Datenschrott für eine Milliarde?
Die Satiriker hatten es kommen sehen. Im neuesten Programm der Münchner Lach- und Schießgesellschaft fragt ein Bürger zum Thema Volkszählung: »Was haben Sie in den letzten vier Jahren dazugelernt?« Antwort des Kabarettisten: »Karate.«
Mittlerweile hat die Wirklichkeit die Satire eingeholt. Unter der Rubrik »Elternbildung« offeriert die Volkshochschule in Mönchengladbach einen Kursus in Selbstverteidigung. »Besonders Frauen«, heißt es im Programmheft, »können häufig in Situationen geraten, in denen sie sich gegen einen Angreifer zur Wehr setzen müssen« - zum Beispiel »bei der bevorstehenden Volkszählung«.
Die Kursteilnahme, regulär 35 Mark, ist daher »für Zähler(innen) bei der Volkszählung gebührenfrei«. Alle Helfer sollen, meint die städtische Frauenbeauftragte Gabi Meyer-Ullrich, in die Lage versetzt werden, »Angstsituationen in dunklen Hausfluren zu meistern«.
Die Befürchtungen scheinen begründet. Kaum ein Vorhaben der Bonner Regierenden weckt soviel Abwehr, so viele Aggressionen wie die für den 25. Mai terminierte Volkszählung, bei der rund 600000 Zähler sämtliche 25 Millionen westdeutschen Haushalte aufsuchen sollen.
Schon rechnen Polizeichefs und Geheimdienstler mit dem Schlimmsten - nicht nur mit Handgreiflichkeiten an den Haustüren von Zählungsgegnern, sondern, so der hannoversche Verfassungsschutz-Chef Peter Frisch (SPD), auch damit, daß »von militanten Gruppen Anschläge auf Statistische Ämter« und Computerzentralen verübt werden.
Am Dienstag vergangener Woche gab es schon die erste Detonation: Mit einem Sprengsatz ließen unbekannte Täter, die sich im Bekennerschreiben als Volkszählungsgegner zu erkennen gaben, im Leverkusener Meldeamt bis zur vierten Etage hoch alle Scheiben splittern.
In aller Eile lassen Landesregierungen und Stadtverwaltungen denn auch in diesen Wochen gefährdete Räumlichkeiten zu Hochsicherheitstrakten ausbauen. Infrarot-Einbruchmelder und Panzerglasscheiben, _(Am 18. Februar, vor dem provisorischen ) _(Plenarsaal im Bonner Wasserwerk. )
Videokameras und Stahlgitter sollen die Fragebogen-Lagerstätten, wie der hessische Datenschutzbeauftragte Professor Spiros Simitis weiß, bis Mitte Mai so sicher machen »wie Fort Knox«.
Geschützt wie der Goldschatz der USA sollen Millionen von blau-weißen Fragebögen im Gesamtgewicht von 1500 Tonnen werden, auf denen das Bundesvolk Antwort auf maximal 33 Fragen geben soll - nach Wohnverhältnissen und Einkommensquellen, Verkehrsmitteln und Schulabschlüssen.
Mehr noch als die Gefahr von Sabotageakten schreckt die Befürworter der Volksdurchleuchtung ein realistischeres Risiko: daß das »gigantischste Datenprojekt der Gegenwart«, wie es der sozialdemokratische »Vorwärts« nennt, durch offenen Boykott oder heimlichen Widerstand von Millionen Westdeutschen zum politischen Flop des Jahrzehnts wird, zur »größten Fehlinvestition seit dem Schnellen Brüter von Kalkar«, wie der Bonner Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele schon frohlockt.
Die Aussichten, daß die Grünen recht behalten, deren Bundestagsfraktion offen zum Volkszählungsboykott ("VoBo") aufruft, stehen nicht schlecht. »Nach vorsichtigen Schätzungen«, meint der Sozialdemokrat Klaus Eschen, Vorsitzender des Republikanischen Anwaltsvereins, seien »mehr als zwei Drittel der Bevölkerung« gegen die Zählerei.
Darin drückt sich eine grundsätzlich gewandelte Einstellung zum Staat und zur Obrigkeit aus. Denn die letzte Volkszählung 1970 hatten die Bundesbürger noch klaglos über sich ergehen lassen.
Nun aber will nur gut jeder zweite Westdeutsche, das belegen Umfragen des Statistischen Bundesamtes, brav seinen Fragebogen ausfüllen - teils mit haarsträubender Begründung. »Ich find'' die Volkszählung gut. Damit lassen sich die kriminellen Elemente besser erfassen«, erklärte letzte Woche Skandal-Fürstin Gloria von Thurn und Taxis bei einer Illustrierten-Umfrage. Der blonde Barde Heino argumentierte: »Als deutscher Sänger bin ich auch für eine deutsche Volkszählung.«
Die Bonner Volkszählungsveranstalter müssen hoffen, daß solche Ansichten Widerhall finden. Denn für die Regierung steht viel auf dem Spiel - nicht nur politisches Prestige, sondern auch ein Einsatz in Höhe von einer Milliarde Mark, die für die Datenerhebung und -auswertung veranschlagt ist.
Denn: Wenn, je nach Fragestellung, auch nur fünf oder zehn Prozent der Befragten mogeln oder die Auskunft verweigern, kommt bei dem Mammutprojekt, so der Hamburger Informatik-Professor Klaus Brunnstein, lediglich »Datenschrott« heraus.
Boykott-Werbern drohte Bonns Innenminister Friedrich Zimmermann daher letzte Woche scharfe Konsequenzen an: Mit seinen Länderkollegen kam der Christsoziale überein, auf Boykott-Aufrufe mit Bußgeldern bis zu 10000 Mark zu reagieren.
Mit einem bislang beispiellosen finanziellen Aufwand rüsten Bonns Regierende überdies zu einer Public-Relations-Schlacht, wie sie die Republik noch nicht erlebt hat. War das Statistische Bundesamt 1983 noch mit ganzen 50000 Mark ausgekommen, um die Befragung zu propagieren, machte das Kabinett Kohl für diesen Zweck letztes Jahr bereits 16 Millionen Mark locker. Im Februar wurde der Betrag um weitere 30 Millionen Mark aufgestockt.
Ob die Bonner Rechnung aufgeht, »Akzeptanz durch Aufklärung« (Statistisches Bundesamt) zu schaffen, ist fraglich. Auch wenn Regierungsanzeigen noch so oft versichern: »Die Fragen haben weder mit ''Ausforschungswut'' noch mit ''gläsernem Bürger'' oder ''verletzter Intimsphäre'' zu tun« - im Land schwelt Mißtrauen, und vieles spricht dafür, daß der Argwohn bis zum Mai noch wachsen wird.
Denn bundesweit formiert sich derzeit eine Boykott-Bewegung, die das Volk zur Flucht vor der Volkserfassung aufwiegeln will. Die Befragungsgegner, die mit Hilfe des Verfassungsgerichts 1983 die damals geplante Totalerhebung verhindert haben, sind plötzlich wieder da, als hätten sie nur überwintert.
In nahezu jedem Stadtteil, jeder größeren Gemeinde kommen regelmäßig Zählungsunwillige zu »Ini-Treffs« zusammen. Von einem Boykott-Ratgeber aus dem »Zweitausendeins-Versand« ("Was Sie gegen Mikrozensus und Volkszählung tun können") sind bereits 130000 Exemplare verkauft worden.
Den Boykotteuren mangelt es, anders als den Regierungswerbern, durchweg an Geld für ihre Aktionen, kaum aber an _(In der Druckerei in Prien am Chiemsee. )
Wortwitz. Sie propagieren »Erfassungsschutz« und unterhalten »Zählsorge-Telephone«. In Hannover will eine Gruppe namens »Rumpelstilzchen« den Volkszählern auf der Nase herumtanzen, in Hamburg-Eimsbüttel wollen »Datenpiraten« die Erhebung unsicher machen. Im westfälischen Münster lädt die örtliche VoBo-Ini zur vergnüglichen »Boy/ Girl-Kott-Party«.
Geworben wird von den Zahlungsgegnern für eine kaum mehr überschaubare Vielzahl von Verweigerungs- und Sabotagetechniken. Allerorten kursieren bizarre Tips, die dazu dienen sollen, Zähler und Statistiker bei der Auswertung der Fragebögen »zum Wahnsinn« zu bringen.
Reinhard Schrutzki vom Hamburger »Chaos Computer Club« ("CCC") etwa verbreitet Ratschläge, vor deren Befolgung er - offenbar aus juristischen Gründen - zugleich hinterfotzig warnt: Keinesfalls dürfe »Kaffee versehentlich auf der Befragungsunterlage« verschüttet werden. Unbedingt »zu vermeiden« sei »auch Graphitschmiere, wie sie als Einrostschutz für Autoschlösser verwendet wird« - auf die Bögen fein verstrichen, »könnte sie die Computer an den Rand eines Kollapses bringen«.
»Hoffnungslos überfordert«, verbreitet Schrutzki, seien die Elektronenhirne auch, wenn »vom unteren oder oberen Rand der Formulare kaum sichtbar ein schmaler Streifen abgetrennt« wird: »Fehlen gar zufällig genau 4,4 Millimeter von der Papierkante, könnte es passieren, daß die Antwortmarkierungen um genau eine Zeile verrutschen.«
Andere Volkszählungsgegner raten dazu, Fragen einfach falsch zu beantworten - eine Spielart des »weichen Boykotts«, in der Hannovers Verfassungsschutz-Chef Frisch die größte Gefahr für die Zählung sieht, »weil er massenweise und risikolos mitgemacht werden kann«.
Fatal für die Volkszähler: Ihnen bliebe bei solchen Boykott-Formen in aller Regel verborgen, wie viele falsche Angaben eingeschmuggelt worden sind. Nur offensichtliche Widersprüche und Ungereimtheiten - etwa eine katholische Pastorin, eine zwölfjährige Witwe oder ein Akademiker mit Hauptschulabschluß - können bei Plausibilitätskontrollen in den Statistik-Ämtern entdeckt werden.
Die meisten organisierten Volkszählungsgegner allerdings lehnen den weichen Boykott den, sogenannten Marshmallow-Protest (so der Heidelberger Grünen-Abgeordnete Georg Habs-Hoffschrör), aus politischen Gründen ab. Sie plädieren, die Grünen vorneweg, für »Hardcore-Widerstand«.
Beim weichen Boykott, begründet auch die alternative »Tageszeitung«
("taz") die Forderung nach einer härteren Gangart, kämen »am Ende zwar unbrauchbare Daten heraus«. Aber: »Die Verantwortlichen des Zensus würden ein solches Versagen nie zugeben und für sich den Erfolg verbuchen, ''das Volk'' habe sich ja doch loyal von seinem Staat zählen lassen.«
»Der beste Fragebogen«, propagiert der Grünen-Politiker Ströbele, »ist der, der unausgefüllt bei der nächsten VoBo-Initiative abgegeben wird, damit dort gesammelt und gezählt werden kann, wie viele es sind, die verweigert haben.«
Die laufende Veröffentlichung der neuesten Verweigerer-Zahlen soll, so das Kalkül der Boykott-Strategen, die Zaudernden ermutigen. Und sobald erst zehn bis zwanzig Prozent der Bevölkerung zum Protest bereit sind, ließen sich die Verweigerer nicht einfach kriminalisieren: Wenn 2,5 bis fünf Millionen Westdeutsche mit Zwangs- und Bußgeldverfahren überzogen werden müßten, wären Verwaltung und Justiz über Jahre lahmgelegt.
Die engagiertesten Boykotteure sind bereit, auch die Zahlung saftiger Bußgelder (bis zu 10000 Mark) zu riskieren. Aus ihrer Sicht gilt der Widerstand gegen die Volkszählung einem hehren Ziel: den bundesdeutschen Rechtsstaat davor zu bewahren, zu einem totalitären »Erfassungsstaat« zu werden.
Eine weniger riskante Strategie haben die Humanistische Union und das Komitee für Grundrechte und Demokratie ausgeheckt. Damit »niemand gefährdet« wird, als Verweigerer belangt zu werden, und um gleichwohl zu »verhindern, daß eine am Widerstand der Bürger gescheiterte Volkszählung von den Verantwortlichen zu einem Erfolg umgedeutet wird«, starten die beiden Bürgerrechtsorganisationen diese Woche eine Unterschriftenaktion.
In einer vorgedruckten »Erklärung« sollen die Bürger bekennen, daß sie sich der Zählung durch Total- oder Teil-Boykott »oder auf sonstige Weise widersetzen«. Die Initiatoren der Kampagne wollen dann die gesamten Unterschriften dem Bundestag als »Massenpetition« vorlegen mit der Forderung, »daß die Volkszählung abgesetzt oder - falls sie bereits vollzogen wurde - die erhobenen Daten vernichtet werden«.
Nur auf den ersten Blick, argumentieren die beiden Organisationen, seien anonym erhobene Angaben etwa über Wohnungsfläche oder Arbeitsplatz harmlose Daten. Denn im Computerzeitalter gebe es nun einmal »keine ''unschuldigen'', keine nicht mißbräuchlich manipulierbaren Daten mehr«.
Aus dieser Sicht erscheinen die Volkszählungsfragebögen als Bestandteil eines gigantischen Überwachungsapparats, der »die Bürgerinnen und Bürger zu Puppen an unsichtbaren Drähten der Politik« zu machen drohe. Denn die Volkszählung stehe in engem Zusammenhang mit dem von Bonn zur Zeit betriebenen Ausbau der staatlichen Sicherheitsmaschinerie - vom jüngst in Betrieb genommenen Datenverbund zwischen der Polizei und dem Flensburger Verkehrszentralregister »Zevis« bis hin zur Einführung des maschinenlesbaren Personalausweises (Anfang nächsten Monats) und des computergerechten Reisepasses (Anfang nächsten Jahres).
Mit dem Zevis-System, argumentieren die Erfassungsgegner, sei den Sicherheitsbehörden erstmals der Zugang zu einer Art Bundesadreßregister eröffnet worden. Der EDV-Ausweis werde es demnächst obendrein ermöglichen, mit Hilfe einer zunehmenden Zahl von Polizeikontrollen sogenannte Bewegungsbilder von Verdächtigen wie Unverdächtigen aufzuzeichnen, um elektronisch zu dokumentieren, wer sich wann wo mit wem aufgehalten hat.
Die Volkszählungsdaten schließlich, befürchten die Kritiker, ließen sich unter Umständen nutzen, dieses Überwachungssystem noch zu komplettieren. Wenn Polizei oder Geheimdienste bei künftigen Schleppnetzfahndungen nach Agenten oder Terroristen beispielsweise die Namen aller 28jährigen Lehrer in einer bestimmten Region oder die Daten aller in der DDR aufgewachsenen Physiker benötigen, könnten die Volkszählungsbögen allen Dementis zum Trotz sehr wohl Aufschluß geben.
In der Tat sind die Zensus-Daten in einem Punkt allen anderen in Computern und Registern gespeicherten Informationen haushoch überlegen: Während sonst stets nur eine Teilmenge der Bevölkerung
abgebildet werden kann, Versicherte etwa oder Fürsorgeempfänger, Steuerzahler oder Fahrzeughalter, wird nach der Idealvorstellung der Volkszähler buchstäblich jeder Westdeutsche nach einheitlichen Kriterien erfaßt.
An einer solchen Universaldatenbank, argumentieren die Zensus-Gegner, könnte, wenn mal wieder eine Terrorwelle übers Land schwappt, den Rasterfahndern gelegen sein. Die waren häufig bei elektronischen Suchläufen nach Verdächtigen an der Begrenztheit der Register gescheitert.
Ob die Visionen der Volkszählungsgegner vom Big Brother einem geschärften Datenschutzbewußtsein entspringen oder einer Art von politischem Verfolgungswahn - diese Frage wird, so scheint es, in den nächsten Wochen den Streit um die Volkszählung beherrschen. Die Argumente pro und contra liegen schon parat.
Daß die Schreckensbilder der Volkszählungsgegner schiere »Panikmache« seien, beteuern nicht nur Koalitionsrechte wie der freidemokratische Justizminister Hans Engelhard. Auch datenschutzbewußte Politiker wie sein linksliberaler Parteifreund Burkhard Hirsch der innenpolitische Sprecher der FDP, attestieren den VoBo-Wortführern »neurotische Züge«.
Die Befürworter verweisen darauf, daß der Bundestag zwei entscheidende Sicherungen beschlossen habe: die Garantie strikter Anonymität sowie ein gesetzliches Verbot, die statistischen Daten für sachfremde Zwecke zu verwenden. Vorgesehene Höchststrafe: Gefängnis bis zu einem Jahr.
Mit solchen Versicherungen läßt sich das bundesweite Mißtrauen kaum dämpfen.
Die Schutzvorschriften, argumentieren die Kritiker, könnten sich ebenso rasch ändern wie die Mehrheiten im Bonner Parlament. Und mit der Anonymität sei es auch nicht weit her.
Tatsächlich haben Wissenschaftler bereits nachgewiesen, daß die »Re-Identifizierung« von anonymisierten Befragten, wie der Hamburger Datenschutzbeauftragte Claus Henning Schapper resümiert, »kinderleicht« ist. Wie einfach es gelingt, schon mit wenigen Erhebungsmerkmalen aus der Volkszählung eine bestimmte Person aus einer großen Bevölkerungsgruppe herauszufiltern, haben zur Jahreswende der Hamburger Datenforscher Klaus Brunnstein und die Informatik-Studentin Simone Fischer-Hübner in einem Simulationsmodell auf dem Computer nachgewiesen (SPIEGEL 3/1987).
Aus Unterlagen des Wiesbadener Statistischen Bundesamtes und des Statistischen Landesamtes Hamburg erzeugte die Studentin in einem IBM-Personalcomputer eine Modellbevölkerung von 100000 Einwohnern. Der Informatikerin gelang es, mit Hilfe von Informationen, wie sie bei der Volkszählung anfallen, fast alle Personen der Datenanonymität wieder zu entreißen.
Befürworter der Volkszählung räumen ein, daß solche verbotenen Computerspiele in der Tat technisch möglich, allerdings wegen des absehbaren Mißverhältnisses zwischen Aufwand und Nutzen wenig wahrscheinlich seien. »Weder Herr Brunnstein noch der erfahrenste Hacker«, versichert der Präsident des Bayerischen Landesamts für Statistik und Datenverarbeitung, Hans Helmut Schiedermaier, »würden an die Magnetbänder mit den anonymisierten Volkszählungsdaten herankommen.«
Die VoBo-Bewegung, argumentieren wiederum die Verfechter der Volkszählung, konzentriere sich darauf, mehr oder weniger abwegige Mißbrauchsmöglichkeiten zu beschwören, bezwecke aber in Wahrheit etwas ganz anderes: die Beschädigung eben jenes Rechtsstaates, den sie zu schützen vorgebe.
Genährt wird diese Unterstellung durch den Boykott-Aufruf der Grünen im Bundestag. Daß Abgeordnete offen dazu auffordern, den Vollzug eines ordnungsgemäß beschlossenen Gesetzes zu sabotieren, ist keineswegs nur aus der Sicht von Regierungspolitikern ein »unerhörter und einmaliger Vorgang in der Parlamentsgeschichte der Bundesrepublik« (Justizminister Engelhard).
Unbehagen über den Boykott-Aufruf der Parlamentsfraktion äußern auch Politiker der Grünen - von Prominenten wie Otto Schily bis hin zu Provinzgrößen wie dem niedersächsischen Ex-Abgeordneten Georg Fruck: »In unserem Rechtsstaat«, rügt der Öko-Experte seine Bonner Parteifreunde, »entscheiden Gerichte, ob ein Gesetz gültig ist. Geltende Gesetze sind für Demokraten verbindlich - auch für Basisdemokraten.«
Daß das Volkszählungsgesetz gültig ist und überdies »eindeutig verfassungskonform« (Hessens Simitis), mögen auch Datenschützer nicht bestreiten. Jedenfalls war der Bonner Gesetzgeber penibel bemüht, all jenen Forderungen Rechnung zu tragen, die das Bundesverfassungsgericht 1983 aufgestellt hat, als es die damals geplante Zählung stoppte: *___Gestrichen wurde die 1983 vorgesehene Berichtigung der ____Melderegister anhand der zu statistischen Zwecken ____erhobenen Daten; *___Namen und Anschriften müssen jetzt von den übrigen ____Angaben getrennt werden, sobald die Rückgabe der ____Fragebögen überprüft ist; *___die Befragten brauchen ihre Antworten nicht den Zählern ____zu offenbaren, sondern können die Formulare im ____verschlossenen Umschlag übergeben oder gleich direkt an ____die zuständige Erhebungsstelle schicken; *___diese vorübergehend eingerichteten Sonderbehörden ____müssen von allen anderen Ämtern personell, räumlich und ____organisatorisch strikt getrennt werden; *___Zähler dürfen nicht in ihrer Nachbarschaft eingesetzt ____werden, bestimmte Berufsgruppen wie Polizisten, ____Finanzbeamte oder Bedienstete bei Meldeämtern, die in ____Interessenkonflikte geraten könnten, sind von der ____Zähltätigkeit ausgeschlossen; *___die Weitergabe von Einzelangaben aus der Volkszählung ____an Bundes- und Länderministerien ist unzulässig, die ____Übermittlung an Gemeinden für ausschließlich ____statistische Zwecke an strenge Voraussetzungen ____geknüpft.
Die Datenerhebung, befand der kritische Liberale Hirsch nach der Vorlage des verbesserten Gesetzes, sei nunmehr so geregelt, »daß wir sie dem Bürger zumuten können«. Wer jetzt noch gegen die Zählung agitiere, wetterte der CDU-Abgeordnete Werner Broll, betreibe »pubertären Unfug«.
Ganz so einfach ist es nun doch wieder nicht. Broll und seine Koalitionsfreunde lassen außer acht, daß ein Gesetz - auch wenn es Paragraph für Paragraph verfassungskonform ist - auf verfassungswidrige Weise vollzogen werden kann.
Und tatsächlich zeichnen sich in Großstädten und Gemeinden schon jetzt administrative Mängel und bürokratische Schlampereien ab, die den Absichten der Karlsruher Richter zuwiderlaufen.
So muß in kommunalen Rechenzentren, die den Rücklauf der Fragebögen kontrollieren sollen, zwangsläufig das dort vorhandene Bedienungspersonal mit den Volkszählungsdaten umgehen - ein Verstoß gegen das gesetzliche Gebot, die Erhebungsstellen personell gegen die übrige Verwaltung abzuschotten.
Diese Maßgabe läßt sich vor allem auf dem flachen Land kaum verwirklichen, wo auf den Rathäusern ohnehin nur eine Handvoll Bedienstete sitzt. Viele Gemeinden wollen deshalb die Zähldienststellen
tageweise im Wechsel mit Mitarbeitern aus den einzelnen Ämtern besetzen - eine ebenfalls problematische Praxis.
Diese Kommunen täten, beanstandet die baden-württembergische Datenschützerin Ruth Leuze, »ganz so, als ob der Mitarbeiter am nächsten Morgen nicht mehr weiß, was er tags zuvor in der Erhebungsstelle erfahren hat«. Immerhin könnten ja »Interessenkonflikte vor allem bei Mitarbeitern auftreten, die üblicherweise im Einwohnermelde-, Sozial-, Steuer- oder Ordnungsamt der Gemeinde arbeiten«.
Ein weiterer Unsicherheitsfaktor ist die Vorschrift, wonach die Zähler die ausgefüllten Formulare erst dann bei der Erhebungsstelle abliefern sollen, wenn ihnen alle Fragebögen ausgehändigt sind, die nicht erklärtermaßen per Post zurückgeschickt werden. Die Vordrucke mit den Bürgerdaten, moniert Ruth Leuze, lägen mithin »mehrere Wochen« relativ ungeschützt in den Wohnungen der Zähler herum - allein in Baden-Württemberg entstanden so »150000 Zwischenlager«.
Als »verfassungsrechtlich wunden Punkt« der Volkszählung hat der Grünen-Politiker Ströbele generell »die Organisierung der Erhebungsstellen in den Gemeinden« ausgemacht: »Da dürfen wir nicht zögern, diese Wunden offenzulegen.« Durch eine Umfrage bei den Kreisverbänden und den etwa 600 Ratsfraktionen der Grünen will die Bundestagsfraktion Munition sammeln, um Musterprozesse vor Verwaltungsgerichten zu führen.
Dort wird auch geklärt werden müssen, ob bei der Volkszählung gegen die vom Verfassungsgericht geforderte »Normenklarheit« verstoßen wird: Juristen verwirrt, daß auf dem Mantelbogen fälschlicherweise Bezug auf das Bundesstatistikgesetz von 1980 genommen wird, obwohl seit kurzem ein neues Paragraphenwerk in Kraft ist, dessen Datenschutz-Regelungen wiederum teilweise dem Volkszählungsgesetz widersprechen.
Für den Bremer Rechtsinformatik-Professor Wilhelm Steinmüller ist daher sogar fraglich, ob die Bußgeld-Vorschrift überhaupt angewandt werden kann. Die unklare Gesetzeslage, meint der Datenschutz-Experte, führe letztlich dazu, daß Boykotteure straffrei ausgehen müßten.
Auch sonst entdecken vor allem Vo-Bo-Anwälte immer neue Kinken, mit denen sie vor die Verwaltungsgerichte ziehen wollen. Den Hamburger Datenschützer Schapper wundert das nicht: »Wenn eine ganze Republik sich aufmacht, Pannen und Mängel zu suchen, dann findet man natürlich auch welche.«
Schapper steuert selbst noch einen Vorbehalt bei: »Unhaltbar«, sagt er, sei für ihn, »daß es überhaupt noch kein Datenverarbeitungskonzept für die kritischste Phase gibt, wenn die noch nicht anonymisierten Daten auf elektronische Datenträger übernommen werden«. Um beurteilen zu können, ob der Datenschutz gewahrt werde, müsse er doch wissen, »wie die Löschungen von Namen und Anschriften vorgenommen werden sollen«.
Doch sogar wenn die Gemeinden und die Statistischen Ämter es fertigbrächten, Verfahrensmängel sorgsam zu vermeiden, wenn die Volkszählung mithin verfassungsrechtlich vollends unbedenklich wäre - auch dann stünde kaum zu erwarten, daß die Boykott-Bewegung auseinanderlaufen würde.
Der »juristische Kram«, bekannten VoBo-Anhänger jüngst bei einem Boykotteurstreffen in Hamburg, sei »ziemlich
nebensächlich«, der »politische Hintergrund« entscheidend. Vielen Strategen gehe es, kommentiert das sozialistische Monatsblatt »links«, »nicht um die Volkszählung allein«, sondern darum, den von ihnen befürchteten Trend zum Atom- und Überwachungsstaat mit einer Massenprotestaktion aufzuhalten.
Den Münchner Rechtsanwalt und Zensus-Gegner Jürgen Arnold etwa fasziniert die Chance, »der rechtskonservativen Koalition zum zweiten Mal ein Gesetz unter dem Hintern wegzuziehen«. Die Jungdemokraten sehen in der Verweigerung schlicht eine »Möglichkeit, es den Herrschenden zu zeigen«.
Grünen Parteipolitikern paßt die Boykott-Kampagne - kurz vor den Wahlkämpfen in Hessen, Hamburg und Rheinland-Pfalz - besonders gut ins Konzept. Sie können versuchen, die Sozialdemokraten, die dem auf Verfassungskonformität getrimmten Volkszählungsgesetz zugestimmt haben, als tumbe Staatsschutz- und Überwachungspartei hinzustellen und so die politische Marktnische der Alternativen zu Lasten der SPD auszuweiten.
Widerhall findet die VoBo-Kampagne allerdings bei weitem nicht nur im grünen Umfeld. »Ein diffuses Unbehagen«, weiß der hessische Datenschützer Simitis, »einigt die verschiedenen politischen Lager.« Während die einen Angst vor dem Überwachungsstaat haben oder zu haben vorgeben, wollen sich andere einfach ihr »Recht auf den kleinen Beschiß« (Grünen-Fraktionsmitarbeiter Udo Knapp) nicht nehmen lassen: Sie fürchten, daß viele der alltäglichen Mogeleien auffliegen könnten, mit denen sie sich bei Finanz-, Arbeits- oder Sozialämtern Vorteile erschwindelt haben.
Aus welchen Motiven auch immer die Boykott-Neigung sich nährt, verstärkt wird sie durch die Erwartung, daß das Risiko relativ gering ist. »Man sucht sich einen schwachen Gegner«, klagt Egon Hölder, Präsident des Statistischen Bundesamtes, »denn falsche Angaben beim Finanzamt empfehlen sich nicht.« Auch Datenschützer Simitis erklärt sich die Lust am Verweigern zum Teil damit, daß zum Mogeln nicht allzuviel Mut gehört: »Es ist schwerer, auf die Straße zu gehen und offen zu demonstrieren, als heimlich ein paar Absurditäten in den Fragebogen hineinzuschreiben.«
So bahnt sich, aus ganz unterschiedlichen Gründen, ein politisches Paradoxon an: Obgleich die Volkszählung ''87 weniger verfassungsrechtliche Angriffsflächen bietet als jeder Zensus zuvor mobilisiert sie, aus einer diffusen Mixtur von Motiven, mehr Protest als ihre Vorläufer.
Schon prophezeit nicht nur der oppositionelle SPD-»Vorwärts« einen »programmierten Flop«, auch das koalitionsfreundliche »Handelsblatt« befürchtet ein milliardenteures »Fiasko« für Bonn.
Wie wenig das Volk von dem Vorhaben hält, zeigt sich schon jetzt, Wochen vor dem Stichtag: Kaum irgendwo ist es den Behörden auf Anhieb gelungen, genügend ehrenamtliche Zählerinnen und Zähler zu rekrutieren (SPIEGEL 51/ 1986).
In Berlin sind trotz einer monatelangen Werbekampagne ganze 7500 Zähler angeheuert - statt der angepeilten 20000. In Hamburg (Ziel-Quote: 13000) meldeten sich nur 2700 freiwillig zum Zähldienst. Und auch in anderen westdeutschen Großstädten konnten die Behörden oft nicht einmal ein Fünftel des benötigten Zählerkontingents auf die Beine stellen.
»Zählen ist Ehrensache«, wirbt zwar das Statistische Bundesamt noch immer
auf großflächigen Plakaten. Dennoch deutet vieles darauf hin, daß die große »Inventur des Staates« vielerorts mit einem gewaltigen Chaos beginnen wird: Zweifelhaft ist, ob die rund 600000 ehrenamtlichen Helfer, die von Mitte Mai an die Fragebogen austeilen sollen, rechtzeitig auf dem Posten sind.
Das Gros der Städte und Gemeinden hofft noch immer auf die Einsicht der Umworbenen. »Zur Übernahme der Zählertätigkeit« ist laut Gesetz generell »jeder Deutsche« zwischen 18 und 65 »verpflichtet« - ein Ehrenamt wie Schöffe oder Wahlhelfer. Davon befreit ist nur, »wem eine solche Tätigkeit aus gesundheitlichen oder anderen wichtigen Gründen nicht zugemutet werden kann«.
Viele machen, mit unterschiedlichem Erfolg, besondere Belastungen in Büro und Familie geltend, Schichtdienst etwa oder häusliche Pflegefälle. Ziemlich aussichtslos ist die Einlassung, wegen rechtlicher Bedenken gegen den Zensus nicht die im Gesetz geforderte »Gewähr für Zuverlässigkeit« zu bieten. »Ideologische Bauchschmerzen«, wimmelt der Hamburger Statistik-Chef Erhard Hruschka derlei Einwände ab, »werden nicht anerkannt.«
Ebenso pauschal verwerfen die Behörden die Einwände von Frauen, die sich »fürchten, abends allein in fremde Wohnungen zu gehen«. Berlins Innensenator Wilhelm Kewenig (CDU) versucht''s mit Zuckerbrot und Peitsche. Der »weibliche Charme«, schwärmt er, werde gerade den Frauen die Arbeit eher erleichtern. Billig davonkommen wurden Zählunwillige jedenfalls nicht: »Mit ein paar Tausendern können die schon rechnen.«
Frauen, sagt der Senator, könnten ja »die Zahltätigkeit zusammen mit einer weiblichen oder männlichen Begleitperson im gegenseitigen Einvernehmen ausüben«. Heißt: Entweder muß jemand unentgeltlich mitmarschieren, oder ein Zählerpaar muß gemeinsam zwei Bezirke abklappern - als »Doppelstreife zum halben Gehalt«, wie der Abgeordnete Stefan Reiß von den Alternativen lästert.
Auch die »attraktive Entschädigung«, mit der Statistik-Ämter locken, verfängt bei den Umworbenen nicht. Die haben fix ausgerechnet, daß das Honorar in Höhe von zumeist 400 Mark, gemessen am Zeitaufwand, lausig gering ist. Die »dreißig Stunden brutto«, die der Statistiker Raimund Bartella vom Deutschen Städtetag fürs Klinkenputzen einschließlich vorausgehender Zählerschulung veranschlagt, reichen kaum hin, wenn einer einen Durchschnittsbezirk mit achtzig Haushalten zu betreuen hat.
Denn die Zähler müssen darauf gefaßt sein, daß skeptische Bürger sie in Diskussionen
verwickeln oder mit Verzögerungstricks hinhalten, auf daß sie mehrmals wiederkommen müssen. So werden die Zähler wochenlang jeden Tag nach Feierabend auf Achse sein.
»Für''n Appel und ''n Ei«, mosert ein Beamter der Hamburger Baubehörde, »spiel'' ich doch nicht den Treppenhaus-Terrier, der sich mit den Leuten anlegt.« Mehr und mehr gehen die Erhebungsstellen daher dazu über, Helfer auch gegen deren erklärten Willen zum Zählen zu verpflichten.
Bürger, die sich gegen die Zwangsrekrutierung wehren, werden auch von ihren Gewerkschaften unterstützt. »Für alle diejenigen, die auf keinen Fall als Zähler tätig werden wollen«, gibt etwa die ÖTV-Bezirksverwaltung in Hamburg »einige Empfehlungen«, beispielsweise, daß die Widerspruchsfrist von einem Monat »möglichst ausgeschöpft« werden sollte.
Bei der Begründung seien »der Phantasie der Betroffenen keine Grenzen gesetzt«, Hauptsache, es würden viele Argumente vorgebracht. Die ÖTV empfiehlt, »möglichst alle Gründe detailliert anzugeben, da sich der Widerspruchsbescheid mit allen Widerspruchsgründen auseinandersetzen muß«. Da sind dann die Ämter geraume Zeit damit beschäftigt, und wenn sie die Widersprüche zurückweisen, bleibt wiederum einen Monat Zeit, um vor Verwaltungsgerichten dagegen zu klagen.
Das juristische Gerangel kann sich leicht über den Zähltag hinziehen, und dabei soll bereits Anfang Mai mit den Zählerschulungen begonnen werden. Doch »ohne rechtskräftige ''Verurteilung'' zum Zähler«, stärkt die ÖTV widerborstigen Kollegen den Rücken, »braucht niemand sich schulen zu lassen und/oder zu zählen«.
Zwar ordnen manche Erhebungsstellen vorsorglich sofortigen Vollzug an. Aber der Marburger Rechtsanwalt Peter Hauck-Scholz ficht auch dies in einem Musterverfahren vor dem Verwaltungsgericht Gießen an, weil damit der Rechtsweg der Betroffenen willkürlich verkürzt werde.
Ein »öffentliches Interesse an einem Sofortvollzug« sei nicht gegeben, argumentiert der Advokat, da die Behörde die angebliche »Eilbedürftigkeit« durch »eigene Organisationsmängel selbst herbeigeführt« habe. Auch Hamburgs Datenschützer Schapper läßt Zeitnot bei der Zählerbestellung nicht gelten: »Da hätten sie halt vier Monate früher anfangen müssen.«
In der Hansestadt soll nun ein pauschaler Zuschlag von hundert Mark je Zähler die Motivation fördern. Andernorts lassen Behördenchefs das Los entscheiden, wer zählen muß.
Beide Verfahren, »Schmiergeld« ("taz") wie Zählerlotto, entsprechen sicher nicht den Vorstellungen des Gesetzgebers. Um das »Vertrauen des Bürgers in die rechtmäßige und ordnungsgemäße Durchführung der Erhebung« zu gewinnen, heißt es in der amtlichen Begründung zum Volkszählungsgesetz, müßten die Zähler »sorgsam ausgewählt« werden. In der Praxis müssen die Erhebungsstellen nun vielerorts nehmen, wen sie kriegen können.
Zählernot macht erfinderisch. Wenn schon Lehrer nicht zählen wollen, sollen eben Schüler einspringen - letztes Aufgebot einer in die Bredouille geratenen Verwaltung. Per Flugblatt warb beispielsweise die niedersächsische Kleinstadt Barsinghausen unter Oberstufenschülern: »Mindestalter 16 Jahre.«
In Münster, so das örtliche »Stadtblatt«, ließen sich die Behörden »einen besonders perfiden Trick einfallen": Sozialhilfeempfänger erhielten vom Sozialamt einen Brief, in dem ihnen »eine ''freiwillige'' Zählertätigkeit nachdrücklich ans Herz gelegt« wurde. Ein Betroffener: »Da wird doch schamlos unsere soziale Abh ängigkeit ausgenutzt.«
Solche Fälle bieten Anschauungsmaterial für »alternative Zählerschulungen«, die VoBo-Initiativen bereits mancherorts offerieren: Volkszähler, die gegen ihren Willen angeheuert werden, aber auch Freiwillige aus der Boykott-Szene sollen in speziellen »Argumentationskursen« munitioniert werden, um als »trojanische Zähler« Stimmung gegen die Volkszählung zu machen.
»Jeder Zähler«, hat der Grünen-Politiker Ströbele erkannt, »ist ein potentieller Propagandist für einen Volkszählungsboykott": Er soll niemanden drängen, die Fragebögen auszufüllen, sondern »aber die Gefahren für die Datensicherheit aufklären«.
Die Agitation dürfte den alternativen Zählerinnen und Zählern schon deshalb nicht schwerfallen, weil kaum einem Bürger einleuchtet, wozu der ganze Datenwust nütze sein soll. Millionen von Westdeutschen halten zwar nicht die eigentliche Zählung des Volkes, wohl aber die daran gekoppelte Befragung für sinnlos.
Denn was fängt der Staat damit an, ob eine Wohnung über Küche oder Kochnische verfügt und ob sie mit Gas oder Kohle beheizt wird? Wem hilft das Wissen, wann ein Haus gebaut und ob es mit Mitteln des sozialen Wohnungsbaus gefördert worden ist? Was folgert aus der Angabe, wie lange jemand »normalerweise für den Hinweg zur Arbeit oder Schule/Hochschule« benötigt?
Seitenlang liefert das Statistische Bundesamt, in internen Papieren und in Broschüren für die Öffentlichkeit, allgemein gehaltene Antworten auf die Frage nach den »Verwendungszwecken« des Datenmaterials. »Wohnungs- und Haushaltszugehörigkeit« sowie »Größe der Haushalte« seien beispielsweise »wichtige Faktoren für die Beschreibung und Analyse der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse unserer Gesellschaft«.
Die Anschrift der Arbeitsstätte in Verbindung mit dem hauptsächlich benutzten Verkehrsmittel und dem Zeitaufwand solle »verkehrsmäßige und wirtschaftliche Verflechtungen« offenbaren.
Ob Arbeitsmarktanalysen, Beobachtung der Pendlerströme oder Kenntnis der Wohnraumversorgung, von der Altersstruktur über Bevölkerungsprognosen bis hin zur »Zuweisung von Religionslehrern": Für alles, alles bildet angeblich die Volkszählung die Basis.
Sie liefere, so formuliert ein beim Statistischen Bundesamt eingerichteter Wissenschaftlicher Beirat, zugleich »flächendeckende und detaillierte Informationen«, um »sehr gezielte, dabei jedoch auch überregional abgestimmte Maßnahmen ergreifen zu können«. Vor allem »wenn es um regionalisierte Ergebnisse geht«, könne keine andere Statistik den Zensus ersetzen.
Dabei sind alle Fragen längst in irgendwelchen Karteien und Datenbanken beantwortet, die jeweils zuständigen Verwaltungsstellen kennen die Steuerpflichtigen, die Sozialhilfeempfänger und die Rentenbeitragszahler.
Natürlich weiß der Arbeitgeber Staat, wie viele Richter er in Bayern beschäftigt und wie viele Soldaten die Bundeswehr unter Waffen hat - sogar viel exakter, als es eine Volkszählung je ermitteln kann. Denn im Fragebogen ist nur zu markieren, ob einer »Beamter, Richter, Beamtenanwärter, Soldat, Zivildienstleistender« ist - ein einziger Bleistiftstrich für den ganzen öffentlichen Dienst.
Mehr als vierzig Millionen Arbeitnehmer sind im Zentralcomputer der Rentenversicherungsträger in Würzburg gespeichert, und über jede Person gibt es da höchst detaillierte Auskünfte. Zur »Sicherung der Rentenfinanzierung«, die von den Volkszählungswerbern als Argument ins Feld geführt wird, taugt der Zensus jedenfalls nicht: Unwägbares wie die künftige Zahl der Arbeitslosen, die als Rentenbeitragszahler ausfallen, läßt sich durch keine Zählung bestimmen; und die »Alterspyramide«, Grundlage jeder Zukunftsprognose, wäre aus ordentlich geführten Melderegistern genausogut aufzubauen.
Die Verkehrsplaner, behaupten die Ämter, brauchten »genaue Informationen« über die »Millionen Erwerbstätigen, die täglich von ihrem Wohnort zur Arbeitsstätte fahren«. Doch die Pendlerströme könnten durch Verkehrszählungen vor Ort einfacher und genauer gemessen werden, gesondert für jeden Straßenabschnitt, jede Bahnstrecke und obendrein bei unterschiedlichen Witterungsverhältnissen.
Geklärt ist der Nutzwert statistischer Informationen ohnehin nicht. Deren »tatsächliche Relevanz«, wendet der Berliner Mathematiker und Statistiker Bernd Kolleck gegen den Zahlen-Enthusiasmus der Volkszähler ein, sei »bisher nicht empirisch ermittelt«. »Quantitative Informationen«, behauptet Kolleck, »stellen Entscheidungshilfen dar, sind aber in den meisten Fällen keineswegs die wichtigsten Orientierungspunkte.«
Die Zensus-Protagonisten können sich nicht einmal darauf berufen, daß irgendeine Fehlplanung aufgrund der letzten Volkszählung 1970 vermieden worden sei. Eher gilt das Gegenteil: daß trotz statistischer Tabellen und Schautafeln verheerend falsche Prognosen gestellt worden sind.
So setzten etwa Energieversorgungsunternehmen mit längst überholten Hochrechnungen über den Stromverbrauch den Bau umstrittener - und wie sich zeigt: überflüssiger - Kernkraftwerke durch. Nicht die ausgefallene Volkszählung hatte, andersherum, die Verslumung in Berlin-Kreuzberg verhindert, sondern allein eine entschlossene Politik gegen Spekulantentum und Kaputt-Sanierung.
Zensus-Kritiker Brunnstein kann daher in der Totalerhebung »überhaupt keinen Sinn erkennen« - er sieht darin schlicht eine »Steinzeit-Statistik mit Milliardenaufwand«.
Einen begrenzten Nutzen versprechen sich einige Kommunalpolitiker vom Zensus. Im rheinischen Pulheim, wo die Grünen im Stadtrat eine Aussetzung der Volkszählung verlangten, argumentierte Stadtdirektor Karl August Morisse, bei der Zählung werde endlich mal die richtige Einwohnerzahl ermittelt, und da diese Zahl Grundlage künftiger Finanzzuweisungen ist, ergibt sich zumindest ein mittelbarer Zwang, die Volkszählung umfassend durchzuführen, um wirtschaftliche Nachteile von der Stadt abzuwenden«.
So recht begreiflich ist indes auch diese Begründung nicht. Denn wenn es stimmt, was die Statistiker vermuten, daß die Melderegister bundesweit mit einer Million Karteileichen befrachtet sind, dann beschert die Zählung per Saldo auch den Gemeinden einen Einwohnerschwund.
Da sich der Finanzausgleich ebenso wie etwa das Gehalt des Stadtdirektors, die Sitzzahl im Gemeinderat oder der Zuschnitt von Wahlkreisen nach der Kopfzahl der Bevölkerung bemißt, bedeutet dies in aller Regel eine Korrektur nach unten. Eine möglichst vollzählige Erfassung aller Einwohner kann mithin für die einzelne Kommune nur den Sinn haben, wenigstens nicht in der Relation
zu anderen Gemeinden ins Hintertreffen zu geraten.
Die Fehleranfälligkeit der Melderegister schließen die Statistiker aus Erfahrung bei früheren Volkszählungen. 1970 beispielsweise zeigte sich, daß infolge bloßer Fortschreibung des Ergebnisses von 1961 - Geburten und Sterbefälle, Zuzüge und Fortzüge - rund 860000 Bundesbürger nur auf dem Papier existierten. Grund: Viele Leute meldeten sich nicht ordnungsgemäß ab, wenn sie umzogen und wurden mithin oft doppelt und dreifach gezählt.
Seit dem Melderechtsrahmengesetz von 1980 und den nachfolgenden Ländermeldegesetzen werden jedoch Um- und Abmeldungen sowie die Feststellung des Hauptwohnsitzes automatisch durch Datenaustausch zwischen den Gemeinden miteinander verglichen, eventuelle Abweichungen korrigiert. Zudem stellen die Meldeämter laufend Wahlbenachrichtigungen, Lohnsteuerkarten, Pässe und Personalausweise aus - lauter Gelegenheiten, die angeblich verlotterten Register in Ordnung zu bringen.
Eine bloße Zählung, die immerhin halbwegs sinnvoll wäre, genügt den Zensus-Befürwortern freilich nicht. Vorschläge, den Fragenkatalog abzuspecken, lehnen sie rundweg ab. »Eine Volkszählung, bei der der Bürger nur anzugeben braucht, daß er unter den Lebenden weilt, können wir uns schenken«, meint der CDU-Abgeordnete Paul Laufs.
Vielmehr soll die Volkszählung, so die amtliche Begründung, die »notwendigen Grunddaten« über die Bevölkerung liefern, dem Staat, wie das Verfassungsgericht befand, »die für künftiges Planen und Handeln benötigten Informationen verschaffen«. Nur: Nirgendwo ist definiert, was »notwendig« ist, und welche »Grunddaten« erhoben werden, bleibt der Kungelei zwischen Statistikern und Statistik-Nutzern überlassen.
Der Bundestagsausschuß für Arbeit und Soziales beispielsweise hätte gern noch die Frage nach Behinderten untergebracht - ein Merkmal, über das bisher keine bundesweite Statistik Auskunft gibt, durchaus von Belang für Sozialpolitiker. Aber ist es ein notwendiges Grunddatum? Die Statistiker verzichteten darauf, weil die Frage ihnen nicht opportun erschien - für Zählungskritiker, fürchteten sie, wäre sie womöglich ein Reizwort geworden.
Da läßt sich schon eher mit der Banalität der Fragen kokettieren, die tatsächlich gestellt werden. Die unbestreitbare Harmlosigkeit der einzelnen Volkszählungsdaten verschleiert jedoch, welche Brisanz in ihren multifunktionellen Verknüpfungsmöglichkeiten steckt.
Das Statistische Bundesamt wünscht sich deshalb die Volkszählung als »Mehrzweckerhebung in sich kompatibler Daten«, die beliebig miteinander kombiniert werden können. Indem die Statistiker sich brüsten, welche vielfältigen Erkenntnisse sie aus den wenigen Daten ziehen können, nähren sie aber zugleich den Argwohn der Mißtrauischen, daß in der Praxis auch unlautere Datenverbindungen hergestellt werden könnten, um Menschen mit bestimmten Merkmalen herauszufiltern.
Zumindest eingeschränkt wäre das elektronische Ausmendeln, wenn gar nicht erst alle Daten von jedem erhoben würden, sondern einzelne Fragen nur von einem bestimmten Prozentsatz der Bürger beantwortet werden müßten. Doch auf Stichproben-Verfahren, die von einigen Wissenschaftlern empfohlen werden, wollen sich die beamteten Statistiker nicht einlassen.
Schon 1983 zur Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht hatte ein internes Gutachten des Allensbach-Instituts vorgelegen, in dem beschrieben wird, warum freiwillige repräsentative Stichproben mindestens gleichwertige Ergebnisse liefern wie eine Totalerfassung.
Gegen den »Mythos Totalerhebung« wendet sich auch der Mathematiker Kolleck: Zu Unrecht erwecke das Statistische Bundesamt in seinen Veröffentlichungen den Eindruck, als erbringe eine Vollerhebung fehlerlose Ergebnisse. Kolleck zitiert dazu wissenschaftliche Untersuchungen aus den USA, wonach eine 25-Prozent-Stichprobe »den gleichen Genauigkeitsgrad verspricht wie eine Totalerhebung«.
Dieser Erkenntnis entspricht in den USA eine Zweiteilung der Volkszählung: Auskunftspflicht für alle besteht nur bei den Fragen nach Alter, Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe und Familienstand. Die weiteren Fragen - nach Einkommen, Wohnverhältnissen, Ausbildung und Beruf - werden nur jedem sechsten Haushalt gestellt.
Westdeutsche Zensus-Kritiker rätseln seit langem, warum Bonn - trotz der offensichtlichen Vorteile des US-Verfahrens - auf der Totalzählung beharrt, deren Ergebnisse, bei entsprechend hoher Verweigerungsrate, nicht einmal für polizeiliche Rasterzwecke verwendbar wären.
Für manchen Volkszählungsgegner liegt die Schlußfolgerung nahe, die Regierung wolle lieber eine teure Farce in Kauf nehmen, als durch Zurückweichen einen Gesichtsverlust riskieren. Der Republikanische Anwaltsverein wiederum hält die unter Strafandrohung stehende allgemeine Auskunftspflicht schlichtweg für den »Geßler-Hut der erzwungenen Massenloyalität«.
So wie der tyrannische Schweizer Landvogt Geßler im 15. Jahrhundert seinen Untertanen abverlangte, einen auf einer Stange plazierten Hut zu grüßen, um die Obrigkeitstreue zu prüfen, wolle die Regierung, so der arge Verdacht, mit Hilfe der ansonsten weithin sinnlosen Zählung die Oppositionsbereitschaft der Bundesbürger testen. In der Tat, wenn bei der Massenbefragung auch sonst kein brauchbares Ergebnis herauskommt, eines liefert die Aktion in jedem Fall: eine lückenlose, keineswegs anonyme Auflistung sämtlicher westdeutscher Volkszählungsgegner, säuberlich gestaffelt nach dem Grad ihrer Verweigerungsintensität - ob sie nach der ersten Mahnung gleich klein beigeben, nach wiederholter Zwangsgeldzahlung einknicken oder es gar auf ein Bußgeldverfahren ankommen lassen.
Kurzum: Wenn die Datenschützer nicht wachsam sind, wird erstmals in der Geschichte der Menschheit ein Staat über eine perfekte Dissidenten-Datei verfügen - eine schwarze Liste, von der Geheimdienstler in aller Welt nur träumen können.
Am 18. Februar, vor dem provisorischen Plenarsaal im BonnerWasserwerk.In der Druckerei in Prien am Chiemsee.