»Das Zeug hat mich wild gemacht«
Nach genau 19,58 Metern prallte die Kugel auf die Gummimatten in der Sindelfinger Sporthalle: Der stämmige Kornwestheimer Kugelstoßer Kalman Konya war bei den Deutschen Hallenmeisterschaften in Führung gegangen. Kaum hatten die Fernsehkameras das vor Freude hüpfende Energiebündel eingefangen, entrollte er blitzschnell ein Transparent: »Konya gehört in den A-Kader!«
Kalman Konya, bis zum Februar zweitklassig gefördert, will endlich den verdienten Lohn für seine Quälerei einstreichen. Stetig hatte er seine Bestleistung gesteigert. Im letzten Jahr schon, bei der Studentenweltmeisterschaft, war er zur Überraschung aller Fachleute Dritter geworden.
Die Kraft des erstaunlichen Schwaben mit dem ungarischen Namen stammt nicht allein vom fleißigen Training. Der 28jährige gehört zu jenen Athleten, die sich heimlich an der verbotenen hormonellen Muskelmast beteiligen - Kalman Konya hat sich über Jahre hinweg mit Anabolika gedopt.
Der Beweis lagert still im Institut für Sport und Sportwissenschaften der Universität Heidelberg. Die Magisterarbeit mit dem unverfänglichen Titel »Relevanz und Entwicklung ausgewählter Kraftparameter bei Kugelstoßern der nationalen Klasse« liegt unter Verschluß. Die wissenschaftliche Studie, vorgelegt im März 1989 von Norbert Wolf, trägt einen Aufkleber mit dem ausdrücklichen Vermerk »Nicht auszuleihen - ohne Ausnahme«.
Was auf jeden Fall geheimgehalten werden soll, steht in der »Anlage 3«, die sich mit der »Problematik Anabolika« befaßt. Darin wird wissenschaftlich nüchtern der Anabolika-Verbrauch von gleich drei Kugelstoßern aufgeführt und mit klinischen Analysen dokumentiert: *___Kalman Konya schluckte 1988 eine Tageshöchstdosis von ____etwa 25 bis 30 Milligramm »Stromba, oral, und andere ____Präparate«. Die durchschnittliche Dosierung an den ____Tagen der Anabolika-Einnahme betrug etwa 15 bis 18 ____Milligramm. *___Claus-Dieter Föhrenbach, Deutscher Meister 1983, griff ____in den letzten Jahren am Tag zu maximal 25 Milligramm ____"Stromba, oral«. Sein Durchschnitt lag bei 15 bis 16 ____Milligramm. *___Der Schweizer Weltmeister Werner Günthör wies 1988, dem ____Jahr, in dem er in Seoul Olympiadritter wurde, eine ____durchschnittliche Dosierung von etwa 12 bis 15 ____Milligramm auf.
Die geheimgehaltene Arbeit belegt die Dreistigkeit, mit der im deutschen Sport gedopt wird. Auch im Jahr nach dem Tod der mit Medikamenten vollgepumpten Birgit Dressel, damals von zungenfertigen Funktionären zum bedauerlichen Betriebsunfall heruntergeredet, spritzte und schluckte in Wahrheit nahezu jeder bessere Sportler der Republik.
Die Studie stellt fest, daß es »wohl nur noch wenige Sportarten gibt, wo neben anderen motorischen Eigenschaften die Kraft entscheidend ist, in welcher kein Anabolika-Abusus herrscht«.
Daß Ben Johnson in Seoul erwischt wurde, daß jüngst nach dem Fall der Mauer das raffinierte und flächendeckende Doping in der DDR (SPIEGEL 11, 12/1990) beweisbar wurde, daß Gewichtheber aus fernen Ostblockstaaten still aus dem Sportverkehr verschwanden, war bedauerlich, aber es tangierte nicht die Bundesrepublik. Hierzulande blieb das Tabu bestehen. Kommentare zum DDR-Doping ringen sich die beteiligten Heuchler mit gespieltem Desinteresse ab.
»Nichts Neues« mochte etwa der vermeintliche oberste Dopingjäger der Republik, der Kölner Professor Manfred Donike, erkennen. Und Hans Hansen, der Präsident des Deutschen Sportbundes, fand die Formulierung, die nichts zugibt und zugleich nichts abstreitet: Ihn könne in Sachen Doping »gar nichts mehr erschrecken«. Willi Daume, Präsident des Nationalen Olympischen Komitees und einflußreichster Mann der bundesdeutschen Sportszene, verhielt sich wie immer. Er nannte Doping »die moderne Geißel« und tat so, als würden nur die westdeutschen Athleten von der Plage nicht heimgesucht.
Keine Reaktion gab es auch, als der Hochspringer Carlo Thränhardt enthüllte, seine private Umfrage innerhalb des Nationalkaders der Leichtathleten habe ergeben, daß »über die Hälfte der Sportler gedopt« sei. Und als, im Herbst letzten Jahres, der Trierer Gewichtheber Jürgen Hofmann des Dopings überführt wurde, fand Verbandsarzt Bernd Dörr ganz schnell den »Kunstfehler« heraus: Bei Hofmann seien aus Versehen »die Spritzen verwechselt« worden, er habe »anstatt einer Vitaminspritze eine mit Anabolika-Anteilen« bekommen.
Nur das damalige SED-Zentralorgan Neues Deutschland höhnte, es sei »aufschlußreich«, daß in der BRD die Spritzen »so dicht beieinanderliegen«. Hierzulande wurde der peinliche Zwischenfall klein gehalten. Bild, dem Doping in der DDR einige Serien wert gewesen war, begnügte sich mit 30 Worten.
Die Allianz des Schweigens hat ihren Grund. Der Spitzensport hat sich zu einem prosperierenden Geschäftszweig entwickelt. Die Industrie investiert allein in der Bundesrepublik jährlich eine Milliarde Mark in die Werbung mit dem Sport, den Fernsehgesellschaften sind die TV-Senderechte beinahe 100 Millionen Mark wert.
Selbst das Bundesinnenministerium, in diesem Jahr mit 71,5 Millionen Mark an der Sportfinanzierung beteiligt, will für die Steuergelder vor allem Gold, Silber und Bronze sehen. Bei Niederlagen werden die Zuschüsse prompt gekürzt.
Da werden vor allem Sieger gebraucht. Wie die Helden ihre Rekorde schaffen, ist hingegen weniger interessant. So wie beim Auto die Umweltverträglichkeit hinter dem PS-Wahn zurücksteht, wird auch von den Athleten vor allem Leistung gefordert. Die Maxime ist gnadenlos: höher, schneller, weiter - bis die Sehne reißt, die Niere versagt oder die Leber vom Tumor zerrissen ist.
Als wären die Sportler noch wirklich frei in ihrer Entscheidung für oder gegen Spritze und Pille, hat die Frankfurter Allgemeine für den Westen den Begriff des »demokratischen Dopings« geprägt. Das insinuiert so trefflich eine weitaus harmlosere Variante als bei den zentralistischen Manipulationssystemen des Ostblocks.
Tatsächlich aber funktioniert das Doping im Kapitalismus nur deshalb so verblüffend reibungslos, weil auch hier schon seit Jahren Hinter- und Dunkelmänner konsequent Regie führen: Funktionäre und Sportmediziner. Die Doktoren übernahmen dabei frühzeitig eine Doppelrolle. Öffentlich bestritten sie die schädigenden Nebenwirkungen der Anabolika-Einnahme, heimlich wurden sie gar zu Dopinghelfern.
Als die Heidelberger Diskuswerferin Brigitte Berendonk schon vor Jahren auf die zunehmenden Anabolika-Manipulationen hinwies und Trainingskontrollen forderte, wurde sie vom Freiburger Professor Josef Keul als medizinischer Laie abgebürstet: »Jeder, der einen muskulösen Körper haben will, kann Anabolika einnehmen.«
Daß die Hormonpillen bekömmlich sind, behaupten heute noch manche Sportler. Dabei ist mindestens seit gut 30 Jahren klar, daß Anabolika schädlich, im schlimmsten Fall tödlich sind. Das gilt besonders für die Auswirkungen auf Leber und Blutgefäße.
1958 hatte eine Forschergruppe der Universität Oklahoma festgestellt, daß bei Einnahme anaboler Hormone jene Eiweißstoffe mit Namen HDL im Körper verschwinden, die Blutfette binden - was im Extremfall bis hin zum Herzinfarkt führt.
Aber erst als 1984 die ersten amerikanischen und finnischen Sportmediziner von demselben Effekt berichteten, wurde es hektisch. Jeder Sportmediziner, der etwas auf sich hielt, wollte nun bei * Sehling, Pollert, Hackfort: »Doping im Sport«. BLV Verlag, München; 152 Seiten; 19,80 Mark. der Wende in der Nebenwirkungsdiskussion dabeisein, auch Keul.
In der Fachzeitschrift Fortschritte der Medizin beschrieb Steffi Grafs Arzt, dem gerade das Bundesverdienstkreuz verliehen wurde, das Schicksal eines 29jährigen Bodybuilders, der schließlich überhaupt kein HDL mehr im Blut hatte und an einem Herzinfarkt verstarb - er hatte die von Keul einst gelobten Anabolika geschluckt.
Aber das Geld ist stärker als alle Vernunft. Funktionäre und Ärzte warnen nur zur Tarnung, die Dopingmentalität wuchert weiter. So berichtet der Essener Sportmediziner Karlheinz Graff von einem Gespräch unter vier Augen mit einem Leichtathletikfunktionär im Rahmen eines Länderkampfes. Der habe ihm das »Problem« eines »versierten Trainers« geschildert, der hochwertige Talente in seinem Kader habe. Die Mädchen lehnten jedoch Doping ab. Nun suche man einen »Arzt des Vertrauens«, der diesen Athletinnen »Hormon-Präparate auch ohne deren Wissen zuführt«.
Obwohl Graff »keinen Zweifel« hat, daß sich Kollegen dafür »finden oder gefunden haben«, mag er die Namen von Trainer und Funktionär nicht nennen. Kumpanei geht immer noch vor, Verlogenheit, gibt Mediziner Graff zu, »wird zum Prinzip erhoben«.
Das gilt sogar für den Umgang miteinander. Die Autoren des Buches »Doping im Sport"* etwa wurden noch vor Erscheinen massiv unter Druck gesetzt. Die jungen Mediziner sollten ihr Projekt aufgeben, weil es der Sportmediziner-Zunft schade.
An fast allen Sportmedizinischen Instituten wird im verborgenen eifrig nach neuen Dopingerkenntnissen geforscht. Nicht selten stellen sich Athleten als Versuchskaninchen zur Verfügung: Zum einen bauen sie auf die Verschwiegenheit der Mediziner, zum anderen erhoffen sie sich neue Erkenntnisse für die alltägliche Dopingpraxis.
So entstand auch die Heidelberger Studie. Der inzwischen emeritierte Professor Dr. Helmut Weicker, Direktor der Abteilung Sport- und Leistungsmedizin der Heidelberger Universitätsklinik, war über die Anabolika-Einnahme von Konya und Föhrenbach »genau informiert«. Als Wolf seine Arbeit begann, schlug Weicker eine medizinische Kooperation vor - er wollte den Athleten beweisen, daß hohe Dosen von Leucin, einer essentiellen Aminosäure, dieselben anabolen Effekte, aber eben keine schädlichen Nebenwirkungen hätten.
Mit dem Test beauftragte Weicker den Assistenzarzt Dr. Karl-Michael Sehling. Die Laborbefunde von Konya und Föhrenbach, die bis zum Untersuchungsbeginn Anabolika geschluckt hatten, wiesen dramatisch niedrige HDL-Werte auf. Föhrenbach erreichte mit 18 nicht einmal die Hälfte des Normalwertes, Konya kam am 27. Januar 1988 mit 4 sogar in die Infarkt-Gefahrzone. Der besorgte Doktor Sehling wies die Kugelstoßer schriftlich auf das Risiko hin - Konya akzeptierte ungerührt.
Der ehrgeizige Athlet erhoffte sich von der engen Zusammenarbeit mit Ärzten Aufschluß darüber, wie er künftig seine Anabolika-Einnahme dosieren sollte. So erkundigte er sich immer drängender, wie denn der Befund der Urinprobe ausgefallen sei. Als der Arzt erkannte, was Konya wirklich wollte, brach er die Untersuchung ab.
Sehling hatte da bereits die Proben ans Kölner Labor des Professors Donike geschickt. Donike, in Rundfunk und Fernsehen stets als unerbittlicher Dopingfahnder zur Stelle, reagierte eigentümlich routiniert. Vergeblich wartete der Heidelberger Arzt auf einen schriftlichen Bescheid aus Köln. Dafür schellte eines Tages das Telefon, der Herr Professor meldete sich höchstpersönlich, um die, natürlich positiven, Analysewerte durchzugeben und zu erläutern. Wo jeder Landarzt einen sogenannten Arztbrief zu schreiben hat, erledigt Donike die Angelegenheit in höchstem Maße konspirativ - aber eben ohne Spuren, nicht einmal eine Rechnung, zu hinterlassen.
Der Leiter des Instituts für Biochemie an der Kölner Sporthochschule war schon 1977 in den Verdacht geraten, Athleten und Trainern bei der Berechnung der Dopingabsetztermine zu helfen und positive Befunde keineswegs immer zu veröffentlichen. Der Mainzer Apotheker Horst Klehr hatte damals seine Mitarbeit in der Dopingkommission des Deutschen Leichtathletik-Verbandes aus Empörung über Scheinkontrollen aufgekündigt und öffentlich auf ein enges Zusammenwirken zwischen den Anabolika gebenden Freiburger Professoren Keul und Armin Klümper sowie dem Prüfer Donike aufmerksam gemacht. Donike bestritt die Zusammenarbeit vehement, Klehr wurde als Nestbeschmutzer hingestellt - die angedrohten gerichtlichen Schritte blieben jedoch aus oder waren erfolglos.
Der Gewichtheber Karl-Heinz Radschinsky, 1986 wegen illegalen Anabolika-Handels zu 18 Monaten Haft mit Bewährung verurteilt, erinnert sich ebenfalls, während seiner aktiven Zeit zweimal bei einem seltsamen Testverfahren mitgemacht zu haben. Den Urin der gedopten Heber sammelte jeweils der Kollege Rolf Milser ein. Anschließend sorgte der Duisburger für den Weitertransport nach Köln zu Donike. Über Milser, der heute als Bundestrainer arbeitet, erfuhren die Athleten dann, wann sie nach dem Absetzen der Dopingration »clean« waren.
Donikes dubiose Rolle zwischen Gehilfe und Polizist ist wohl auch systembedingt. Für seine Dopingjagd wird er mit öffentlichen Mitteln ausgestattet. Gleichzeitig aber sind ihm auch Privatliquidationen erlaubt. So hat Donike mit vielen Fachverbänden Verträge ausgehandelt, die zusätzliche Testuntersuchungen festlegen. Die Klientel, die des Dopings überführt werden soll, finanziert ihren Jäger - mit dem Ergebnis, daß die westdeutsche Sportprominenz durch saubere Ergebnisse glänzt.
Wie selbstverständlich die Chemikalienversorgung der Sportler inzwischen geworden ist, belegt die Tatsache, daß auch das für den Leistungssport zuständige Bonner Innenministerium mitmischt. Keuls und Donikes Institute veröffentlichten kürzlich die Ergebnisse einer gemeinsamen, mit öffentlichen Geldern geförderten Studie. Dafür hatten die beiden Professoren Skilangläufern der Nationalmannschaft, des Landeskaders Baden-Württemberg und des Schwarzwälder Skiklubs SZ Brend die heute gebräuchliche Übergangs-Dopingsubstanz Testosteronenantat (Präparat »Testoviron-Depot« der Firma Schering) gespritzt.
Das Ziel der Untersuchung, die lediglich in Fachkreisen zirkuliert, war in unverfrorener Offenheit benannt. Es galt, »den Einfluß von exogenen Testosterongaben bei Ausdauersportlern auf die Leistungsfähigkeit und das Regenerationsverhalten« festzustellen.
Angesichts der ministeriellen Unterstützung genehmigte die Ethische Kommission der Universität Freiburg bereitwillig das erkennbare Dopingmedizinprojekt. Professor Dr. Werner Franke vom Deutschen Krebsforschungszentrum Heidelberg spottet, daß »ein so dürftiger Antrag bei einer Tierschutzkommission wohl kaum durchgegangen wäre«.
Das Zusammenwirken mehrerer Mediziner ist angesichts des ungebremsten Forscherdrangs offensichtlich in Mode gekommen. So tauchten in der Heidelberger Studie die Dosis-Angaben für Günthör nur deshalb auf, weil ein Teil des Tests im schweizerischen Magglingen durchgeführt und das Trainingsprogramm des Schweizer Nationalkaders zum Vergleich herangezogen wurde. Da halfen die eidgenössischen Mediziner den deutschen Kollegen auch gleich mit den Anabolika-Werten ihres Weltmeisters aus.
Da die Zahl der Mitwisser ständig wächst, müssen auch die bundesdeutschen Funktionäre befürchten, daß ihre Dopingtricks bekannt werden. Lange hatten sie die Probleme, gleich in welcher Sportart, durch Aussitzen erledigt: *___Die Sprinterin Annegret Kroninger gab zu, daß ____Mitglieder der Staffel, die 1976 in Montreal auch unter ____Mithilfe der Olympiasiegerin Annegret Richter Silber ____gewann, gedopt gewesen waren. Klagen wurden angedroht - ____aber nie eingereicht. Der damals verantwortliche ____Trainer Wolfgang Thiele arbeitet heute noch und führte ____vor drei Wochen Sprinterin Ulrike Sarvari zu zwei ____Hallen-Europameistertiteln. *___Der Ringer-Juniorenweltmeister Dieter Schwind, wegen ____Körperverletzung angeklagt, verteidigte sich 1985 vor ____Gericht, er sei deshalb so aggressiv gewesen, weil er ____auf Anweisung von Bundestrainer Detlev Schmengler sechs ____Monate fast täglich habe Testosteron schlucken müssen. ____Schwind: »Das Zeug hat mich so wild gemacht.«
Als die Funktionäre, um die Öffentlichkeit zu beruhigen, im letzten Jahr scheinheilig Trainingskontrollen beschlossen, gleichzeitig aber immer noch Leistungen verlangten, die ohne Doping nicht zu erreichen sind, muckten die Athleten erstmals wieder auf. Der Diskuswerfer Alwin Wagner schrieb einen Brief an den NOK-Präsidenten Daume, sein Kollege, Olympiasieger Rolf Danneberg, mokierte sich öffentlich über die Heuchler.
Wagner wartet immer noch auf Antwort von Daume, der, wie Klehr sagt, seit 13 Jahren detailliert über das Treiben seiner Funktionäre, Mediziner und Athleten informiert ist. Auch Danneberg hat sich beruhigt. Die Kontrollen müssen ihn nämlich überhaupt nicht schrecken, sie sind eine Farce.
Die Kontrolleure stehen keineswegs, wie immer behauptet wird, unangemeldet vor der Tür - es bleibt ausreichend Zeit, im Notfall zu verschwinden. Etwa ein Viertel aller ausgewählten Athleten, so schätzen Insider, sind einfach nicht da, wenn die Prüfer kommen. Als Ausrede besonders beliebt ist etwa bei den Mitgliedern der Sportförderkompanien der Bundeswehr der Hinweis, beim Militär werde bei der Postzustellung besonders schlampig gearbeitet. Andere erklären schlicht, sie seien »gerade im Manöver gewesen«.
Mit Wohlgefallen registrieren die Verantwortlichen, daß sich seit der Aufregung um Ben Johnson die Lage scheinbar entspannt hat. Als im vergangenen September der Internationale Leichtathletik-Verband beschloß, Sportlern nach Dopinggeständnissen nachträglich alle in den vergangenen sechs Jahren erzielten Titel und Rekorde abzuerkennen, empfand der deutsche Verbandsvorsitzende Helmut Meyer dies als gelungene Abschreckung: Jetzt sei mit Enthüllungen »nicht mehr zu rechnen«.
Meyer, während seiner langjährigen Tätigkeit als Direktor des Bundesausschusses Leistungssport von den Athleten mit dem programmatischen Namen »Leistungs-Meyer« bedacht, hat allen Grund, zufrieden zu sein. Der Funktionär vertrat bei Gesprächen im kleinen Kreis schon mal die Auffassung, für den Olympiasieg müßte auch der Einsatz von Pille und Spritze erlaubt sein.
Daß hierzulande der Deckel auf dem Dopingtopf gehalten werden konnte, liegt an den Eigenheiten des Systems. Was in der DDR die Direktiven der SED-Spitze bewirkten, schaffen in der Bundesrepublik Verträge, mal mit Ausrüstern, mal mit den Verbänden selbst.
So regelt etwa der Sponsorvertrag, den viele Athleten mit dem Sportartikelhersteller Adidas abgeschlossen haben, in Paragraph 9 die Zahlung der Vertragsstrafe des Athleten. Sie haben »alle Äußerungen und Verhaltensweisen« zu unterlassen, die den »Werbewert des Sportlers für Adidas« mindert. Für »jeden Einzelfall« der Zuwiderhandlung sind schon bei mittelmäßigen Athleten Geldstrafen von 3000 Mark angedroht.
Auffällig häufig erhalten ehemalige Sportler, die während ihrer Karriere in Dopingverdacht gerieten, auch Arbeitsverträge bei den Verbänden. So bleibt das Fachwissen der geschlossenen Gesellschaft erhalten - und problematische Fälle werden elegant gelöst. Besonders augenfällig funktionierte die Methode bei der Diskuswerferin Ingra Manecke.
Die achtfache Deutsche Meisterin trainierte beim Münchner Trainer Christian Gehrmann, einem Spezialisten für Kugelstoßerinnen und Diskuswerferinnen. Gehrmann läßt seinen Schützlingen eine Rundum-Betreuung zukommen. Den durch die Hormongaben stämmig und männlich wirkenden Mädchen gibt er das Gefühl, auch als Frau noch begehrt zu sein. Und auch die Abwicklung vieler finanzieller Dinge der Sportlerinnen erledigt der Coach. Der Trainer war nacheinander mit Weltrekordlerin Eva Wilms, Ingra Manecke und Claudia Losch (Olympiasiegerin 1984) liiert.
Medaillenbeschaffer Gehrmann redet in der Öffentlichkeit ohne große Scheu über sein Wirken. Ungeniert empfahl er etwa bei einem Dopinghearing des Deutschen Bundestages den Abgeordneten Anabolika ob ihrer aphrodisierenden Wirkung: »Die Potenz hat sich wieder eingestellt.« Der Deutsche Leichtathletik-Verband, sonst wirklich nicht zimperlich, mochte den Sportlehrer aus Angst vor peinlichen Enthüllungen nicht einmal mehr offiziell als Bundestrainer beschäftigen, er wirkt jetzt als bayerischer Verbandstrainer.
Gehrmann durfte sich bisher des Schweigens der Athletinnen ebenso sicher sein wie des Stillhaltens der Mediziner und Funktionäre. Als Ingra Maneckes Mutter durch die Republik reiste, um Unterstützung zu finden im Kampf gegen den Anabolika-Trainer, hatte sie keinen Erfolg. Ilse Bechthold, Vizepräsidentin des DLV, erklärte ihr zwar, man wisse um Gehrmanns Methoden, könne aber »nichts beweisen« und deshalb auch nichts unternehmen. Gehrmann selbst riet ihr, sie solle besser den Mund halten, um den Namen Manecke nicht in den Schmutz zu ziehen.
Als durch den Fall Johnson die Dopingdiskussion wieder angefacht wurde, begann Ingra Manecke zu reden. Sie schilderte, daß selbst Klümper bei ihrem Anblick entsezt gefragt habe: »Mein Gott, warum nehmen Sie all dieses Zeugs?« Seit wenigen Monaten aber will Ingra Manecke von einem Geständnis des Dopings bei Gehrmann nichts mehr wissen. Die ehemalige Diskuswerferin arbeitet seit dem 1. Januar als Ärztin am Olympiastützpunkt Wolfsburg, wo die Gewichtheber getrimmt werden.
Ihre Nachfolgerin bei Gehrmann, Claudia Losch, wurde vor drei Wochen Hallen-Europameisterin. Nach der Ursache ihrer Stärke befragt, antwortete die Kugelstoßerin, die oft in Gehrmanns Haus auf Lanzarote weilt und dort trainiert, mit unschuldigem Lächeln: »In Lanzarote muß wohl was Besonderes in der Luft liegen.«
Doch gerade in der Leichtathletik, die bei Olympischen Spielen stets das größte Sportlerkontingent stellt, werden, weil der Pillenkonsum so gebräuchlich ist, immer neue Vorgänge bekannt.
Vor einem Dreiländerkampf Italien-Deutschland-Polen 1983 in Turin waren die Funktionäre übereingekommen, keine Dopingkontrollen durchzuführen. So wurde den Kugelstoßern, Diskus- und Hammerwerfern rechtzeitig bedeutet: »Ihr könnt durchfuttern.«
Bei der Mannschaftsbesprechung am Vorabend des Länderkampfes stürzte Bundestrainer Karl-Heinz Leverköhne, verantwortlich für die Werfer, blaß ins Zimmer: »Es wird doch kontrolliert, die haben uns reingelegt.« Die kräftigen Männer wollten daraufhin nicht starten - doch eine Abreise hätte wie ein Eingeständnis gewirkt.
Als dann feststand, daß jeweils der erste und der sechste eines Wettbewerbs kontrolliert werden sollte, entwarfen die Athleten mit den Trainern Pläne, wie diese Plätze zu vermeiden waren.
Am einfachsten hatten es die Diskuswerfer. Platz sechs kam aufgrund der Leistungen der anderen Werfer nicht in Frage, die beiden Deutschen Wagner und Werner Hartmann mußten nur darauf achten, nicht zu weit zu werfen - es gelang.
Die beiden bundesdeutschen Hammerwerfer, eigentlich die besten im Feld, hielten sich so zurück: Klaus Ploghaus meldete sich nach dem Einwerfen verletzt ab. Karl-Hans Riehm warf im ersten Versuch 76,46 Meter, ein Pole übertraf ihn um einen Meter. Fortan trat Riehm bei seinen folgenden Würfen, wenn sie weiter zu sein schienen, schnell über den Rand des Ringes und machte die Weite so ungültig.
Problematisch dagegen war das Kugelstoßen. Von den Spezialisten war nur Andreas Beirowski mit nach Turin gefahren, den zweiten Part sollte ein Diskuswerfer übernehmen. Angesichts der Stärke der Konkurrenz wäre der aber auf jeden Fall Sechster geworden - und hätte damit doch zur Dopingprobe gemußt.
Da hatten Sportwart Otto Klappert und der damalige Präsident August Kirsch die rettende Idee. Hochspringer Dietmar Mögenburg hatte zuvor Andeutungen gemacht, sich auch eine Karriere als Zehnkämpfer vorstellen zu können. Die beiden Funktionäre überredeten nun den ahnungslosen Mögenburg, es doch jetzt gleich einmal bei einem Wettkampf mit dem Kugelstoßen zu testen. Der chemisch saubere Mögenburg stieß 13,31 Meter, mußte zur Kontrolle. Die Funktionäre verkauften ihren Coup den Journalisten als Beispiel für die Experimentierfreude des Verbandes.
Offensichtlich ist wirklich nichts mehr undenkbar. So berichtet der 400-Meter-Läufer Mark Henrich von einem Erlebnis der besonderen Art bei den Weltmeisterschaften 1987 in Rom: Er behauptet, dort gegen sein Wissen mit kurzfristig wirkenden Aufputschmitteln gedopt worden zu sein.
Henrich war in jenem Jahr überraschend Deutscher Meister geworden, seine Bestzeit von 45,42 Sekunden hatte den Funktionären aber nicht ausgereicht, den Newcomer für den Einzelwettbewerb zu melden. Der Kamener durfte nur in der Staffel rennen, zusammen mit den etatmäßigen Hürdenläufern Edgar Itt und Harald Schmid sowie Norbert Dobeleit. Die Staffel wurde im WM-Finale Vierte, verbesserte den fast zwei Jahrzehnte alten Deutschen Rekord. Maßgeblichen Anteil daran hatte Henrich, der seine Runde in 43,87 Sekunden absolvierte. Auf den letzten Metern empfand er dabei zu seiner Überraschung ein völlig neues Laufgefühl. Henrich schildert es so: Er sei nicht wie sonst »ins Dunkle« gelaufen, ihn hätten auch keine Schmerzen gepeinigt, vielmehr hätten ihm »die Ohren geklingelt«.
Unmittelbar nach seinem Lauf, bei dem er, wenngleich auch mit »fliegendem Start«, beinahe eine Weltrekordzeit erzielte, hatte Henrich nur zwei Erklärungen für die Superzeit. Der früheren Olympiasiegerin Heide Rosendahl, die heute als Kolumnistin arbeitet und ihm zufällig über den Weg lief, erklärte er verwirrt: »Entweder stimmt die Zeitmessung nicht - oder ich war gedopt. Aber ich schwöre, daß ich nichts genommen habe.«
Schon wenig später habe er gemerkt, daß etwas nicht stimme. Eine italienische Offizielle sei in den Athletenraum gekommen und habe gefragt: »Wer ist an Nummer zwei gelaufen.« Er habe sich gemeldet und prompt sei bei den Kollegen eine unerklärliche Hektik ausgebrochen. Schließlich habe ihn ein »erfahrener« Mannschaftskamerad zur Seite geschoben und gesagt: »Ich mach' das für dich.«
Im nachhinein, sagt Henrich, sei ihm klargeworden, daß da bei den Planungen »etwas schiefgelaufen« sei. In Rom hätten die Teamchefs stets vor den Rennen ausgekungelt, welche Positionen in den Staffeln kontrolliert würden. Vor dem 400-Meter-Finale hätte man ihn bis zuletzt im unklaren gelassen, ob er nun als zweiter oder als letzter laufen solle. Erst eine halbe Stunde vor dem Start habe man ihm Platz zwei zugeteilt - und dabei in der Hektik wohl einen Fehler gemacht.
Mannschaftsgefährte Edgar Itt, in der vergangenen Woche nach den Vorgängen bei der WM befragt: »Mein Gott, ist da etwas hochgekommen?« *HINWEIS: Ende