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Hausmitteilung Datum; 30. August 1965 g.Kdos.

aus DER SPIEGEL 36/1965

Datum; 30. August 1965 Betr.: g.Kdos.

An welche Gerüchte über vertuschte Affären in der NSEpoche kann sich der Zeitgenosse, Jahrgang 1920 und älter, spontan erinnern? An die Goebbels-Gerüchte 1936 (Reichspropagandaminister von Gustav Fröhlich geohrfeigt wegen Liebschaft mit Filmstar Lida Baarova) an die Blomberg-Gerüchte 1938 (Reichskriegsminister entlassen wegen Ehelichung einer Unterhaltungsdame mit Hitler als Trauzeugen), an die Fritsch-Gerüchte 1938 (Oberbefehlshaber des Heeres entlassen wegen § 175). Heute ist geklärt, dass sich Joseph Goebbels auf dem Reichsparteitag Lippenstift der Baarova von der Backe wischte (aber keine Ohrfeigen bekam), dass über Eva von Blomberg, geborene Gruhn, sittenpolizeiliche Vorgänge existierten und dass Generaloberst Werner Freiherr von Fritsch Opfer einer planvollen Gestapo-Verwechslung mit einem Rittmeister a.D. von Frisch war. Als Schuldiger der Affäre Fritsch zeichnet sich in den Quellen Gestapo-Kriminalrat Joseph Meisinger ab, der in Berlin eine Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität« leitete. In Polen, wo Fritsch - kriegsgerichtlich rehabilitiert, militärisch kaltgestellt - als Frontbeobachter den Tod fand und wohl auch gesucht hatte, beging Meisinger als Polizeikommandeur von Warschau sogar nach dem Wortlaut von SS-Memoiren »bestialische Taten«. Vor einem von Himmler im Zorn angeordneten Standgericht wurde er nach Übersee in Sicherheit gebracht, als Polizeiattaché in Tokio. Wenn dar ehemalige Marine-Attaché in Tokio, Paul Wenneker, seit kurzem im Hamburger Untersuchungsgefängnis gerichtliche Klärung erwartet, ob unter seiner indirekten Verantwortung ein Matrose auf der Seeroute von Japan nach

Deutschland ersäuft wurde, so steht im Hintergrund Meisinger als direkt Verantwortlicher für den Befehl, bei Verlust des Schiffes den Matrosen nicht mit von Bord zu nehmen. Über Meisinger sind die Akten geschlossen, er wurde in Polen hingerichtet. In den noch frischen Fall des Admirals Wenneker bringt dieser SPIEGEL erstes, wenn auch noch schwaches Licht (Seite 36). Am Falle des Freiherrn von Fritsch ist die Zeitgeschichte bisher gescheitert. Von Fehlern behaftet sind die Darstellungen des Chefs der Wehrmachtsrechtsabteilung und

des Verteidigers im Fritsch-Prozess, fehlerhaft auch Memoiren des Grossadmirals Raeder und aufgezeichnete Haftzellen-Plaudereien Hermann Görings. Allen Überlieferern und Kritikern fehlt als entscheidende Unterlage das Urteil ("Geheime Kommandosache") des Gerichts unter Vorsitz von Luftwaffenbefehlshaber Göring, mit den Befehlshabern von Marine und Heer, Raeder und von Brauchitsch, als Beisitzern. Dass der amtliche Urteilstext mit diesem SPIEGEL der Zeitgeschichte übergeben werden kann (Seite 47), dankt der SPIEGEL einem ehemaligen Prozessgegner, den er

zum Freund gewann - dem Wiesbadener Rechtsanwalt und einstigen Widerstandskämpfer Fabian von Schlabrendorff. Er gelangte in den Besitz der wahrscheinlich einzigen existierenden Kopie und überliess sie dem SPIEGEL zum Vorabdruck, honorarfrei.

v. Fritsch

Meisinger

Wenneker

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