Das tote Leben
Er hat keinen Beweis, er hat nur Indizien und sein Gefühl. Mutter, dies ist Mutter, hier in dieser Mülltüte, das fühlt er. Er steht vor einer Rolle aus Stacheldraht, hinter der Rolle stehen zwei amerikanische Soldaten, er schreit sie an.
»Was für ein Leben ist das«, schreit er, »was für Verbrechen?« Der eine Soldat, der mit der Sonnenbrille, steht einfach da, der andere sagt »I'm sorry« und streckt die Hand aus, über den Stacheldraht hinweg.
Heidar Dschassim Mohammed, 26, ist nicht rasiert, er hat einen Schnauzbart und buschige Augenbrauen und schwarzes Haar, er trägt ein graues Polo-Hemd mit Reißverschluss, eine graue Hose und Badeschlappen, er kann nicht aufhören zu schreien. »Warum?«, schreit er, er hebt das Kinn, schließt die Augen, weint.
Zu den Rollen aus Stacheldraht, zu den Mülltüten führt ein sandiger Weg, links ab von der Hauptstraße, einen Kilometer weit führt der Weg, hinein in die Felder von Mahawil. Dort, am Rand, steht ein weißer Nissan mit Allradantrieb, und in den Fenstern hängen die Listen mit den Namen derer, die identifiziert wurden. Ein Soldat trägt den Namen Hajat Dschabir Abdullah ein, Heidars Mutter, es ist ein Sieg, eine Anerkennung, es ist das Ende der Ungewissheit. Ein paar Meter weiter steht ein Zelt, hier gibt es Schatten und Wasser, die Soldaten tun, was sie können. Was kann man tun?
Die meisten hier stehen einfach da. Denn hinter dem Zelt liegen die Rollen aus Stacheldraht, sie markieren ein Dreieck, und in dem Dreieck liegen die Mülltüten. Dünne Tüten sind das, Tüten, die man in Deutschland in die Mülleimer unter der Spüle stopft. Sie reißen schnell, Knochen sind spitz und scharf.
Es ist zehn Uhr, es ist 40 Grad heiß, es ist staubig, es stinkt. 300 Iraker sind hier, die meisten Männer in der Dischdascha, dem sandfarbenen Umhang, die Frauen mit der Abaja, dem schwarzen Kopftuch, sie suchen nach Söhnen, Brüdern, Schwestern, Müttern. Darum öffnen sie die Mülltüten, sehen sich die Ausweise an, schwarzweiße, lächelnde, junge Gesichter, legen die Ausweise wieder in die Mülltüten und schleichen weiter. 200 Mülltüten liegen in dem Dreieck aus Stacheldraht, alle paar Minuten trägt ein schreiender Iraker eine Tüte weg, alle paar Minuten trägt ein schweigender Soldat eine neue herbei.
Vielleicht werden es in ein paar Wochen 3000 Mülltüten gewesen sein, vielleicht 5000, vielleicht 10 000. Neun Bulldozer arbeiten sich in die Felder hinein.
Und Heidar Dschassim Mohammed hat keinen Beweis, weil seine Mutter ihren Ausweis nicht mitgenommen hatte zur Polizei. Er hat nur fünf lange Knochen in der Mülltüte, die Arme vielleicht, vielleicht die Oberschenkel. Doch Heidar ist sicher, dies hier ist Mutter, er fühlt es, er hat Indizien. Das Kleid, das er kennt, der karierte Stoff, grau und weiß. Und der Schädel, klein und schmal, graue Haarbüschel an den Seiten.
»Mutter hatte Zöpfe«, sagt er.
Dann nimmt er die Mülltüte und trägt sie zum Auto. Er hat eine Holzkiste dabei, er legt die Mülltüte mit seiner Mutter hinein.
Es sind zehn Kilometer bis nach Hilla, bis zur Tuhmasija-Straße Nummer 23/2150, einem Betonklotz mit zwei Etagen, rundherum Staub und Bauschutt, davor ein schwarzes Eisentor. Sieben Geschwister warten auf Heidar, sie stehen am Tor, sie warten auf die Eltern und auf den großen Bruder, seit inzwischen zwölf Jahren. Heidar öffnet die Kiste, sie nehmen den Schädel aus der Mülltüte, sie streicheln ihn. Und Heidar schaut zu, er steht an diesem Tor, das quietscht, das damals schon quietschte, als sie kamen, seit zwölf Jahren hasst er das Quietschen und hat kein Öl.
Zwölf Jahre, seit seine Mutter, sein Vater und sein großer Bruder verschwanden, zwölf Jahre, in denen er sie gesucht hat, in Hilla, in Bagdad, ohne erzählen zu dürfen, was passiert war. Zwölf Jahre Schweigen.
Zwölf Jahre ohne Geld, weil Heidar nicht arbeiten durfte, weil sein Vater in den Akten der Geheimpolizei stand. Nur mal aushelfen konnte Heidar, auf einer Baustelle für eine Hand voll Dinar.
Zwölf Jahre mit sieben jüngeren, trauernden, hungernden Geschwistern. Zwölf Jahre, in denen Heidar Trost gebraucht hätte und trösten musste, ein Kind, aber das älteste. »Heidar, kommen sie wirklich zurück?« »Natürlich kommen sie zurück«, er hat diesen Satz viele hundert Mal gesagt.
Es ist ein stickiger Tag im September 1991, es ist ein Samstag, das weiß Heidar noch, der Vollmond steht schon am Himmel, das weiß er, das Datum hat er vergessen. Heidar ist barfuß damals, er trägt Jeans und T-Shirt, er geht in die sechste Klasse der Safi-al-Din-Schule, er träumt davon, in Bagdad zu studieren oder Soldat zu werden oder Fußballer. Er hilft dem Vater in dem Laden, in dem Autofelgen an einer Schnur hängen. Der Vater verkauft Ersatzteile, sie haben einen weißen Toyota und immer zu essen.
»Es war ein gutes Leben«, sagt Heidar, und seine Schwester Israa stellt Wasser auf den Boden und Schalen mit Reis, mächtige Schalen, muss man höflich sein und alles aufessen? Heidar lacht, nein, sagt er, »meine Schwestern essen die Reste«.
Es ist elf Uhr an jenem Samstag im September 1991, der Vater ist auf dem Markt, der Bruder und die Mutter sind im Haus, als das Eisentor quietscht und acht Polizisten ins Haus treten. Sie tragen Uniformen, acht Männer mit Schnauzbärten, sie sagen, sie müssen das Haus untersuchen, Routine, oder hat die Familie etwas zu verbergen?
»Nein, nichts«, sagt Ali Dschassim, 18 Jahre alt, Heidars großer Bruder, der zur Armee will, um für den Irak zu kämpfen.
»Sehen Sie sich ruhig um«, sagt Hajat, die Mutter, die Zöpfe hat und ein kariertes Kleid trägt, grau und weiß.
Die Polizisten teilen sich auf, vier gehen die Treppe hinauf, vier bleiben unten. Sie werfen die Möbel um, es gibt viele Möbel im September 1991. Sie gehen ins Arbeitszimmer, sehen Ersatzteile für Autos, »seid ihr Schwarzhändler?«, fragen sie. Sie sehen einen braunen Aktenkoffer mit Zahlenschloss, sie öffnen ihn, reißen das Futter kaputt, nehmen 30 000 Dinar heraus, rund 220 Dollar, und Mutters Schmuck.
Heidar steht vom Boden auf, geht nach nebenan und holt den zerfetzten Aktenkoffer. »Hier«, sagt er, »der ist uns geblieben.«
Er setzt sich wieder, heute gibt es keine Möbel in diesem Haus, sie haben alles verkauft, zuerst Vaters Sessel, am Ende den Toyota, es gibt eine Neonröhre und einen kaputten Fernseher, auf dem eine Tischdecke liegt, und die Bilder an der Wand, mit roten Klebestreifen festgemacht. Oben rechts in der Ecke der Vater, ein stolzer Mann mit Seitenscheitel, Schnauzer und Sakko, daneben der Imam Ali Ibn Abi Talib.
»Wir sind Schiiten, sonst haben wir nichts verbrochen«, sagt Heidar.
Damals, im September 1991, ist der Aufstand der Schiiten schon niedergeschlagen, der Aufstand, zu dem Amerika aufgerufen hatte. Der Weg, hatte George Bush senior gesagt, »ist für das irakische Militär und das irakische Volk, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, um den Diktator Saddam Hussein zum Abtreten zu zwingen«.
Im Dezember 1990 schlossen sich 17 Oppositionsgruppen zusammen, doch am 5. März 1991 sagte der Sprecher des US-Präsidenten, Marlin Fitzwater: »Wir haben nicht die Absicht, uns in die inneren Angelegenheiten des Irak einzumischen.« Und dann kamen die Mi-24-Kampfhubschrauber und die Panzer der Republikanischen Garde nach Hilla.
Es ging schnell, und im September 1991 geht es nicht mehr um Politik, nur um Macht. Und Heidars Bruder ist kein Rebell, nur Schiit.
Die Polizisten stecken den Schmuck ein und das Geld. »Warum macht ihr das?«, fragt Ali Dschassim, der Bruder, und sie fesseln ihm die Hände auf den Rücken. Und die Augen verbinden sie ihm, hier in diesem Zimmer, und Heidar steht draußen am Fenster, sieht zu und weiß nicht, ob er hineinstürmen und schreien und weinen soll, ob er sie anspringen soll und beißen und kratzen. Er tut nichts. Er steht am Fenster und schaut hinein.
»Was macht ihr mit meinem Sohn?«, fragt Hajat, die Mutter. »Nichts«, sagt einer der Polizisten, »nur ein Verhör, in einer Stunde ist er zurück.« »Ich komme mit, ich bringe ihn heim«, sagt Hajat, 40 Jahre alt, Mutter von neun Kindern. »Dann komm halt mit«, sagt der Polizist. Und dann sind sie weg, und auf dem Herd steht Kebab mit Tomaten und Zwiebeln.
»Ich habe einfach dagestanden, am Fenster, ich habe mich nicht von ihnen verabschiedet«, sagt Heidar. Still ist es hier im Zimmer, die Schwester sammelt die Schalen ein, sie isst nebenan. »Ich hatte so Angst«, sagt Heidar. Jeden Tag und jede Nacht, sagt er, erlebt er diese Minuten neu, meistens tut er etwas, geht hinein und kämpft, meistens rettet er die Mutter und den Bruder. »Es ist ein schöner Traum«, sagt er.
Es ist 14 Uhr, als der Vater vom Markt zurückkommt, mit Taschen voller Gemüse, Dschassim Mohammed, 44 Jahre alt, Inhaber eines Ladens für Auto-Ersatzteile und neunfacher Vater. »Was ist hier los?«, fragt er, und Heidar erzählt, und die Kleinen weinen. »Lass uns gehen«, sagt der Vater. Sie brauchen 15 Minuten, der Vater zieht das rechte Bein nach, es ist eine Verletzung aus dem letzten Krieg für den Irak.
Hilla, Großstadt im Zentralirak, hat 300 000 Einwohner, 60 Prozent Schiiten, 35 Prozent Sunniten, die Sunniten regieren, Saddam ist Sunnit. Das Rathaus von Hilla ist ein weißer Bau, ganz oben ist das Büro von Tala Kahim al-Duri, dem Oberbürgermeister von der Baath-Partei. Der Vater stürmt hinein, »deine Polizisten sind Verbrecher, wo sind meine Frau und mein Sohn?«, brüllt er. »Beruhige dich doch«, sagt der Oberbürgermeister, »was ist passiert?« Er verspricht eine Untersuchung. »Wenn du Recht hast, werde ich die Polizisten bestrafen«, sagt er.
Es wird Nacht in Hilla, acht Kinder liegen in zwei Zimmern wach, und der Vater sagt, dass ihre Mutter und ihr Bruder am nächsten Morgen zurück sein werden. Am nächsten Morgen geht der Vater zum Rathaus, am übernächsten auch und am dritten Morgen wieder. »Es dauert nicht lange«, sagt er und kommt nicht zurück.
»Er hat gelächelt, als er gegangen ist«, sagt Heidar und lächelt, »von Vater habe ich mich verabschiedet.« Vom Vater, der ihm vom Fußball erzählt hat, dort in der Ecke stand sein Sessel, dort, wo jetzt sein Bild hängt. Feucht ist es hier im Wohnzimmer, die Wände sind kalt.
Am Morgen geht Heidar nicht zur Schule. Er füttert Mohammed, drei Monate alt. Er gibt Hassanein, dem Neunjährigen, seine Medizin, Hassanein hat zu wenig rote Blutkörperchen, er bräuchte Transfusionen, seine Haut ist gelb. Heidar geht nie wieder zur Schule.
Nach zwei Monaten kommen zwei Polizisten. »Du musst Berichte für uns schreiben und beweisen, dass du ein besserer Bürger bist als dein Vater«, sagen sie. »Ich kann nicht schreiben«, sagt Heidar, sie kommen nicht wieder.
Nach drei Monaten keine Nachricht, nach drei Jahren nicht, nach zehn Jahren nicht. Zum Oberbürgermeister traut Heidar sich nicht, er besticht Polizisten, er fährt nach Bagdad. »Bald werden sie zurück sein«, das sagen sie ihm.
Ende 2001 hört er zum ersten Mal von den Massengräbern bei Mahawil. »Ich muss sie finden«, sagt Heidar. Vielleicht sind sie ja im Gefängnis, vielleicht sind sie vergessen worden, vielleicht wird es irgendwann zu Ende sein mit Saddam, vielleicht.
Einer erzählt es dem anderen in Hilla, alle flüstern, es hat Zeugen gegeben im September 1991. Zwei Busse hatte die Republikanische Garde, die Busse fuhren dreimal pro Tag zu den Feldern vor dem Dorf. Die Gefangenen mussten aussteigen, und dann gaben die Soldaten ihnen Schaufeln, dann mussten sie graben und schließlich hinabsteigen, dann fielen die Schüsse, und dann schaufelten die Soldaten die Gräber zu.
»In Mutters Schädel ist kein Einschussloch«, sagt Heidar, der zwölf Jahre lang seine Geschwister versorgt und die Vermissten gesucht hat. »Was ist das für ein Leben in Deutschland?«, fragt er. »Ist es ein Leben ganz ohne Angst?«
Heidar, was war das für ein Leben in Hilla in diesen zwölf Jahren?
»Ich war auch tot«, sagt Heidar, mehr kann er nicht sagen. Es ist spät geworden in Hilla, Heidar schaltet das Neonlicht ein.
Er hat nicht gejubelt, Ende März, als die amerikanischen Panzer durch Hilla fuhren, »die Amerikaner hätten alles verhindern können«, sagt er, »aber jetzt bin ich froh, dass sie hier sind«. Dass sie die Gräber öffnen dürfen, dass er erzählen darf, dass der Oberbürgermeister fliehen musste, ist das nicht Freiheit, Grund genug für den Krieg?
Die acht Kinder der Familie des Dschassim Mohammed beerdigen ihre Mutter in Nadschaf, der Pilgerstätte der Schiiten. Drei Tage lang werden sie trauern, die Nachbarn werden kommen, Reis wird es geben und Wasser, mehr haben sie nicht.
Auch Spielzeug gibt es nicht in diesem Haus, nur Mohammed, der Kleinste, hat vier zerrissene Fotos von Fußballspielern. Er hat sie von Heidar bekommen, er hat sie immer bei sich, hinten in der Hosentasche.
Ronaldo, Batistuta, Raúl und Kahn.
Und dann legt Heidar Mohammed die Hand auf die Schulter, er muss noch mal los, es werden viele neue Mülltüten in dem Dreieck aus Stacheldraht liegen. »Ich habe noch nie ein Fußballspiel gesehen«, sagt Mohammed, der drei Monate alt war, als seine Eltern und sein Bruder verschwanden, »ist Kahn wirklich so gut?«