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Hausmitteilung Datum: 17. Oktober 1966 Statt Karten

aus DER SPIEGEL 43/1966

Datum: 17. Oktober 1966 Betr.: Statt Karten

In dem einen Raum, der anfangs die gesamte SPIEGEL -Redaktion beherbergte, hatten Deutschland-, Auslands - und Kulturredaktion je einen grossen Tisch, um den herum sämtliche Redakteure sassen. Abseits dieses Copydesk-Treibens sass allein ein mähniger junger Mann von knapp 22 und tippte Wirtschaftsartikel selbst in die Maschine. Bereits in der ersten Ausgabe der Zeitschrift DIESE WOCHE, die vom 1. Januar 1947 an DER SPIEGEL hiess, war der junge Wirtschaftsredakteur als Klaus Brawandt im Impressum verzeichnet gewesen, seit 1962 steht er als Leo Brawand unter den stellvertretenden Chefredakteuren. Zum Wirtschaftsschreiber von DIESE WOCHE Nr. 1 qualifizierten ihn nur eine Lehre im Versicherungsfach, Langemarck-Studium und Examen an der »Reichsaussenhandelsschule« sowie Lehrtätigkeit an der hannoverschen Privathandelsschule Buhmann, doch ist der heutige Stand von Brawands wirtschaftlichem Wissen als Frucht eines 40semestrigen Studiums der Volkswirtschaft zu bewerten: Vom schwarzen Markt 1946 bis zum schwarzen Haushalt 1967 hat er erforscht und beschrieben, was Wirtschaftsamt, Wiederaufbau, Währungsreform, Wirtschaftswunder, Wohlstandsgesellschaft, Wirtschaftsgemeinschaft als Schlagworte markieren, in seinen Titelgeschichten - an die hundert - beschrieb er Beitzens Aufstieg und Borgwards Fall (Schlickers Aufstieg und Fall in je einem Titel), Abs und Flick, Nordhoff und Oetker, Krages und Krupp. Peter Brügge erwähnte in seiner Satire auf den SPIEGEL (Nr. 8/1966) Brawands »extra trockene Einsilbigkeit«. Hört man ihn auf Konferenzen, so scheint seine Welt aus SPIEGEL-Wirtschaftsgeschichten ("gut") und sonstigen SPIEGEL-Geschichten ("schlecht") zubestehen. Die Arbeit seiner 13 Redakteure und Korrespondenten, denen er laut Brügge mit einem beissenden »Schön-schön« das Wort abschneidet, schirmt er gegen Drohungen und Lockungen der Milliardäre und Bosse ebenso ab wie gegen Kritik und magazinbedingte Anforderungen seiner SPIEGEL-Oberen - ein Zerberus vor Eingang und Ausgang der Wirtschaftsredaktion zugleich, der sich weder füttern noch streicheln lässt. Bei Beginn der SPIEGEL-Affäre war er der Mann, der im Schrank sass, als sein Zimmer versiegelt wurde. Auf Gefängnispapier kritzelte Augstein: »Ich ordne an: Leo Brawand wird Chefredakteur für alle Artikel, die sich mit der SPIEGEL-Affäre befassen.« Am letzten Freitag hatte Brawand 20jähriges Dienstjubiläum, als dienstältester SPIEGEL-Angehöriger nächst Augstein selbst. Ganz Wache merken nun, dass auch der SPIEGEL dann ja 20jähriges Jubiläum haben muss. Aber diejenigen, die am 16. November kondolieren (20 Jahre seit Nr. 1 DIESE WOCHE), wird der SPIEGEL auf den 4. Januar 1967 verweisen (20 Jahre seit Nr. 1 DER SPIEGEL), und diejenigen, die dann kommen, zurück auf den Oktober 1966 (20 Jahre seit Gründung der Redaktion). Dies statt Karten, Beileidsbesuche höflichst verbeten.

Brawand 1946 (mit britischem Minister Hynd)

Brawand heute (mit britischem Ex-Minister Heath)

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