»DAS THEMA KAM NICHT AUF«
Zwei von den sechs Geschworenen wollten zur Heiligen Messe gehen, einer den protestantischen Gottesdienst besuchen. Der Mormone George Latimer, 70, erhob Einspruch. Er wisse nicht, ob sich die Geistlichen auf das Alte oder das Neue Testament beziehen würden, sagte der Verteidiger Oberleutnant Calleys, doch im einen wie Im anderen gebe es gewisse Sätze, derentwegen er sich jedem Kirchgang widersetzen müsse.« Ich will wahrhaftig nicht der Advokat des Teufels sein«, beteuerte Latimer, doch die Gefahr einer Beeinflussung von drei Jury-Mitgliedern sei einfach zu groß.
Oberst Reid W. Kennedy, 49, der Richter, gab dem Einspruch statt und fand anschließend einen Ausweg. Am Sonntagmorgen erschien Oberst Ledebuhr, der höchste Militärgeistliche der Infanterieschule Fort Benning, im abgesperrten Quartier der Jury und hielt einen allgemeinen Gebetsgottesdienst ab, während ein Protokollführer jedes seiner Worte für die Akten aufzeichnete. »Were you there when they crucified my Lord«, stimmte Oberst Ledebuhr an, und die Militärpolizisten, von denen die Jury bewacht wird, sangen genauso wie der Protokollführer und jene drei Geschworenen mit, die keinen Kirchgang beantragt hatten.
Dieser in der Nacht zum Samstag vergangener Woche abgeschlossene Bericht kann während des Wochenendes vom Spruch der Jury im Calley-Prozeß überholt werden; denn die Geschworenen wollen auch am Samstag und gegebenenfalls Sonntag weiterberaten, den dann lediglich ein Gottesdienst, wie der geschilderte verkürzen würde. Durch nichts jedoch kann noch die Tatsache überholt werden, daß dieses Militärgerichtsverfahren gegen Oberleutnant William L. Calley, 27, irgendeiner Gerechtigkeit nicht dienen konnte. Die Höchststrafe, der Strang, wird ein Verbrechen genauso mit einem Verbrechen beantworten wie ein Freispruch und alles, was zwischen diesen extremen Entscheidungen liegt.
Diese Jury bedroht kein Kirchgang, nichts, was von außen an sie herankommen könnte oder bereits vorher in der Hauptverhandlung an sie herangekommen ist: Diese Jury und jeder Spruch, zu dem sie gelangt, sind vielmehr durch das ruiniert -- was diese Jury zwar weiß, aber, da es nicht zur Verhandlung anstand, nicht berücksichtigen darf und kann.
Am 16. März 1968 wurden in Vietnam von einem Infanterie-Zug unter Befehl des damaligen Leutnants Calley, 24, mindestens 400 alte Männer, Frauen und Kinder ermordet. Schauplatz des Massakers war der Flecken My Lal 4, doch dieses My Lai 4 war nicht das Ziel, gegen das sich die »Muscatine« genannte Unternehmung der von Hauptmann Medina befehligten Charlie Company eigentlich richten sollte. Das Massaker von My Lai 4 beginnt mit einem Irrtum Im Nachrichtendienst der U. 5. Army, setzt sich über den Divisions- und Bataillonsstab und den Stab der Kampfgruppe Barker fort bis hinunter in die Charie Company, die der Kampfgruppe Barker zugeteilt ist.
Auf amerikanischen Karten waren die vietnamesischen Ortsbezeichnungen zum Teil durch eigene Bezeichnungen ersetzt worden, teilweise gingen vietnamesische und amerikanische Ortsbezeichnungen durcheinander.
Informationen und Berichte ließen den amerikanischen Nachrichtendienst erkennen, daß sich eine Elite-Einheit des Vietcong im Kampfgebiet der Gruppe Barker festgesetzt hatte. Doch während die Informanten und Berichterstatter My Lai 1, drei Meilen östlich von My Lai 4, direkt an der Küste gelegen, als Stützpunkt des 48. Vietcong-Bataillons nannten -- meinten die Amerikaner, die My Lai 1 als »Pinkville« (seiner roten Einzeichnung auf der Karte wegen) kannten, es sei der Flecken My Lal 4 gemeint.
Der Irrtum wird hier verkürzt geschildert, doch Ist er inzwischen belegt. Im Calley-Prozeß wurde dieser Irrtum nicht behandelt. Er hatte, da es allein um Calleys Schuld oder Unschuld gehen sollte, keine Rolle zu spielen.
Am 16. März 1968 jedoch hat dieser Irrtum das Massaker eingeleitet, und zu jenen, die ihn noch rechtzeitig hätten korrigieren können, zählt Calley nicht.
Am Abend des. 15. März 1968 unterrichtete Hauptmann Medina seine Charlie Company Im Artillerie-Stützpunkt Dotti, von dem aus die Kampfgruppe Barker ihre Aktionen startete, über das Unternehmen »Muscatine«. Medina informierte über den ihm erteilten Befehl, das 48. Vietcong-Bataillon und alle Hütten Häuser und Unterstände zu vernichten und auch das Vieh zu töten, das man vorfinden würde. Medina hatte von Oberst Barker, dem Chef der Kampfgruppe, noch einmal die letzten Meldungen des Nachrichtendienstes erhalten. Zur Zeit des Angriffs um sieben Uhr am Morgen des 16. März 1968 würden keine Frauen und Kinder Im vom Vietcong besetzten Dorf anzutreffen sein, da sie sich zu dieser Zeit bereits auf dem Weg zum Markt in der Nachbarschaft befänden.
Hauptmann Medina war von einigen Männern der Charlie Company dahin verstanden worden, wie sich im Calley-Prozeß ergab, daß er die Tötung aller Menschen angeordnet habe, auf die man stoßen würde, also auch aller Frauen und Kinder. Andere Soldaten haben Medina nicht so verstanden, der auch als Zeuge im Calley-Prozeß einen solchen Befehl bestritten hat. Doch einmal ging Medina von der, von ihm gegenüber der Charlie Company nicht erwähnten Voraussetzung aus, daß mit Frauen und Kindern nicht zu rechnen sei; und ein andermal kündigte er einen »harten Kampf«, eine erste große »Bewährungsprobe« gegen eine Elite-Einheit des Vietcong so unmißverständlich an, daß sich nur wenige seiner Männer Gedanken darüber machten, ob man tatsächlich an eine so klare Feindlage geraten werde.
Hauptmann Medina, der sich seines Befehls am Abend des 15. März 1968 wegen freiwillig und erfolgreich einem Lügendetektor-Test unterzogen haben soll, kann durchaus die Wahrheit sagen, denn er bestreitet, die Tötung von Frauen und Kindern befohlen zu haben. Er verschweigt dabei freilich, daß er eine andere als die Ihm von Oberst Barker gegebene Lage nicht einen Augenblick lang erwogen und also für den Fall, daß man doch Frauen und Kinder antreffen würde, keine Weisung gegeben hat.
In der Frühe des 16. März 1968 landet Calley mit seinem Zug als erster, etwa 150 Meter westlich des Dorfzentrums von My Lal 4. Zwar bemerken einige Männer des ersten Zuges bald, daß sie gar nicht beschossen werden, doch dem Zug ist gesagt worden, er werde auf starken Feind stoßen, den er zu töten habe, und dieser Befehl gilt.
Auf 1000 Fuß Höhe über My Lai 4 fliegt Kampfgruppenchef Oberst Barker. 2500 Fuß hoch kreist Oberst Henderson, der an diesem Morgen den Befehl über die elfte Brigade übernommen hat, der Charlie Company angehört. Auch und gerade in den Hubschraubern der Kommandeure muß man feststellen können, daß der Landung kein Abwehrfeuer entgegenschlägt und sich überhaupt Widerstand nicht regt. Hauptmann Medina hat das jedenfalls, kurz nachdem er mit dem Reserve-Zug gelandet ist, bemerkt und an Dotti gemeldet, das Ziel sei »kalt«. Medina gibt während der nächsten Stunden ein- oder zweimal die Weisung »stoppen« über Sprechfunk, die aber nichts bewirkt.
Medina hätte den Einsatzbefehl zu korrigieren, um eine Katastrophe zu verhindern. Doch er korrigiert die angenommene Feindlage nicht entsprechend der tatsächlichen. Oberst Barker schweigt aus 1000, Oberst Henderson aus 2500 Fuß Höhe, und beide schweigen auch, als sie später tiefer gehen. Henderson ist im Calley-Prozeß als von der Jury gewünschter Zeuge von Richter Kennedy gehört worden, und Kennedy ist von dem ausgegangen, was er weiß, was alle wissen, was aber nicht in das Verfahren eingeführt werden darf, in dem es allein um Calleys Schuld zu gehen hat. Kennedy ist sehr, sehr weit gegangen in dieser Befragung. Kennedy: »Ist irgend etwas darüber gesagt worden, was mit Gefangenen geschehen soll?« Henderson: »Das Thema kam nicht auf.« Kennedy: »Hat Oberst Barker denn nicht irgendeinen Plan für die Behandlung Gefangener gemacht?« Henderson: »Ich kann nur annehmen, daß er das getan hat.«
Über 60 Stunden hat die Offiziersjury bis Freitag abend letzter Woche im Calley-Prozeß geheim beraten. Einstimmigkeit der Jury ist nur für die Höchststrafe erforderlich, doch es hat nicht den Anschein, daß die Geschworenen untereinander uneins sind. Sie dürften eher miteinander auf ihren Auftrag starren, der unlösbar ist.
Von oben nach unten hätte man verfahren müssen, oder besser noch gegen alle mittel- oder unmittelbar an My Lai 4 Beteiligten gemeinsam: Der Versuch der Militärs, My Lai 4 totzuschweigen, ist gescheitert, doch virulent ist weiterhin das Bemühen, My Lai 4 auf der untersten Ebene der Verantwortung zu erledigen.
Geblieben ist zunächst also und allein -- Calley. Seine Soldaten sahen in ihm einen kleinen Wichtigtuer, ein Kind, das Krieg spielt, einen eingebildeten Napoleon. Nie hätte Calley Offizier werden dürfen. Er suchte Selbstbestätigung überall und um jeden Preis. Er wäre, wäre er nur ein wenig begabter, »ein Fall«. Er kann nicht über sich, schon gar nicht über andere verfügen. Jetzt, nach 59 Prozeßtagen in Fort Benning, ist Calley erschöpft. Seine überstramme Haltung ist zerbrochen. Er hat schmale, gerötete Augen.
An dem Tag, an dem die Jury ihre Beratung begann, hat Calley Besorgungen gemacht; einen kleinen Koffer mit den Dingen gefüllt, die er brauchen wird, falls man ihn zur Höchststrafe verurteilt: denn dann wird er sofort verhaftet werden. Calley grübelt, er versucht zu begreifen, und manchmal ist neuerdings eine Art Würde an diesem keine 1,60 Meter großen Burschen, der bislang unheilbar unreif schien.