Hausmitteilung Datum: 6. März 1972 Serie
Am Umbruchtisch scherzten die Kollegen: »Wenn jemand zum Arzt muss, dann am besten noch diese Woche«, noch ehe nämlich der erste Teil der neuen SPIEGEL-Serie heraus ist, die in diesem Heft beginnt und in der das Gesundheitswesen in der Bundesrepublik und dessen Reformbedürftigkeit dargestellt werden. Ganz unbegründet war der Scherz nicht, nachdem ein Facharzt im »Deutschen Ärzteblatt« vom 10. Februar 1972, dem Standesorgan sämtlicher in der BRD zugelassenen Ärzte, geschrieben hatte: »Gleichzeitig muss die Ärzteschaft aufgefordert werden, das Agitationsblatt SPIEGEL aus den Lesemappen der Wartezimmer zu entfernen. Sollen wir unsere erklärten Feinde auch noch finanzieren und unsere Patienten in unseren eigenen Wartezimmern gegen uns aufhetzen lassen?«
Ganz so schlimm wird es nicht werden. Allerdings klingt vieles, was Redakteure des hausintern KuK I genannten Redaktionsressorts für Naturwissenschaft und Technik in zum Teil zweijähriger Arbeit recherchiert haben, wenig beruhigend. Es geht dabei nicht um Krippenneid, weil etwa die Einkünfte von Krankenkassenärzten vom ersten Qual-tal 1970 bis zum ersten Quartal 1971 zwischen 25 und 38 Prozent zugenommen haben: angemessenes, ja reichliches Honorar steht jedem zu, der sich aktiv um die Gesundheit seiner Mitmenschen sorgt. Weniger ermutigend sind die Durchschnittswerte, die der Jahresrückblick auf 1971 erbringt: Demnach hat sich bei fünf- undvierzigtausend frei praktizierenden Kassenärzten jeder Patient im Durchschnitt drei Minuten im Sprechzimmer aufgehalten, nur in jedem fünften bis achten Fall etwa fünfzehn Minuten, die dann als »eingehende, das gewöhnliche Mass übersteigende Untersuchung« gelten. Die ärztliche Gebührenordnung (GOÄ) umfasst für die Abrechnung mehr als eintausend Positionen. Als die Abrechnung der Kassenärztlichen Vereinigungen auf EDV umgestellt wurde, ergab sich in Berlin, dass bei den praktischen Ärzten 94 Prozent der gesamten Praxisarbeit auf nur dreissig immer wiederkehrende GOÄ-Positionen beschränkt blieben, bei den Augenärzten sogar 99, bei den Chirurgen 87 Prozent.
Der niedergelassene Arzt, nach einer Formulierung der Sozial-Enquete der Bundesrepublik die Schlüsselfigur des heutigen Gesundheitswesens«, bestimmt sich oft immer noch nach Paracelsischen Massstäben. »Arzt-Sein«, nannte es im vergangenen Jahr der Ehrenpräsident des Deutschen Ärztetages, »ist in Wahrheit ein Priesteramt.« Manchem Patienten mag das recht sein, die meisten wären sicherlich statt von einem Medizinmann besser von einem Wissenschaftler versorgt, dessen Kenntnisse dem Stand der jüngsten Forschung entsprechen.
Jede Verallgemeinerung, jede Statistik ergibt nur theoretische Durchschnittswerte und nivelliert, ihrer Natur nach, die Extreme. Der unfehlbare Chirurg der Fernsehserien und der elegante medizinische Causeur der Salonbühnen tritt in der SPIEGEL-Serie nicht auf. Aber die bis an den Rand physischer Möglichkeiten im Bereitschaftsdienst tätigen Assistenten, der hilfreiche Hausarzt, der auch in der Nacht zum Sonntag herüberkommt, der behutsame Gynäkologe -- sie alle und viele hervorragende Vertreter ihres Standes sind auch den SPIEGEL-Redakteuren bekannt, die an diesem Porträt des deutschen Gesundheitswesens mitgezeichnet haben.