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KANADA Das Tor nach Asien

In Vancouver, der größten Stadt an Kanadas Westküste, ist ein friedlicher Kampf der Kulturen ausgebrochen: Schon jeder fünfte der Bewohner stammt aus Asien. Sie sind willkommen als neue kapitalistische Elite. Von Jürgen Neffe
Von Jürgen Neffe
aus DER SPIEGEL 50/1997

Die Formel für die Politik der offenen Arme ist so einfach, daß sie nicht übersetzt werden muß: »Welcome to Canada«, sagt der Einwanderungsbeamte im Empfangsraum des Flughafens von Vancouver, als er der Familie aus Hongkong die Pässe mit eingehefteten kanadischen Visa zurückgibt.

»Thank you«, antwortet, noch bevor die Dolmetscherin die Begrüßung auf kantonesisch wiederholt hat, mit schwerem Akzent der schlicht gekleidete Mann auf der anderen Seite des Schreibtisches. Auf sein Zeichen hin erheben sich mit ihm seine Frau und seine Tochter, verneigen sich tief und machen sich dann auf den kurzen Weg durch den Zoll - und auf den langen Marsch in eine Gesellschaft, die sie Kanadier werden und Chinesen bleiben läßt.

Sie sind willkommen als Fremde, obwohl sie weder eine der beiden Landessprachen noch die Grundregeln des Umgangs in ihrer neuen Umgebung beherrschen. Aber sie bringen etwas mit, das internationaler ist als jede Sprache und jedes Verhaltensmaß: Geld.

Per Unterschrift haben sie zugesagt, mindestens 350 000 kanadische Dollar (knapp 450 000 Mark) in ihrer neuen Heimat zu investieren, üblicherweise in Staatsanleihen. Auf die Frage, wieviel Bargeld sie bei sich tragen, hat die Dolmetscherin die Auskunft des Familienoberhauptes mit »130 000 US-Dollar« übersetzt. Und der Einwanderungsbeamte hat wohlwollend genickt.

Während andernorts das Gespenst der Überfremdung umgeht, betreibt das riesige Land im Norden Amerikas eine aktive Einwanderungspolitik wie kein anderer Staat auf Erden. Selbst in den USA soll die Immigration eher eingedämmt als ausgedehnt werden; doch Kanada diskutiert eifrig darüber, wie die von der Regierung beschlossene Quote von jährlich einem Prozent Neubürgern - in diesem Jahr fast 300 000 Menschen - endlich erreicht werden kann. Vergangenes Jahr kamen 225 000, die meisten von ihnen Asiaten.

Vor allem ums Geld ging es der Einwanderungs- und späteren Außenministerin Barbara McDougall, als sie nach dem Hongkong-Abkommen zwischen Großbritannien und der Volksrepublik China 1984 anregte, die tiefsitzende Verunsicherung in der reichen Kronkolonie systematisch auszunutzen.

Mit den daraufhin neu geschaffenen Regeln hat sich Kanada den größten Anteil am Exodus aus Hongkong sichern können. Neben dem Dollar- ist allerdings auch Humankapital gefragt: Über 40 Prozent aller Antragsteller kommen als »Unabhängige«, wenn sie die erforderliche Punktzahl bei einem Eignungstest erzielt haben, in dem es hauptsächlich um berufliche Qualifikation geht.

Damit hat sich das Land, wie der Immigrationsexperte Don DeVoretz von der Simon Fraser University in Vancouver glaubt, auf »eines der größten sozialen Experimente der Geschichte« eingelassen: Greater Vancouver, die Metropole am Pazifik mitsamt des umgebenden Großraums, wird in atemraubendem Tempo asiatisiert. Selten wurde irgendeine Gegend auf der Welt so schnell und friedlich von einer fremden Kultur durchdrungen wie hier.

Der neue Flughafen der Stadt hat sich zum Drehkreuz des transpazifischen Luftverkehrs entwickelt. Mittlerweile landen hier mehr Menschen aus Asien als aus dem gesamten übrigen Amerika. Unter ihnen befinden sich pro Jahr Zehntausende Einwanderer, die in Vancouver oder Umgebung bleiben wollen.

Nur wenige Metropolen weltweit können es mit der landschaftlich märchenhaften Lage der erst gut 100 Jahre alten Stadt zwischen Bergen und Wasser aufnehmen. Aber keine vermittelt Besuchern und Neuankömmlingen ein vergleichbar beruhigendes Gefühl, nicht zu spät gekommen zu sein. Die Hälfte der Einwohner wurde nicht hier geboren, fast alle sind Immigranten in erster und zweiter Generation und kennen den Zustand des Fremdseins aus eigener Erfahrung.

Zwar ist auch diese Neustadt in den vergangenen Jahrzehnten weniger gewachsen als gewuchert, aber nicht so krebsartig und bedrohlich wie Houston oder Los Angeles.

Den Wendepunkt in der Zeitrechnung Vancouvers brachte die erfolgreiche Weltausstellung im Jahr 1986. »Vor der Expo wollten die Leute ihre Stadt klein und beschaulich halten«, erinnert sich DeVoretz. Seit der Expo hat sich das bis dahin eher verschlafene Refugium kolonialer Prägung am Rande einer riesigen, nur wenig erschlossenen Waldwildnis zur weltbekannten und weltoffenen Metropole gemausert.

Als der Milliardär Li Ka-shing, Gründer eines der größten Unternehmen Hongkongs, 1988 das leergeräumte Expo-Gelände von der Stadt erwarb, sahen seine Landsleute darin ein Signal zum Aufbruch: Sie begannen, ihre Vermögen vermehrt im Großraum Vancouver anzulegen. Die Entwicklung beschleunigte sich dramastisch, als viele Bewohner Hongkongs nach dem Massaker auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens 1989 das Vertrauen in die chinesische Regierung verloren. Etwa 90 Prozent der Hochhausprojekte in Vancouver werden derzeit mit chinesischem Geld finanziert.

Dieser anhaltende Kapitalzufluß hat der Provinz ein kräftiges Wachstum auch in Zeiten beschert, als der Rest des Landes unter schwerer Rezession litt. Die Provinz British Columbia gilt heute als die erfolgreichste Region in ganz Nordamerika.

Auf dem Expo-Gelände wird momentan ein komplett neuer, zum Teil schon bewohnter Stadtteil fertiggestellt, Wohntürme aus Stahl und Glas mit viel Platz und Licht und oft grandiosem Blick auf Stadt und Hafen. Die meisten Apartments waren schon vor dem ersten Spatenstich in Hongkong verkauft. Gebaut werden sie von Li Ka-shings chinesisch-kanadischer Firma Concord Pacific Developments, deren Chef Terrence Hui, 33, vom »Vancouver Magazine« zum »mächtigsten Mann der Stadt« gekürt wurde.

Hui vergleicht, ganz Geschäftsmann, ganz Chinese, seine zweite Heimat mit einer »Rosenknospe, die noch nicht aufgegangen ist«. Er preist die »chinesische Flexibilität« als Erfolgsrezept und räumt freimütig ein, worin er seinen größten Wettbewerbsvorteil sieht: »Für den Preis eines einzigen großen Gebäudes in Hongkong kann ich die halbe Innenstadt von Vancouver kaufen.«

Die Hongkong Bank of Canada startete ihre Aktivitäten in Vancouver 1981 mit einem Grundkapital von 150 Millionen Dollar. Heute macht sie im Jahr fast soviel Gewinn und verfügt über Einlagen von 26 Milliarden. Wenn Chefökonom David Bond, ein weißer Kanadier, der selbst jahrelang in Hongkong gearbeitet hat, über die lebendigste Einkaufsstraße Vancouvers geht, die Robson Street im West End der Stadt, fühlt er sich mitunter in die Nathan Road in Hongkong versetzt, die dortige Hauptkonsummeile.

Scharen junger Asiaten flanieren über die Trottoirs, Mobiltelefone in den Händen, gekleidet in Designermode, für deren endlosen Nachschub im Kreditkartenparadies die Läden des weltweiten Einheitsindividualismus à la Gucci und Armani zwischen Starbucks-Cafés und Cocktail-Bars sorgen: willkommen in »Hongcouver«.

Die Bettler auf den Bürgersteigen, nicht selten Althippies mit Rucksack, Hund und Gitarre, sind fast ausschließlich Weiße und wirken wie Überbleibsel aus einer anderen Epoche. Viele kommen aus den kalten Provinzen im Osten und suchen im »Hawaii Kanadas« noch immer den Lebensstil des »easy-going«, den indes die fleißigen Einwanderer aus Asien wegzuspülen drohen.

»Dies ist längst eine asiatische Stadt«, sagt Frank Ogden. Der als »Dr. Tomorrow« berühmt gewordene Zukunftsforscher lebt auf einem Hausboot im Jachthafen des Coal Harbour mit Blick auf die Skyline von Downtown. Kein Ort der Welt, sagt er, sei besser als dieser »Prototyp der Stadt von morgen«, vorbereitet auf »das asiatische Jahrhundert«, das hier bereits begonnen habe.

Nach Schätzungen von Fachleuten soll die Bevölkerung von Greater Vancouver von jetzt 1,8 Millionen Menschen innerhalb des nächsten Jahrhunderts auf 4 bis 6 Millionen anwachsen. Manche Experten halten sogar, wie das »Vancouver Magazine« kürzlich in einem Artikel über die Zukunft von »Asiatown« schrieb, 15 Millionen für möglich.

Das »New York der Westküste«, als »Tor Asiens« schon heute eine Metapher für das pazifische Zeitalter nach dem Ende des atlantischen, könnte nach Ansicht Ogdens im 21. Jahrhundert eine ähnliche Rolle als Brückenkopf zwischen Asien und Amerika spielen wie die Stadt am Hudson im 20. Jahrhundert zwischen Amerika und Europa.

Doch Größe und Geld allein machen Vancouver noch nicht kosmopolitisch. Wenn auf Dauer vor allem die Kälte der Geschäftswelt das Klima bestimmt, dann stehen auch Werte wie liberaler Geist und lässige Lebensart, kreative Freiheit und künstlerischer Wagemut auf dem Spiel. Das Beispiel Singapur, sauber, geschäftstüchtig und reich, aber seelenlos und autoritär und nur dann erfinderisch, wenn es um Handel und Produkte geht, steht warnend fern im Osten, der hier im Westen liegt.

»Die Asiaten haben sich dem Business verschrieben, das ist ihre Religion«, räumt Ogden ein. »Wir haben den Kapitalismus im Blut«, bekräftigt Francis Cheung, »selbst die Kommunisten in China sind in ihrer Seele immer Kapitalisten gewesen.« Der Mitinhaber des Großrestaurants Victoria im Hyatt-Hotel, eines von weit über 300 China-Restaurants in Vancouver, ist 1988 aus Hongkong gekommen.

»Und wenn wir reich sind, dann wollen wir Status«, sagt er und berichtet, das wichtigste Thema unter seinesgleichen sei derzeit der schlechte Service des größten Mercedes-Händlers der Stadt, am Broadway. Dann deutet er auf die zahllosen Mobiltelefone auf den Tischen, deren dauerndes Läuten und Piepen sich zum schrillen Konzert für entfesselte Kommunikationsfetischisten vereint:

»Wir sind nicht nur auf der ganzen Welt vertreten«, erklärt Cheung, »sondern auch hochgradig vernetzt.« Und genau dieses im Chinesischen als »guanxi« bekannte Prinzip der mannigfaltigen Beziehungen mache die Neubürger so erfolgreich in ihren typischen Geschäften wie Handel und Hotelbesitz, Reisebüros und Immobilien.

Im gediegenen Villenvorort West Vancouver in den Hügeln nördlich des brückenüberspannten Burrard Inlet, wo jeder Bewohner eine unverbaubare Aussicht auf die Innenstadt genießen kann, durften Chinesen bis 1947 per Gesetz überhaupt nicht leben. »Heute«, sagt DeVoretz, »gehört das Viertel ihnen.«

Die Einwanderer, erklärt der Professor, hätten keine neue Unterklasse geschaffen, sondern eine neue »Überklasse«. Die Immobilienpreise seien in einer Art hochgegangen, daß er inzwischen sein eigenes Haus nicht mehr bezahlen könnte. Doch der Villen-Kaufrausch der Chinesen hat kaum Unruhe oder gar Feindseligkeiten ausgelöst, denn: »Wir haben ja fast alle gewonnen.«

Leute wie DeVoretz sind eben an den Stadtrand gezogen oder in weiter entfernt liegende Vororte - und haben dort wiederum die Preise in die Höhe getrieben. So haben zumindest die Immobilienbesitzer in British Columbia, eine große Mehrheit der Bevölkerung, von dem Geldimport der Immigranten profitiert.

Wie aber, wenn Alteingesessene fürchten müssen, mit den neuen Nachbarn aus Asien auf Dauer nicht mithalten zu können, weil ihnen beispielsweise die Freizeit im Freien mehr bedeutet als das Berufsleben im Büro? Wie, wenn weniger als die Hälfte der Kanadier im Eignungstest für die Einwanderung in ihr eigenes Land die benötigte Punktzahl erreichen würde - muß das nicht schon bald in Fremdenhaß umschlagen?

Vor ein paar Jahren gab es vereinzelte antichinesische Graffiti wie »Chinks stink«, aber die sind längst verschwunden. Kleine Gruppen rechter Rassisten versuchen, Stimmung gegen die Fremden zu machen. In Haßpamphleten beschimpfen sie Juden ebenso wie Asiaten. Bei jüngsten Erhebungen gaben 60 Prozent der Befragten an, es gebe »zu viele« Immigranten.

Aber wer mit weißen »Vancouverites« spricht, vom Hippie bis zum Yuppie, hört selten ein böses Wort gegen die Einwanderer. Allenfalls mokieren sie sich über deren aggressiven Fahrstil oder das protzige Auftreten von Kindern reicher Familien, die in superteuren Sportwagen zur Schule oder Universität fahren.

»Mein Zahnarzt ist Chinese, ebenso mein Anwalt, mein Banker und nicht zuletzt auch mein Boß«, frotzelt DeVoretz, »da ist es nicht gerade leicht, chinesenfeindlich zu sein.«

Wenn überhaupt, ärgern sich die Westkanadier eher über die frankophonen Landsleute in der eigenwilligen Provinz Quebec, die viele für verloren halten. Noch schärfer aber wird die Kluft zu den USA. Nach dem Ausbruch eines nach wie vor schwelenden Konfliktes um Lachsfangquoten, der in antiamerikanischen Demonstrationen und dem Verbrennen von US-Flaggen gipfelte, brodelt in British Columbia ein unvermutet heftiger Nationalismus. Er richtet sich gegen die arrogante Übermacht im Süden, aber nicht gegen die Asiaten, die ja Kanadier sind oder werden wollen.

Nur was viele wohlhabende Chinesen mit ihren Immobilien anstellten, hat die Gemüter in Vancouver nachhaltig erregt: Aus einer Mischung von Statusbewußtsein und Platzbedarf für die oft sehr großen Familien haben viele die schmucken, gartenumsäumten viktorianischen Häuser gleich nach dem Kauf abreißen und an deren Stelle häßliche, meist zweistöckige Klötze errichten lassen, die den lauschigen Charakter mancher Straßenzüge unwiederbringlich zerstört haben. Diese neureichen Prunkbauten, unter traditionsbewußten Vancouveranern als »monster homes« verschrien, reichen in der Regel von Grundstücksgrenze zu Grundstücksgrenze.

Einen wahren Aufschrei mit politischen Folgen verursachten die neuen Hausbesitzer durch ihren rücksichtslosen Umgang mit der innerstädtischen Natur: Um sich Platz und Licht zu verschaffen, ließen sie in großer Zahl auch alte Bäume fällen. Die Protestwelle gegen das Abholzen schwappte schließlich ins Stadtparlament. Die Stadtregierung erließ daraufhin ein Gesetz, nach dem pro Jahr und Grundstück nur noch ein Baum von einem Durchmesser über 20 Zentimeter gefällt werden darf.

Die chinesischen Hausbesitzer, organisiert in der Vancouver House Owner Society, setzen sich gegen diese »bevormundende« Regelung zur Wehr. »Das ist rassistisch«, sagt Hanson Lau, 54. Der Gründer und Besitzer der größten chinesischen Radiostation der Provinz, seit 1966 in Kanada, versteht sich als Vorkämpfer für die Rechte seiner Landsleute in der neuen Heimat.

In seinen Sendungen, die von zwei Dritteln der chinesischen Haushalte gehört werden, macht Lau unermüdlich Stimmung gegen alles, was ihm chinesenfeindlich erscheint - etwa die neuen Steuergesetze.

Nach den Plänen der Regierung in Ottawa müssen ab 1998 alle kanadischen Steuerpflichtigen ihr gesamtes weltweites Vermögen deklarieren - ein wunder Punkt: Zwar klagen vor allem die Immigranten aus Hongkong, je reicher, desto lauter, über den Spitzeneinkommensteuersatz von 56 Prozent - in ihrer alten Heimat beträgt er gerade einmal 16 Prozent. Aber es steht zu vermuten, daß viele ihre außerhalb von Kanada erwirtschafteten Einnahmen gar nicht oder kaum versteuern.

In den letzten Monaten hat eine regelrechte Flucht zurück nach Hongkong eingesetzt. Schätzungen reichen bis zu 10 000 Neukanadiern, die lieber ihre teuer erkaufte Staatsbürgerschaft wieder aufgeben, als sich dem Fiskus zu offenbaren. Diese Bewegung habe sich bereits auf den Immobilienmarkt ausgewirkt, berichtet die Maklerin Winnie Chung - allerdings nur bei Häusern im Bereich »deutlich über eine Million Dollar«, deren Preise um zehn Prozent gefallen seien.

Lillian So, Mitherausgeberin der chinesischen Ausgabe von »Maclean's«, dem kanadischen Nachrichtenmagazin, kennt etliche der Rückkehrer. Wie Hanson Lau lebt sie seit fast 30 Jahren in Kanada. Sie hat die kanadischen Ausgaben der zwei chinesischen Tageszeitungen »Sing Tao« und »Ming Pao«, beides Ableger großer Blätter in Hongkong, gegründet und unterhält Verbindungen in der chinesischen Gemeinde wie kaum jemand sonst.

Die neuen Steuerflüchtlinge, behauptet sie, hätten Kanada niemals als Heimat verstanden, sondern trotz ihrer Klagen gegen die Höchstsätze als eine Art Steuerparadies betrachtet. Da gebe es »lange Geschichten von Betrug«, aber wer in Kanada Sicherheit suche und eine gute Ausbildung für seine Kinder, dürfe eben nicht mit einem Billigtarif rechnen.

So, 48, bildet nicht nur in ihrer Firma das Bindeglied zwischen den Welten von West und Ost. Ihr Leben ist zu einer Art Spagat über den inneren Pazifik geworden: Auf der einen Seite ist sie längst in Kanada heimisch geworden und arbeitet erfolgreich im traditionsbewußten Unternehmen der Familie Maclean. Andererseits: Wenn sie nach Hause kommt, setzt sie sich oft im Lotussitz vor ihren Hausaltar und läßt sich mit Sprechgesängen auf andere Bewußtseinsebenen tragen oder diskutiert mit ihrer Freundin über taoistische Lehren und darüber, daß nichts existiert und alles Illusion ist.

Der Staat unterstützt ethnisch orientierte Vereine, die das eigene Kulturgut und die Muttersprache bewahren. Statt des amerikanischen Ideals vom Schmelztiegel, in dem Menschen aller Rassen und Sprachen sich angleichen sollen, favorisiert Kanada ein »Mosaik der Kulturen«.

Die halb vom Staat und halb durch Spenden aus der Gemeinde finanzierte Selbsthilfeorganisation »Success« bietet nicht nur Englischunterricht und Schulungen für Geschäftsleute an, die sich selbständig machen möchten. In Benimmkursen versuchen Lehrer behutsam, eine Basis für das Zusammenleben von Einwanderern und Eingesessenen herzustellen. Das Pensum reicht vom Autofahren nach der zurückhaltenden kanadischen Art über Umweltbewußtsein bis hin zum richtigen, das heißt leisen Umgangston, den die meist überlaut sprechenden Chinesen erst erlernen müssen.

Direktor Thomas Tam, der selbst schon vor 24 Jahren aus Hongkong kam, sieht die eigentliche Trennlinie woanders: Der Kampf der Kulturen finde vornehmlich innerhalb der chinesischen Bevölkerung statt, insbesondere im Mikrokosmos der Familien zwischen den Generationen und zwischen den Ehepartnern.

»In der chinesischen Gesellschaft herrschen klare Hierarchien«, sagt Tam, »der Mann ist der Führer in der Familie und verlangt Respekt.« Er selbst habe große Schwierigkeiten, sich an die Widerworte seiner achtjährigen Tochter zu gewöhnen, »aber in der Schule wird sie ja dazu ermuntert«. Da viele Eltern den Autoritätsverlust nicht hinnehmen wollten, würden Kinder in chinesischen Familien besonders häufig geschlagen.

Yee Jee Tso, der Sohn von »Maclean's«-Herausgeberin Lillian So, gehört zu jener Gruppe kanadischer Chinesen, die traditionsverhaftete Neu-Einwanderer abfällig »Bananas« nennen: außen gelb, innen weiß.

Zwar hat ihm die Mutter noch Kantonesisch beigebracht, ideal für Grenzgänge zwischen den Welten. Aber er spricht, denkt und träumt wie seine meist weißen Freunde: englisch mit dem typischen schottischen Akzent von British Columbia. Lillian So beobachtet die Entwicklung ihres Sohnes mit Wohlwollen. Von dessen Vater, ebenfalls Hongkong-Chinese, hat sie sich vor langer Zeit getrennt. Der Grund: »Emanzipation«. Sie habe sich dem Verlangen nach Unterwürfigkeit nicht länger beugen wollen.

»Die größten Probleme beobachten wir in den Beziehungen der Paare«, sagt Success-Direktor Tam. Vor allem die sogenannten Astronauten-Frauen erleben - und verursachen - die tiefsten Krisen. »Astronauten« werden Männer mit kanadischer Staatsbürgerschaft genannt, die Frau und Kinder in Vancouver zurücklassen und ihr Geld weiterhin in Hongkong verdienen. Immerhin 150 000 bis 200 000 Chinesen mit kanadischen Pässen arbeiten derzeit in ihrer alten Heimat.

Viele der alleingelassenen Frauen, sagt Tam, machten eine typische Entwicklung durch: Am Anfang stünden Langeweile, Einsamkeit und mitunter auch schwere Depressionen. In der nächsten Phase würden sie sich aus ihrer Passivität befreien, die Sprache lernen, sich einen Job suchen. Danach dauere es nicht mehr lange, bis sie sich einen Liebhaber zulegten. Die Scheidungsrate unter eingewanderten Chinesen liegt deutlich höher als in der übrigen Bevölkerung.

»Das ist die Tragik jeder Immigration«, sagt Lillian So. »Die Einwanderer der ersten Generation zahlen immer den Preis, selbst wenn sie wohlhabend sind. Erst ihre Kinder können den Ort, an dem sie leben, wieder ihr Zuhause nennen.«

[Grafiktext]

Kartenausriß Vancouver

Kanada: Bevölkerung 1996 nach Herkunft

[GrafiktextEnde]

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