 1979":
Spiel doch mal durchs Telephon Vivaldi, Bach und Mendelssohn. Dann können die Wanzen ein bißchen tanzen.
Hochschüler, beobachtete der Sozialdemokrat Glotz, redeten sich »in ihren Versammlungen nicht mehr mit dem Nachnamen an«. Bei Unterschriftensammlungen zeigten viele »ängstliche Abwehr«; andere weigerten sich, in Examensarbeiten »Marx, Engels, Bloch, egal wen, zu zitieren
Frei von Angst vor einer vermeintlich »perfekten Überwachungsmaschinerie« scheinen nicht einmal mehr SPD-Parteitagsdelegierte: Manch einer, meldete das parteiinterne »Sozialdemokrat Magazin«, weigere sich sogar, seinen Namen in Spendenlisten für die spanische Bruderpartei einzutragen; die Genossen fürchteten allen Ernstes berufliche Nachteile, falls derlei Daten in Staatsschutz-Computer eingespeist würden.
Kein Wunder, daß in dieser Atmosphäre plötzlich »1984«, George Orwells bedrückendes Opus vom allgegenwärtigen Großen Bruder, wieder auf den Bestseller-Listen erschien. Ist »1984«, wie die Hamburger »Zeit« unkte, womöglich »ein halbes Jahrzehnt vor dem Stichtag Realität geworden«?
Datenschutzexperten meinen, daß ein Großteil solcher Befürchtungen übertrieben sei; Professor Bull bedauert, daß Kritiker vielfach technisch Mögliches als schon vorhanden hinstellen. Tatsächlich wähnen sich vor allem junge Bundesdeutsche von ungleich mehr Computern erfaßt, von ungleich mehr Dunkelmännern abgehört, von ungleich mehr Schnüfflern umstellt, als alle Geheimdienste Europas umfassen.
Nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik haben, andererseits, so viele Fälle scheinlegaler, halblegaler oder illegaler staatlicher Datensammlung die Bevölkerung so sehr bewegt wie in den letzten anderthalb Jahren. Kaum war der verfassungswidrige »Lauschangriff« auf den Atommanager Klaus Traube aufgeklärt, da begann eine Kette von Datenschutzaffären:
* Im Februar 1978 demissionierte Verteidigungsminister Georg Leber nach Wanzenmanövern seines Militärischen Abschirmdienstes (SPIEGEL 6/1978).
* Im Mai mußte der Bundesdatenschutzbeauftragte Bull der Klage von Bibliothekaren nachgehen, die Geheimen überwachten das Leseverhalten von Büchereibenutzern (SPIEGEL 21/1978).
Im Juni stürzte Innenminister Werner Maihofer nach Enthüllungen über verfassungswidrige Lesestoff-Kontrollen seiner Grenzschützer (SPIEGEL 21/1978).
Im Juli kursierten Meldungen über Verfassungsschutz-Aktivitäten an bayrischen Schulen (SPIEGEL 31/1978).
Im November wurde publik, daß der Bundesnachrichtendienst (BND) routinemäßig Telephonate mithört und säckeweise Briefe mit östlichen Absendern oder Adressaten mitliest (SPIEGEL 47/1978).
Im Dezember bestätigte sich, daß Verfassungsschützer zumindest in Hamburg auch nach der Traube-Affäre noch Wanzen in Wohnungen plazierten (SPIEGEL 52/ 1978).
* Im Januar fand sich im Bundeskriminalamt eine illegal angelegte Kartei, in der 4000 Bundesbürger erfaßt waren, die in Wohngemeinschaften leben (SPIEGEL 7/1979).
* Im März erwies sich, daß Meldebeamte verdächtige Bundesbürger mit einem verschlüsselten Sperrvermerk im Personalausweis brandmarken (SPIEGEL 13/1979).
* Im April mußte die Regierung einräumen, daß Grenzschützer im Auftrage des BND Reisepässe bundesdeutscher Osttouristen photographieren (SPIEGEL 16/1979). Mit »äußerster Sensibilität« reagierte, anders als andere Kabinettsmitglieder, Verfassungsminister Baum auf die Enthüllungsserie, die nicht zuletzt sein
Mit mobiler Datenstation.
linksliberales Image bei der FDP-Basis wie bei Jungwählern zu gefährden drohte. Schon bald nach seinem Amtsantritt im Juni letzten Jahres begann er, »dieses Gestrüpp zu durchforsten«. Baum: »Es sind jahrzehntelang Praktiken entwickelt worden, die jetzt ein Ausmaß erreicht haben, das dringend überprüft werden muß.«
Einer sechsköpfigen Gruppe von Rechtswissenschaftlern gab der Minister den Auftrag, bis zum 1. Oktober dieses Jahres zu untersuchen, welche Behörden einander »Amtshilfe« durch Übermittlung »personenbezogener Daten« leisten -- und wieweit solche Praktiken verfassungskonform sind.
Denn die Bundesbürger, fürchtet Baum, würden jäh zu »gläsernen Menschen« mutieren, wenn in den gewaltigen Computern des Staates auch nur all jene versprengten Daten zusammengeführt werden, die von Amts wegen ohnehin schon heute irgendwo gespeichert sind: in Schul- und Gesundheitsregistern, Polizeidienststellen und Rentenanstalten, Finanzämtern und Bibliotheken.
Obendrein gab der Minister Order, ein heikles Paragraphenwerk zu überprüfen, dessen parlamentarische Durchsetzung seinen Vorgängern in drei Regierungen versagt geblieben war: Der Entwurf eines Bundesmeldegesetzes, den Maihofer ihm hinterlassen hatte, sah die Speicherung von 170 verschiedenen Angaben zur Person vor, bis hin zu psychiatrischen Daten.
Nachdem Baum auf diese Weise zunächst die Hoffnung von Sicherheitsbeamten zunichte gemacht hatte, bald über eine Art Bundeseinwohnerdatenbank verfügen zu können, half er im Januar, die Radikalenabwehr zu reformieren. Seither dürfen zum Beispiel Daten, die Jugendsünden betreffen, bei der Überprüfung von Bewerbern für den Bundesdienst nicht mehr berücksichtigt werden.
Schließlich verfügte Baum eine Bestandsaufnahme sämtlicher -- bislang großenteils geheim geführter -- Dateien und Karteien im Bereich der Bundespolizei. Als ihm in den letzten Wochen erste Zwischenberichte vorgelegt wurden, beeilte sich der Minister zu versprechen, er werde auch hier demnächst »Wildwuchs« beschneiden.
Im Bundeskriminalamt fanden sich diverse Datensammlungen über Bürger, die sich nie eines Gesetzesverstoßes schuldig gemacht haben, darunter eine Spezialkartei mit Angaben über Ost-Flüchtlinge, die in den fünfziger Jahren in die Bundesrepublik gekommen waren. Zu der Sammlung zählen -- skurrilstes Beispiel -- die Fingerabdrücke des einstigen DDR-Bürgers Hans-Dietrich Genscher, der als Innenminister jahrelang Herolds Vorgesetzter war.
Baums Prüfer aus der Ministerialabteilung »P« (Polizei) bemängeln an den BKA-Dateien, was zum Teil auch Datenschützer Bull bereits im Januar in seinem ersten Jahresbericht beanstandet hatte. So wurden polizeilich gespeicherte Daten über Bürger selbst dann nicht gelöscht, wenn eine Tat längst verjährt war oder wenn es sich erwiesenermaßen um Unschuldige handelte.
Ende letzten Monats freilich hat Baum, gemeinsam mit seinen Länderkollegen, neue Richtlinien vorgelegt, die solcher Sammelwut ein Ende machen sollen. Die neuen Bestimmungen, hofft der Minister, haben zur Folge, »daß mehrere hunderttausend Akten des Bundeskriminalamts und Millionen Akten im Bereich der gesamten Polizei vernichtet werden«.
Jahrelang, beweist auch der Prüfbericht der Abteilung »P«, waren systematisch Gruppen von Bundesbürgern auf teils »rechtlich problematische« Weise erfaßt worden -- darunter Vorbestrafte und »verdachtsnahe Personen«, Kernkraftgegner und Strichjungen, psychisch Kranke und bestohlene Autobesitzer; dazu Tausende von politischen Organisationen sowie Westdeutsche, die Häftlingen Besuche abgestattet hatten oder die Anfang der siebziger Jahre durch Denunziation in den nie bestätigten Verdacht geraten waren, Baader-Meinhof-Sympathisanten zu sein.
Was der Prüfbericht dem BKA anlastet, ist freilich großenteils nicht in Wiesbaden, sondern in Bonn beschlossen worden: Die umstrittenen Dateien, triumphierte Herold letzte Woche, seien ganz überwiegend »auf Weisung des Bundesinnenministers aufgebaut worden«, durchweg »nach Beschlüssen der Innenministerkonferenz«.
Tatsächlich war die Computerisierung des BKA jahrelang ein politisches Lieblingskind Bonner Politiker. Die Vorteile der elektronischen Datenverarbeitung gerade im Polizeibereich lagen schließlich auf der Hand: Bis zum Anbruch des EDV-Zeitalters war die Wiesbadener Zentrale eine »Briefkastenbehörde«, deren Beamte vollauf damit beschäftigt waren, die stetig anschwellende Nachrichtenflut in handbetriebene Karteien oder kilometerlange Aktenregale zu kanalisieren, wo die Informationen dann, durchweg unauswertbar, »erstickten« (BKA-Jargon).
»Die Tränen könnten einem in die Augen treten«, klagte der damalige Innenminister Genscher nach einer Visite in Wiesbaden. Der Suche nach dem Täter diente in jenen Jahren noch das unhandliche »Deutsche Fahndungsbuch«, das jeweils am Erscheinungstag überholt war: Aufgrund langwieriger Erfassungs-, Satz-, Druck- und Buchbinde-Arbeiten konnten aktuelle Fahndungsnotierungen erst nach Wochen in der nächstfälligen Ausgabe erscheinen -die Gesuchten hatten dann oft längst das Land verlassen.
BKA-Chef Herold ließ die Fahndungsnotierungen in Computern speichern, die mit Grenz-Dienststellen verbunden waren -- binnen kurzem vervielfachte sich dort die Zahl der Festnahmen.
Nach solchen spektakulären Anfangserfolgen fiel es Herold leicht, Bonns Sicherheitspolitiker zu veranlassen, die elektronische Aufrüstung der Polizei mit Multi-Millionen-Beträgen zu fördern. Die damals einsetzenden Terroristen-Taten beschleunigten den Aufbau -- zumal Herold versprach, per Computer sogar Anschläge vorhersagen und Fluchtwege selbst ins Ausland verfolgen zu können.
In diesem Klima gedieh vor allem »Inpol«. Das »Informationssystem der Polizei« entwickelte sich zu einem gigantischen Computerverbund' wie es ihn -- so bereits 1975 das Bonner Innenministerium -- ähnlich »auf der ganzen Welt nicht« gibt. Das »maschendichte Schleppnetz«, das »mit Lichtgeschwindigkeit« funktioniert, wird von einer bombenfesten Zentrale aus gesteuert, die »uneinnehmbar und anschlagsicher« in den Wiesbadener Geisberg betoniert worden ist.
Angeschlossen waren nach der Inbetriebnahme 1972 zwanzig Datenendstationen, letztes Jahr bereits über 1200. Geplant ist ein »Vollverbund« mit der zehnfachen Gerätezahl: An allen Grenzübergängen und allen Flugplätzen, in allen Seehäfen und allen Polizeiwachen sollen nach BKA-Plänen Computerterminals mit Tastatur und Bildschirm bald so »selbstverständlich wie heute das Telephon« sein.
Ohne daß den meisten Bundesbürgern die Konsequenzen bewußt geworden wären, hat der Inpol-Aufbau der westdeutschen Polizei schon jetzt, so Herold, »die tiefgreifendste Veränderung in ihrer Geschichte« beschert. Der BKA-Chef, der große Worte liebt, glaubt gar vollbracht zu haben, was jahrtausendelang nur Weltverbesserer für machbar hielten: den Entwurf einer Waffe, die den Ordnungskräften zu »technischer, informatorischer und intellektueller Überlegenheit« gegenüber dem Bösen verhilft.
Schöne neue Welt: Bei einer »Totalanwendung« von Inpol, glaubt Herold, werde es gelingen, »dem gefährlichsten Teil der Kriminalität, dem mobilen Verbrechen, einen geradezu tödlichen Schlag zu versetzen«. Daß ein System, das derlei vollbringen kann, ausschließlich »dem Schutz der Gesellschaft dient« -- für Herold war das stets ausgemacht.
Um so empfindlicher reagiert der Kripo-Chef seit langem auf Kritiker von links wie von rechts, von oben wie von unten, die sein Lebenswerk bemäkeln, noch bevor er vollends dessen »Perfektionsgüte perfektioniert« hat. Der Inpol-Initiator sieht sich mehr und mehr gefangen »in einem Kreis von Gegnerschaften":
In den Regierungsparteien wird SPD-Genosse Herold verdächtigt, ein »eifernder Informationsraffer« (so die sozialdemokratische »Hamburger Morgenpost") zu sein, der in seinem »Schnüffel-Wahn« gemeinsam mit Geheimdienst-Kollegen »einen perfekten Gesinnungs-TÜV« aufbauen wolle (so der sozialdemokratische »Vorwärts"). Rechte Oppositionspolitiker wie Franz Josef Strauß wiederum bemängeln, die Elektronik-Beflissenheit der Wiesbadener Informationstechniker vertreibe den »schöpferischen Geist« aus der Fahndungs- und Ermittlungsarbeit.
Herolds Vorgesetzter, Baum, distanzierte sich, ohne den BKA-Chef beim Namen zu nennen, von Denkmaschinen-Fanatikern -- Computer seien »sehr nützlich, mehr aber auch nicht«.
* In den Länderpolizeien wächst zusehends Kritik an der »Informationsüberflutung« aus Wiesbaden, durch die »Ermittlungskapazitäten letztlich blockiert werden« könnten (Fachblatt »Kriminalistik"). Am schärfsten formulierte der linksliberale Regensburger Rechtswissenschaftler Professor Wilhelm Steinmüller, langjähriger Datenschutzgutachter der Bundesregierung, seine Kritik am staatlichen EDV-Verbund: Bonns »einzigartiges Sicherheitssystem«, sorgte sich der Hochschullehrer im November letzten Jahres im SPIEGEL, lade zu Mißbrauch ein und sei ein »Sicherheitsrisiko« für die Demokratie.
Schmerzlich für den BKA-Chef: Eine Klage Herolds gegen Steinmüller, dessen Artikel er als »ehrenrührig« empfand, wurde im Februar vom Landgericht Wiesbaden zurückgewiesen, Mehr noch: Kürzlich weigerte sich Minister Baum, gegen die Wiesbadener Entscheidung in die Berufung zu gehen.
Immerhin war dem gekränkten Kripo-Chef in seinem Prozeß gegen Steinmüller ein wenig Genugtuung zuteil geworden: Vor Gericht hatte der Professor klargestellt, sein Vorwurf, »die Gesamtheit der Bundesbürger« werde von Staatscomputern kontrolliert, richte sich nicht speziell gegen das BKA und schon gar nicht gegen Herold persönlich.
Vielmehr -- so Steinmüllers nicht weniger düstere Version -- gehe »die Entwicklung der Verwaltungsautomatisation in eine Richtung, die eine polizeiliche Totalerfassung erübrigt": Mittlerweile sei die Bevölkerung »ausnahmslos« in staatlichen und privaten Datenbanken erfaßt -- und zu vielen Bürgerinformationen könnten sich Behörden des Geheimbereichs schon jetzt »direkten oder indirekten Zugang« verschaffen.
»Geheimbereich« -- dieser Juristen-Terminus kennzeichnet eine Fülle von Behörden, die nach dem Datenschutzgesetz über ihre Computerinhalte auch betroffenen Bürgern keinerlei Auskünfte zu geben brauchen: Neben den diversen Verfassungsschutzämtern, dem BND und dem Militär umfaßt die Dunkelzone alle Polizeidienststellen sowie Staatsanwaltschaften und Finanzfahnder, also einige der datenhungrigsten Institutionen der Bundesrepublik.
Und: Wenn etwa der Verfassungsschutz (der wiederum mit den anderen Diensten sowie dem BKA kommuniziert) auf dem Wege der Amtshilfe die Datenbestände irgendeiner Stelle außerhalb des Geheimbereichs anzapft, beispielsweise Meldebehörden oder die Sozialverwaltung, so weitet sich die gesetzliche Geheimhaltungsklausel auch auf diese Regionen aus. Wer erfahren will, welche Daten hinter seinem Rücken weitergegeben worden sind, stößt auch in solchen Fällen auf »Nachrichtensperre« (Steinmüller).
Ähnliche Gefahren wie von polizeilichen Datensammlungen könnten unter diesen Umständen, argumentiert der Rechtswissenschaftler, mithin auch von harmlos anmutenden Computern ausgehen. »Hätten wir«, so Steinmüller, »morgen einen faschistischen Schwenk, so wären heute alle wesentlichen rechtlichen und technischen Grundlagen angelegt, um das Ganze in relativ kurzer Zeit als ein einziges gigantisches, aber unsichtbares Kontrollnetz zu mißbrauchen.«
Doch auch in demokratischen Staaten können undurchschaubare Datensammlungen Verheerendes bewirken: Wenn Bürger, zu Recht oder zu Unrecht, fürchten, daß jede ihrer Handlungen irgendwo papierene Spuren hinterlassen könnte, müssen sich über kurz oder lang unkritisches Mitläufertum und politische Apathie breitmachen -- eine Überlegung, die den Liberalen Baum zu der Einsicht veranlaßte: »Im Prinzip muß der Bürger sich darauf einstellen können, was kontrolliert und mit welchem Schutzzweck beobachtet wird.«
Weil das indes keineswegs der Fall ist, nimmt nicht wunder, daß Politiker höhnisches Gelächter ernten, wenn sie wahrheitsgemäß beteuern, längst nicht alle Beamtenbewerber würden vom Verfassungsschutz observiert, sondern lediglich »Routineanfragen« nach bereits vorliegenden Erkenntnissen beantwortet. Informationen dieser Art, erfuhr Hochschulsenator Glotz in Dutzenden von Diskussionen, »beruhigen keinen« der Zweifelnden mehr: »Sie halten dir den Freund vor oder den Freund des Freundes, der gefragt wurde, warum er sein Auto dort geparkt hatte, wo grad die Kommunisten tagten.«
Bonns Politiker mögen da noch so oft versichern, unversehens publik gewordene Spitzel-Aktionen, Brief-Kontrollen und Geheim-Dateien seien »Einzelfälle« gewesen -- rapide wächst die Zahl jener, die eher glauben, die Spitze eines Eisbergs geortet zu haben. Da die Überzeugung, in einem perfekten Überwachungsstaat zu leben, weithin »irrational« (Glotz) eingefärbt ist, bedeutet das auch, »daß unsereiner sinnlos an Wände hinredet«, daß Differenzierendes kaum noch Gehör findet.
Solche Reaktionen scheinen nur vermeidbar, wenn Behörden, wie der hessische Datenschutzbeauftragte Professor Spiros Simitis fordert, Datenschutz auch als »ein Stück Offenlegung der Datenverarbeitung« verstehen. Notwendig sei selbstverständlich nicht die Veröffentlichung des Inhalts sämtlicher Polizei- und Geheimdienstakten, wohl aber, so sieht es auch Baum, die »Abwehr aller Versuche, den Informationsprozeß zu verheimlichen«.
Mit anderen Worten: Der Bürger müsse erfahren können, welcherart Angaben wo gespeichert werden, wer Zugang dazu hat, wann sie gesperrt oder gelöscht werden -- Thema dieser SPIEGEL-Serie.
Die Forderung nach »Transparenz« möchte Baum »auch grundsätzlich für den Sicherheitsbereich« gelten lassen: »Datenschutz«, postuliert der Minister, »verträgt sich nicht mit generellen Ausnahmen zugunsten eines abstrakten Hinweises auf einen abstrakt umschriebenen Sicherheitsbereich.«
Um solche Auffassungen durchsetzen zu können, schwebt westdeutschen Datenschutzexperten unter anderem ein Gegenstück zum amerikanischen »Freedom of Information Act« vor. Dieses Gesetz ermöglichte in den letzten Jahren nicht nur die Aufdeckung von Korruptionsfällen und Verfassungsverstößen, sondern parlamentarische Untersuchungen und journalistische Enthüllungen selbst über CIA-Mordkomplotte oder Drogenexperimente, die Geheimdienstler an unwissenden menschlichen Versuchskaninchen vornahmen.
Die Ansicht, daß ein gewisses Maß an Offenheit auch im Sicherheitsbereich der Demokratie zuträglich wäre, scheinen Karlsruhes Verfassungsrichter zu teilen, die vor vier Jahren über geheimdienstliebe Gesinnungsüberprüfungen befunden haben: »Sie vergiften ... die politische Atmosphäre, irritieren nicht nur die Betroffenen in ihrem Vertrauen in die Demokratie, diskreditieren den freiheitlichen Staat«; obendrein bilde die Erhebung derartiger Daten »insofern eine Gefahr, als ihre Speicherung allzuleicht mißbraucht werden kann
An frühen Warnungen vor derlei Tendenzen hat es, nicht gemangelt. Schon vor acht Jahren mahnte der hessische Ex-Staatssekretär Willi Birkelbach, erster Datenschutzbeauftragter der Welt, das bloße Vorhandensein geheimer Computersysteme könne eine Demokratie deformieren. »Das Stahlnetz stülpt sich über uns«, prophezeite er für diesen Fall: »Den Anfang würde die Lähmung der Basisaktivitäten im politischen Raum machen, ausgelöst von der Furcht des Bürgers, unkontrollierbaren Mächten ausgeliefert zu sein.
Wenn nicht der Geheimschleier von den Strukturen der staatlichen Datenverarbeitung gezerrt werde, könnten, so Birkelbach damals, die Computer der Sicherheitsbehörden -- was auch immer sie speichern -- menschliches Handeln ebenso beeinflussen wie die unablässig kreisende Kamera im Supermarkt, von der niemand weiß, ob sie blind ist oder nicht:
Sie wirkt, so oder so, verhaltensändernd.
Im nächsten Heft
Das polizeiliche Informationssystem -- Gangsterjagd nach der Raster-Methode -- Sexualverhalten im Register -- Pannen bei der Computersicherung der Kripo