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EUROPA »Das war ein Abstaubertor«

Martin Schulz, Chef der sozialdemokratischen Fraktion im EU-Parlament, über seine Ablehnung des EU-Budgetentwurfs und die Rolle von Kanzlerin Merkel bei der Kompromissfindung
aus DER SPIEGEL 3/2006

SPIEGEL: Herr Schulz, das Europäische Parlament soll diese Woche über den Haushaltsentwurf der Staats- und Regierungschefs abstimmen. Wird es ja sagen?

Schulz: Nein, das Parlament wird den Kompromiss stoppen. Ich selbst empfehle der sozialdemokratischen Fraktion die Ablehnung, und auch bei den Christdemokraten und Konservativen ist der Widerstand groß, bei den Linken und den Grünen ohnehin.

SPIEGEL: Warum?

Schulz: Weil der Vorschlag völlig unzureichend ist und den politischen Zielen, die sich die EU vorgenommen hat, in keiner Form gerecht wird. Die Staats- und Regierungschefs wollten eigentlich Forschung, Infrastruktur und die ländlichen Regionen fördern, aber mit dem vorliegenden Finanzpaket werden ausgerechnet diese Posten gekürzt. Die Agrarausgaben wurden nicht abgesenkt, und der Briten-Rabatt steigt weiter - nur nicht ganz so schnell wie geplant. Soll das ein Erfolg sein?

SPIEGEL: Im Dezember in Brüssel haben noch alle gejubelt.

Schulz: Das kann ich nicht nachvollziehen, es sei denn, die Staats- und Regierungschefs waren froh, dass sie sich überhaupt mal auf etwas geeinigt haben.

SPIEGEL: Vor allem die Kanzlerin wurde als geschickte Vermittlerin gepriesen.

Schulz: Das war ein Abstaubertor von Frau Merkel. Die Kompromisse waren von anderen vorbereitet worden, von Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker und von ihrem Amtsvorgänger Gerhard Schröder. Sie ist zu einem Club von Leuten gestoßen, die sich schon seit Jahren belauern. Wenn man da als Neuling dazustößt, wirkt man schon deshalb sympathisch, weil man bisher nicht dabei war.

SPIEGEL: Provozieren Sie mit Ihrer Haltung nicht eine erneute Krise der EU?

Schulz: Nein! Verantwortlich für die Krise sind diejenigen, die mit Scheinkompromissen notwendige Lösungen immer weiter verschieben. Wer einen solchen Deal ablehnt wie wir, schafft Raum für Lösungen. Der jetzige Entwurf trägt eher den Charakter eines Basars als den einer Rechtsgemeinschaft.

SPIEGEL: Das sehen die Staats- und Regierungschefs offenkundig anders.

Schulz: Kann ja sein. Aber dieser Etat ist nichts als der kleinste gemeinsame Nenner der Staats- und Regierungschefs, damit jeder zu Hause einen kleinen Erfolg vermelden kann. Die Zukunft Europas ist dabei auf der Strecke geblieben. Wir fördern mit diesem Haushalt den Rübenanbau und die Tabakpflanzungen, aber nicht die Technologien, die Europa im globalen Wettbewerb braucht.

SPIEGEL: Schröder und sein Außenminister Joschka Fischer hätten dem Brüsseler Deal auch zugestimmt, wenn sie ihn hinbekommen hätten.

Schulz: Das ist ein Irrtum. Sie hätten das nicht getan, sondern den alten Kompromiss vom Sommer bewahrt, der höhere Ausgaben vorsah. Sie wussten, dass die Deutschen als gute Europäer und im eigenen Interesse nicht nur darauf fixiert sein dürfen, wie viel Geld sie netto nach Brüssel überweisen, sondern auch darauf achten müssen, dass die EU genug Geld für die notwendigen Aufgaben bekommt.

SPIEGEL: Sie kritisieren mit Ihrem Votum also auch die bislang wichtigste außenpolitische Leistung der neuen Regierung?

Schulz: Ich bin Chef einer 200-köpfigen, multinationalen Parlamentsfraktion, und diese verhandelt nicht mit Einzelstaaten, sondern mit dem Rat der 25 Regierungen. Dies ist ein völlig normaler Vorgang der europäischen Demokratie. Der Rat wird derzeit seinen Aufgaben nicht gerecht, was aber weniger an Berlin, sondern mehr an Paris, London und vor allem Den Haag liegt.

SPIEGEL: Auch Länderfürsten, wie der brandenburgische SPD-Ministerpräsident Matthias Platzeck, sind nicht begeistert von dem EU-Etat, der die Förderung der neuen Länder empfindlich reduziert. Können Sie auf die Unterstützung Ihres Parteichefs zählen?

Schulz: Ich habe meine Position im SPD-Präsidium vorgetragen. Der Parteivorsitzende wird abwarten, wie die Verhandlungen zwischen Parlament und EU-Rat verlaufen. Aber für konstruktive Lösungen ist er immer zu haben.

SPIEGEL: Also werden auch die deutschen Sozialdemokraten diese Woche in Straßburg nein sagen?

Schulz: Ja, vermutlich einstimmig - und zwar im Interesse der EU und der Bundesrepublik Deutschland.

SPIEGEL: Wie weit wollen Sie die Gesamtausgaben erhöhen, die Agrarausgaben senken oder den Briten-Rabatt kürzen?

Schulz: Es geht uns nicht einfach darum, mehr Geld auszugeben. Wir fordern eine andere Struktur der Ausgaben, eine Umschichtung von unsinnigen Agrarsubventionen zu Bildung, Forschung und Beschäftigung. Dazu wollen wir mit dem Rat Verhandlungen aufnehmen.

SPIEGEL: Was passiert, wenn der Rat stur bleibt?

Schulz: Dann wird das ganze Finanzpaket zerbröseln, das jetzt Ausgaben in Höhe von 1,045 Prozent des Bruttoinlandprodukts vorsieht. Grundlage für die weiteren Etats der EU wäre dann der letzte reguläre Jahreshaushalt vom November, der einen höheren Ausgabenrahmen von 1,08 Prozent vorsah. Das heißt: Wenn sie sich mit uns nicht einigen, wird es für die Finanzminister teurer.

INTERVIEW: RALF BESTE, HORAND KNAUP

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