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ÄGYPTEN Das Ungeheuer

Städte überwuchern das Kulturland, um über eine Million vermehrte sich die Bevölkerung jährlich: Ägypten platzt aus den Nähten.
aus DER SPIEGEL 31/1979

Wie soll das enden?« fragte »AI-Ahram«, Ägyptens offizielle Tageszeitung. »Wie kann diese Entwicklung enden?« ängstigte sich auch Gamal Askarn, Leiter des Staatlichen Statistischen Amtes in Kairo.

Den furchteinflößenden Tatbestand hatte soeben der Computer ausgespuckt: Ägyptens Bevölkerung hat sich im letzten Jahrzehnt um rund zehn Millionen Menschen erhöht. »Infigar«, »Explosion«, nennt das Fernsehen die steigende Bevölkerungskurve.

Das linke Magazin »Ros el-Jussif« schreckte seine Leser mit der unheilverheißenden Alternative: »Entweder wir kurbeln die Produktion an, oder das Ungeheuer verschlingt uns.«

Weil die Agrarproduktion mit der Fruchtbarkeit der Ägypter nicht Schritt hält, ist das Land von Jahr zu Jahr mehr auf Nahrungsmittelimporte angewiesen. Doch um ein Absinken des ohnehin niedrigen Lebensstandards zu verhindern, kann der Staat die Grundnahrungsmittelpreise nicht anheben

wider jede wirtschaftliche Logik: Im Januar 1977 mußten Preiserhöhungen nach blutigen Unruhen wieder rückgängig gemacht werden.

Das aber geht an die Substanz: Der Staat subventioniert Nahrungsmittel für die hungrigen Mäuler mit 3,19 Milliarden Mark, 50 Prozent mehr als im Vorjahr. Das ägyptische Handelsbilanzdefizit wächst durch die zunehmende Einfuhr von Agrarerzeugnissen immer mehr, es lag allein 1978 bei 5 Milliarden Dollar.

»Wenn wir weiter lustig Kinder in die Welt setzen wie bisher, dann überrollt uns die Bevölkerungslawine, ehe wir die Früchte des Friedens kosten können«, warnte ein Sprecher des Handels- und Versorgungsministeriums.

Die Friedensfrüchte sind noch nicht in Reichweite, die arabischen Ölmillionen bleiben aus, aber Ägyptens Bevölkerung wächst und wächst. Alle 30 Sekunden wird am Nil ein Kind geboren.

Um den zögernden wirtschaftlichen Aufschwung nicht schon in den Anfängen zu gefährden, machte Ägypten einen gewagten Vorstoß, als in Tokio die Wirtschaftsnationen der westlichen Welt über die Ölkrise berieten: 34 Milliarden Mark sollten die sieben Industrienationen des Westens dem Nil-Land für die nächsten fünf Jahre zur Verfügung stellen, möglichst zu minimalen Zinsen.,, Zehn Milliarden zuviel«, befand ein westlicher Bankier in Kairo, »die sollen erst mal dafür sorgen, daß die Zeugungswut ihrer Männer einen Dämpfer erhält.«

Diese Wut aber hält an. In den ersten fünf Monaten des Jahres 1979 erblickte eine weitere halbe Million Ägypter das Licht der Welt. Ägyptens Städte platzen aus den Nähten, Dörfer wuchern zu Großstädten. Im kommenden Jahrzehnt werden mindestens 420 Dörfer in Städte verwandelt und eine kostspielige städtische Infrastruktur erhalten müssen.

Schon heute leben 50 Prozent der Ägypter in den Städten, davon schätzungsweise neun Millionen im Wasserkopf Kairo. Nach Mexiko Stadt, Tokio und Schanghai ist die ägyptische Hauptstadt eine der größten Städte der Wert. Vor 25 Jahren zählte die Stadt gerade zweieinhalb Millionen Einwohner.

Ägypten leidet unter der Menschenschwemme, weil

* die verbesserte Hygiene die hohe Säuglingssterblichkeit verminderte, >die Landbevölkerung sich heute besser ernährt,

* moderne Verhütungsmittel vielerorts unbekannt sind und

>orthodoxe Geistliche die Ansätze staatlicher Geburtenkontrolle bekämpfen.

Aus Furcht vor Konflikten mit islamischen Extremisten wagt die Hochburg des sunnitischen Islam, die Kairoer AI-Azhar-Moschee, nur ungern, an der Diskussion über die notwendige Geburtenkontrolle überhaupt teilzunehmen.

»AI-Ahram' kennt solche Rücksichten auf Orthodoxe nicht: »Wir brauchen eine volksweite Kampagne unter Einsatz aller Mittel', schreibt das regierungsnahe Blatt. »ehe das Erdbeben losgeht und uns mit sieh reißt«

Präsident Sadat und seine Frau Dschihan setzen sich öffentlich für die Geburtenkontrolle ein, die zwar von den meisten Moslem-Geistlichen als unvereinbar mit dem Koran gebrandmarkt wird, aber keineswegs von allen.

Ministerpräsident Mustafa Chalil fördert nach Kräften die heimische Produktion billiger Anti-Baby-Pillen, Sozialministerin Amal Osman läßt Aufklärungsbroschüren drucken. Das Kairoei Parlament verabschiedete eine seit 63 Jahren überfällige Reform des Personenstandsgesetzes. das die im Islam mögliche Polygamie (ein Moslem darf bis zu vier Frauen heiraten> erschwert -- und somit die Zahl der potentiellen Mutter einschränkt.

In den Landbezirken Oberägyptens und im Nildelta bemühen sich Ärzte und Sozialarbeiter in 622 Sammelzentren, den Fellachenfrauen den Sinn und Nutzen von Pille und Pessaren zu erläutern -- vergebens.

Die Bevölkerungsflut wirkt sich besonders schlimm in einem Land aus, dessen Ackerfläche seit 50 Jahren nahezu konstant geblieben ist, Nur etwa vier Prozent Ägyptens, die Nilniederung, sind Kulturland. 96 Prozent dagegen Wüste. Auf den fruchtbaren knapp 40 000 Quadratkilometern. einem Gebiet kaum größer als Belgien (zehn Millionen Einwohner), drängen sich heute über 40 Millionen Menschen.

Der Assuan-Damm brachte zwar Neuland. dafür verlor der Boden durch Ausbleiben des Nilschlamms an Fruchtbarkeit. Die Städte weiten sich auf Kosten des Kulturlands aus.

»Ägyptens Zukunft liegt in der Wüste«, versucht Staatschef Sadat seinen Landeskindern einzuhämmern, mit bisher mäßigem Erfolg. Fast ausschließlich auf die persönliche Initiative Sadats ist die Gründung von vier neuen Stadtanlagen in der Wüste zurückzuführen. Wäre die Wohnungsnot nicht so bedrückend, hätte Sadats Aufruf vom »Marsch in die Wüste, sicher noch weniger Gehör gefunden.

In der »Stadt des zehnten Ramadan«, auf halber Strecke zwischen Kairo und Ismailia, stehen bereits die ersten bezugsreifen Wohnblocks. hier soll in wenigen Jahren eine halbe Million Menschen leben.

Eine weitere Million Ägypter wird in die »Medinat el-Sadat« (Sadat-Stadt) ziehen, die zu beiden Seiten der Wüstenstraße zwischen Kairo und Alexandria entsteht, im Amirija-Distrikt im Südwesten von Alexandria sollen einmal zwei Millionen Ägypter leben. Über hunderttausend Kairoer haben bereits in der auf Wüstenboden entstandenen Trabantenstadt Nasr-City Quartier bezogen.

»Aber ohne eine entscheidende Verminderung der Geburtenrate wird uns selbst die Bewässerung aller ägyptischen Wüsten nicht weiterbringen, warnte ein Beamter des Ministeriums Für neue Gemeinden.

Da hilft wieder mal nur Amerika. 15 amerikanische Wirtschaftsmagnaten arbeiteten einen noch unveröffentlichten Plan für die vom Rais verlangte »Ernährungs-Absicherung aus, der Ägypten jährlich wachsende Mengen Weizen bescheren soll.

Da die ägyptischen Importe aus den USA du, eh langfristige Billigstkredite beglichen werden, belasten sie den Staatshaushalt vorerst nicht.

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