ZEITGESCHICHTE Das vergessene Geheimnis
Wansleben am See ist eines dieser Dörfer, die hinter dem Autofenster vorbeirauschen, ohne Spuren im Gedächtnis zu hinterlassen: ein paar grauverputzte Bergarbeiterhäuser, eine Geflügelfarm, eine Kneipe direkt neben dem Friedhof - tiefste sachsen-anhaltische Provinz, eingeklemmt zwischen Vergangenheit und Zukunft. Selbst der See, den der Ortsname verspricht, ist verschwunden. Vor Ewigkeiten leer gepumpt, einfach weg. So wie die Kali-Kombinate, in denen sie zu DDR-Zeiten das Salz aus der Mansfelder Erde kratzten.
Kaum etwas hier erinnert an die deutsche Geschichte, die einst im Gleichschritt durch die Dorfstraßen marschierte: Die Spur des »Tausendjährigen Reiches« verliert sich in Wansleben auf einem staubigen Feldweg am Ortsrand, der zu einer von Brombeergestrüpp überwucherten Industriebrache führt. Hier, zwischen Bauschutt, Backsteintrümmern und Lkw-Reifen, ruht die Vergangenheit in 380 Meter Tiefe, begraben unter einem monströsen achteckigen Deckel aus Stahlbeton.
Die tonnenschwere Platte verschließt den alten »Georgischacht« - einstmals Einstieg in ein unterirdisches Labyrinth aus kilometerlangen Stollen, Gängen und Kammern - und birgt das dunkelste Kapitel der Dorfgeschichte. Von Öffentlichkeit und historischer Forschung weitgehend vergessen, war hier ein kaum bekanntes Konzentrationslager untergebracht - eines jener berüchtigten Außenlager des KZ Buchenwald, in denen noch kurz vor Zusammenbruch des Nazi-Regimes Tausende Häftlinge in der Rüstungsproduktion zu Tode geschunden wurden. Das Vergessen ist bis heute total, kein Gedenkstein, nicht einmal eine Hinweistafel erinnert auf dem Gelände an die unselige Vergangenheit der tristen Scholle.
Wenn jetzt, 60 Jahre nach Kriegsende, Licht in die Schatten der zubetonierten Mine kommt, ist das vor allem dem Eifer eines pensionierten Steigers aus Halle an der Saale zu verdanken: Bei Recherchen für eine Bergbau-Chronik war Horst Bringezu, 68, zwischen vergilbten Bergkarten, Risszeichnungen und Lageplänen alter Salzstollen auf bislang unbekannte Unterlagen über das vergessene KZ gestoßen.
Die Quellenlage zum Lager Wansleben, dessen »Arbeitskommandos« Codenamen wie »Wilhelm« oder »Biber II« trugen, ist bisher eher dürftig: Überliefert sind nur wenige Aktenfragmente des »SS-Führungsstabes A6«, der das KZ 1944 aufgebaut hatte, Anforderungslisten für die »Neuzuweisung von Häftlingen« sowie Randbemerkungen in den Gerichtsunterlagen der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse.
An einer umfassenden historischen Aufarbeitung der Lagergeschichte war offenbar nie wirklich jemand interessiert - weder die 104. US-Infanteriedivision, die das
Lager im April 1945 befreit hatte, noch die Besatzungstruppen der Sowjetarmee, die elf Wochen später folgten. Das Mahnmal mit den eingravierten Namen der deutschen Konzentrationslager, das die Russen 1946 auf dem Wanslebener Dorfplatz aufstellen ließen, war eher Ausdruck ritueller Empörung und weist nur mit einem Wort auf das am Ortsrand gelegene Lager hin.
Auch die offiziellen Stellen des deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staats, der seinen Bürgern von Staats wegen den Antifaschismus verordnet hatte, hielten ihr Wissen über das einstige KZ in der volkseigenen Erde unter Verschluss: Sie beließen es dabei, gelegentlich lokale Abordnungen der Freien Deutschen Jugend zur pflichtgemäßen Erinnerung am Denkmal aufmarschieren zu lassen.
Der Aktenfund von Ex-Bergmann Bringezu könnte jetzt dazu beitragen, das kollektive Vergessen zu beenden. Dem historischen Autodidakten half absurderweise die klandestine Dokumentationswut des einstigen DDR-Ministeriums für Staatssicherheit (MfS).
In den Archiven der Birthler-Behörde stieß der frühere Steiger auf Unterlagen über eine strenggeheime Stasi-Operation (Codename: »Licht"), die dem Aufspüren versteckter Schätze aus der NS-Zeit dienen sollte (SPIEGEL 51/1997). Obwohl das MfS auch jahrelang Material über das KZ Wansleben - Vernehmungsprotokolle von Zeitzeugen, geheime Korrespondenz von Rüstungsfirmen, Totenscheine und Verbrennungslisten mit den Namen von Gefangenen - sammelte, hatten die Sicherheitsorgane der DDR für die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Terrorherrschaft in diesem Fall wenig übrig. Sie konzentrierten sich auf die verborgenen Schätze, die sie in den Salzkammern vermuteten - und die gegen Valuta in den Westen verkauft werden sollten.
Die von Bringezu entdeckten Stasi-Dossiers ermöglichen nun erstmals detaillierte Einblicke in die Geschichte des seltsamen Bergwerks. 1926 wurde es stillgelegt, in der Nazi-Zeit diente es erst als Versteck für Kunstschätze, dann als getarnte Waffenschmiede für die Wehrmacht und als unterirdisches Konzentrationslager, in dem wohl Hunderte Gefangene den Tod fanden.
Das verzweigte Kammernsystem zwischen den Schächten Georgi und Neu-Mansfeld geriet spätestens 1962 in das Visier der Genossen Schatzsucher. Am 11. Januar jenes Jahres berichtete der »Geheime Informator ,Tiger'« der MfS-Kreisdienststelle Halle (Saale), dass in den demontierten Stollen »bis 1945 eine Unterabteilung eines unbekannten Konzentrationslagers untergebracht war«. Die dort internierten Häftlinge seien bis zum »Zusammenbruch Hitler-Deutschlands ständig unter Tage untergebracht« gewesen und hätten in riesigen Werkhallen unter anderem »Flugzeugteile für Kampfflugzeuge« montieren müssen.
Nach 1945 seien dann nur die Produktionsmaschinen »von den sowjetischen Freunden ausgefahren« worden; »sämtliche anderen Materialien«, so »Tiger«, müssten noch immer im Innern des Bergwerks zu finden sein: darunter hochwertige Metalle sowie Geheimakten, Kunstwerke und wertvolle Schriftstücke.
Tatsächlich hatte die Grube im »Dritten Reich« zunächst als Schatzbunker gedient: Nach dem Beginn der alliierten Luftangriffe auf deutsche Großstädte hatte die hallesche Leopoldina, die älteste naturwissenschaftliche Akademie Deutschlands, im Sommer 1943 eilig nach einem bombensicheren Lager für die Kostbarkeiten ihrer Bibliothek gesucht. 18 Kilometer westlich von Halle, in der stillgelegten Kali-Grube, waren die Wissenschaftler fündig geworden: Von Oktober 1943 an, so geht aus alten Transportlisten hervor, waren im Laufe der Wochen 14 schwerbeladene Möbelwagen von Halle nach Wansleben aufgebrochen und hatten insgesamt 524 Kisten und 4660 Pakete für das Depot in den Tiefen des Georgischachts angeliefert; darin 6902 wertvolle Bücher, einzigartige Handschriften, Inkunabeln und Goethe-Briefe sowie wissenschaftliche Tagebücher und mehrere Privatarchive von Gelehrten. Am 25. November 1943 hatte schließlich noch Punkt 8.35 Uhr ein weiterer Lkw mit 13 jahrhundertealten Ölgemälden der Leopoldina das Grubengelände erreicht.
Versteckt in den Salzstöcken, in denen günstige Klima- und Luftfeuchtigkeitsverhältnisse für das empfindliche Bergungsgut herrschten, waren die Schätze sicher - wenn auch nur für wenige Monate. Denn die Kali-Grube hatte bereits das Interesse höherer Stellen geweckt: Seit die britische Royal Air Force Angriffe auf die deutsche »Raketenversuchsanstalt« in Peenemünde flog, waren die Oberen der Nazi-Rüstungsindustrie hektisch auf der Suche nach neuen, unterirdischen Produktionsstätten für die »Geheimwaffen des Führers«. Mehrere »Sonderkommandos« inspizierten deshalb im Auftrag des Wirtschafts-Verwaltungs-Hauptamtes der SS im ganzen Reich geeigneten Untergrund.
Der Wanslebener Grubenkomplex schien den Kriegsproduzenten ideal - und wurde Anfang 1944 unter SS-Kommando gestellt. Im April verlegte Himmler einen »Führungsstab« mit dem Decknamen »A 6« nach Wansleben, der Quartier neben dem Eingang zur alten Georgi-Mine bezog und die Waffenproduktion unter Tage vorbereiten sollte. Hunderte KZ-Häftlinge aus Buchenwald und anderen Konzentrationslagern wurden nach Wansleben deportiert, wo sie neue Stollen und Schächte in den Berg hauen und Werkhallen für den Endsieg bauen mussten.
Die ausgelagerten Leopoldina-Archive mussten schon bald der Rüstungsproduktion weichen - und wurden eilig innerhalb des Berges in andere Kammern umgelagert. Als neue Herren der Mine fungierten dann ab Mitte 1944 - neben der SS - mehrere Firmen aus Leipzig, Rochlitz oder Prenzlau, die ein Konsortium namens »Kriegsbetriebsgemeinschaft Kali-Werk Georgi« bildeten und im Auftrag des Reichsluftfahrtministeriums vor allem Granatzünder, hydraulische Pumpen für Jagdflugzeuge, Triebwerke und offenbar auch
Elemente für Fernlenkwaffen des Typs »V1« und »V2« produzieren sollten.
Für die Ausschachtung der insgesamt rund 60 Produktionshallen - die größte war 69 Meter lang, 22 Meter breit und bis zu 10 Meter hoch - war ein »Bautrupp« zuständig, ein Kommando aus bis zu 600 KZ-Häftlingen, das in den Einsatzplänen der SS unter dem Decknamen »Wilhelm« geführt wurde. Die »Produktionsgruppen« dagegen firmierten unter den Codebezeichnungen »Biber I« oder »Biber II« und umfassten insgesamt bis zu 2000 Häftlinge.
Hinter den unverfänglichen Codenamen verbarg sich das menschenverachtende »Wirtschaftskonzept« des deutschen KZ-Systems und seiner Profiteure: Statt zielgerichteter, schnellstmöglicher »Vernichtung« sollte aus den Gefangenen in Wansleben ein Maximum an Arbeitsleistung herausgeholt werden. Zwecks Steigerung der Produktivität ließ die Lagerleitung deshalb in anderen KZ wie Auschwitz oder Sachsenhausen »Spezialisten« wie Mechaniker, Dreher, Ingenieure oder Schlosser rekrutieren, die in stetiger Folge per Viehwaggon zu ihrem neuen Einsatzort gebracht wurden.
Wie die Ausbeutungsmaxime von den Lagerbetreibern konkret umgesetzt wurde, geht aus zahlreichen detaillierten Beschreibungen ehemaliger Häftlinge hervor, die Rechercheur Bringezu jetzt in den Stasi-Archiven entdeckte. Die Dokumente stammen größtenteils aus den siebziger Jahren, aus einem Briefwechsel zwischen KZ-Überlebenden und Schülern der Forschungsgemeinschaft »Junge Historiker« der Polytechnischen Oberschule Hans Beimler in Wansleben. Die AG befasste sich seinerzeit mit der »Erforschung der Geschichte des ehemaligen Konzentrationslagers« und wurde offenbar jahrelang von der Staatssicherheit überwacht.
Heute sind die vom MfS angefertigten Kopien die einzigen überlieferten Dokumente jener Briefaktion - die Originale wurden nach der Wende von der damaligen Schulleitung, angeblich versehentlich, verbrannt.
Auf erschütternde Weise beschreiben die früheren Gefangenen in ihren Briefen den Lageralltag im unterirdischen KZ: In den Maschinenhallen, so erinnert sich etwa der Pole Karol Zeglicki (Häftlings-Nr. 96 548), hätten Temperaturen von bis zu 55 Grad Celsius geherrscht; viele Häftlinge seien aufgrund von Wassermangel und vor Erschöpfung bewusstlos geworden, ihre Körper seien »geschwollen« gewesen, mit »offenen Wunden«.
Das Rohmaterial für die Rüstungsproduktion muss zum Teil auch aus von der Wehrmacht geplünderten Kirchen gekommen sein. So erinnert sich Ex-Häftling Zeglicki an »mehrere Waggons Buntmetall-Schrott«, der auf dem KZ-Gelände lagerte, »darunter Kruzifixe, Kandelaber, Kelche, Leuchter, Kerzenhalter und ähnliche Gegenstände des religiösen Kultus«.
In 15-Stunden-Schichten hätten die Häftlinge, ständig vom SS-Personal schikaniert und ohne ausreichende Nahrung, bis zur totalen Erschöpfung schuften müssen. »Verwundete, geschwollene und zusammengeschlagene Häftlinge«, so Zeglicki, habe die SS dann »zweimal in der Woche nach Buchenwald« abtransportiert - mit ungewissem Schicksal.
Ein anderer früherer Insasse, der Tscheche Franz Kalas (Häftlings-Nr. 31 512), schilderte eine Exekution, bei der ein Franzose und zwei Russen nach einem Fluchtversuch in einer Werkhalle gehängt wurden. Alle Häftlinge hätten »einzeln, einer nach dem anderen, an den gehängten Kameraden vorbeimarschieren« müssen.
Ab Januar 1945 rückten die alliierten Verbände langsam näher. Damals seien, so erinnerten sich die Ex-Häftlinge, immer wieder Transporte mit ominösen Kisten in Wansleben eingetroffen, die von den Nazis eilig und unter strengster Geheimhaltung in den Schacht gefahren worden seien. »Für diese Zeit«, so Zeuge Zeglicki, »wurde Lagersperre verhängt - wenn ein Häftling aus dem Fenster schaute, wurde auf ihn geschossen.« Obwohl die Gefangenen in den Gruben heimlich nach den »solid gebauten« Holzcontainern von ungefähr 0,6 mal 0,6 mal 2 Metern gesucht hätten, sei »niemand auf die Spur derselben« gekommen. Auch was sie enthielten, schreibt der Ex-Häftling, habe man »nie erfahren«.
Im Frühjahr 1945 erwog die SS offenbar, den ganzen Schacht mit den Gefangenen zu sprengen. Alle hätten befürchtet, erinnert sich ein Häftling, sie würden »unter Tausenden Tonnen Gestein und Erde begraben« und »niemand würde später in dieses Trümmerfeld vordringen«.
Doch um den 9. April herum ließen die Nazi-Schergen alle Zwangsarbeiter, die sich noch halbwegs auf den Beinen halten konnten, antreten und zu Todesmärschen in Richtung Dessau und Schönebeck bei Magdeburg aufbrechen. Wer nicht mehr weiterkonnte, wurde am Ende der Marschkolonne erschossen und in den Fluss geworfen.
Bis heute ist nicht bekannt, wie viele der 1384 Wanslebener Häftlinge, die das Gefangenenbuch des Hauptlagers Buchenwald für den 10. April 1945 ausweist, die Qualen überlebt haben.
Die Kranken wurden in den Baracken zurückgelassen. Den Befreiern der U. S. Army, die das Kali-Werk am 14. April erreichten, bot sich ein Bild, das die Zeitzeugin Herta Römhold, die sich um die KZ-Opfer kümmerte, vor Schreck erstarren ließ: »Lebende und Tote, alles durcheinander. Elend, Elend, überall wohin man blickte.«
In den Stasi-Dossiers, die Hobby-Historiker Bringezu in den Birthler-Archiven entdeckte, steht wenig über das Ende des Konzentrationslagers Wansleben. Überliefert ist, dass die amerikanischen
Befreier zunächst Lazarette einrichteten und die Überlebenden medizinisch versorgten. Für die im Salz versteckten Pretiosen dagegen schienen sie sich weniger zu interessieren: In den MfS-Akten jedenfalls finden sich keine Hinweise auf größere Suchaktionen der U. S. Army im Wanslebener Salzberg; lediglich »Büromöbel« aus den Verwaltungsgebäuden seien damals konfisziert worden.
Im Wettlauf mit der 4. Garde-Panzerarmee der 1. Ukrainischen Front, die das Gebiet um Wansleben Anfang Juli 1945 erreichte, konzentrierten sich die Agenten der amerikanischen Nachrichtendienste mehr auf das knapp 70 Kilometer entfernte KZ Dora-Mittelbau bei Nordhausen, aus dem sie Bauteile, Konstruktionspläne und Maschinen des dortigen V-Waffen-Programms bargen. Oder auf den Schatz der Quedlinburger Stiftskirche in der nahe gelegenen Steinkohle-Grube »Glückauf« oder die »Reichsbriefmarkensammlung« in einem Schacht bei Eisleben.
Die Sowjetarmee dagegen stieg in Wansleben immer wieder in die Tiefe der alten Salzstollen: Bald entdeckten die Suchtrupps der Trophäenbrigaden den größten Teil der kostbaren Leopoldina-Bibliothek - und transportierten ihn im Frühjahr 1946 über Berlin gen Osten ab. Sowjetische Offiziere hatten danach noch zwei Jahre lang das Kommando über die Schächte Georgi und Neu-Mansfeld - und ließen demontieren, was nicht niet- und nagelfest war, vor allem die Produktionsanlagen der Rüstungsindustrie, Generatoren, Pumpsysteme und Drehbänke mitsamt halbfertigen Waffenteilen und Unmengen von Rohmaterial.
Nach Gründung der DDR wurden die beiden stillgelegten Kali-Gruben in das volkseigene Kombinat »Kaliwerk Deutschland« integriert, das fortan für die geologische Sicherheit der verlassenen Schächte zuständig war. Nur gelegentlich wurde das verlassene Stollensystem nun von Bergleuten aus Teutschenthal kontrolliert - bis sich die Stasi Anfang der sechziger Jahre im Rahmen der »Aktion ,Licht'« wieder für »alte Heeresschächte« interessierte. Befehlsgemäß machten sich die Geheimdienstler auf die Spur der Pretiosen, die einst im Berg lagerten: Die Leopoldina-Bibliothek, das war schnell klar, war größtenteils in der Sowjetunion gelandet. Aber der Rest? Wo waren die ominösen Kisten geblieben? Was war aus den mit Salzgestein vermauerten Kammern geworden, was aus den Ölgemälden?
Nach umfangreichen Vernehmungen vermerkte die Stasi im September 1965, dass es sich bei den »noch kurz vor Kriegsschluss« erfolgten »umfangreichen Einlagerungen« auch um »Meißner Porzellan und Skulpturen« gehandelt haben könnte.
Eine frühere Schreibkraft, die nach Erkenntnissen der SED-Schatzsucher »engen Kontakt« zu einem SS-Mann gepflegt hatte, gab zu Protokoll, dass ihr damaliger Freund sie im November 1944 zweimal heimlich mit in die Schachtanlage genommen hätte. Dort, so die Sekretärin, habe er ihr dann »etwas ganz Besonderes« gezeigt: »einen Abbau, welcher voll mit Ölgemälden aller Größen gestellt war«.
Handelte es sich dabei etwa um das 1677 entstandene Porträt des Grafen Montecuccoli? Oder die wertvolle Ahnengalerie der Protektoren der Leopoldina aus dem 17. und 18. Jahrhundert?
Auch ein Oberfeldwebel Meyer, vor seiner Zeit bei der Stasi als Fahrer im Kaliwerk tätig, berichtete seinen Vorgesetzten aus den Tiefen des Berges. Unterhalb der 300-Meter-Sohle hätte er einen »üblen Geruch« bemerkt, der nach Ansicht der Bergleute aus alten Abbauen stammte, in denen »die Leichen der ehemaligen Häftlinge mit Versatz vermauert« seien.
Derartige Informationen wurden vom MfS mit äußerster Diskretion behandelt. Genau wie die »Häftlingskarteikarte eines etwa 14-15-jährigen Kindes, vermutlich jüdischer Abstammung«, die Meyer auf einem Aktenstapel in einer zugemauerten Salzkammer entdeckt und heimlich eingesteckt hatte.
Nach strenggeheimen Vorbereitungen schickte das Ministerium für Staatssicherheit am 26. Januar 1962 eine elfköpfige Expedition in den Georgischacht. Geborgen wurden lediglich fünf Säcke mit vergilbten Akten der SS. Die Herkunft des Verwesungsgeruchs konnte nicht geklärt werden - und auch die 13 Ölgemälde blieben verschwunden, genau wie eine Vielzahl unschätzbar wertvoller Bücher; darunter eine Paracelsus-Ausgabe von 1589 sowie ein 1543 entstandener Anatomie-Atlas von Andreas Vesalius oder die »Epitome astronomiae copernicae« des Astronomen Johannes Kepler.
Nur ein geringer Teil der alten Bücher tauchte später wieder auf - in Bibliotheken in Tallinn (Estland) und in Georgien. Sie wurden im Lauf der Jahre von den Russen zurückgegeben. Nach Schätzungen von Jochen Thamm, Leiter der Leopoldina-Bibliothek, werden aber »noch immer 99 Prozent der Bestände« vermisst.
Die Spur der Gemälde jedoch verliert sich im Dunkel der Salzstollen: 1966 wurden die Schächte Georgi und Neu-Mansfeld zubetoniert - und mit ihnen alle offenen Fragen.
Bis heute weiß niemand in Wansleben, welche Schätze womöglich unter der Erde noch lagern. Die damals mit Salzgestein vermauerten unterirdischen Kammern sind im Lauf der Jahre durch die Feuchtigkeit so glatt gewaschen, dass die Eingänge wie ganz natürliche Wände wirken. Nur mit aufwendigen Bohrungen könnte Gewissheit geschaffen werden.
In der Region gibt es derzeit Überlegungen, eine Touristenattraktion mit geringeren finanziellen Mitteln zu schaffen: Einige dort wollen den verschwundenen »Salzigen See« wieder fluten. SVEN RÖBEL,
NICO WINGERT