DDR: Die Bürger werden aufsässig
Am Ufer des Hölzernen Sees, im märkischen Schulungslager der Ost-Berliner Humboldt-Universität, widerfuhr Seiner Magnifizenz ein peinliches Mißgeschick: Rektor Helmut Klein, SED-Pädagoge und eloquenter Verfechter der jeweiligen Parteilinie geriet ausgerechnet hei der politischen Pointe seines Vortrags ins Stottern.
Klein hatte die Professoren, die Partei- und Jugendfunktionäre seiner Bildungsanstalt um sich versammelt, um mit ihnen das neue Studienjahr vorzubereiten. Und nun war der Genosse Professor gerade dabei, eine vierstündige Debatte über Bösewichter wie Biermann und Bahro zusammenzufassen.
Leider gebe es, so klagte der SED-Gelehrte, immer noch Hochschullehrer, die sich etwa für den aus der DDR exmatrikulierten Liedermacher Wolf Biermann einsetzten. Doch »zum Glück« wendeten sich diese fehlgeleiteten Akademiker nicht an den SPIEGEL, sondern vertrauensvoll an die Regierung. An ihn, Klein, ergehe in solchen Fällen der ehrenvolle Auftrag, den Kritikern ihre falsche Sympathie auszutreiben.
Dann, die August-Schwüle wurde immer drückender und -- so ein Teilnehmer -- »der Klein war durch die endlose Diskussion schon ganz daneben«, passierte es. Der Rektor wörtlich: »Bei diesen Gesprächen habe ich festgestellt, daß diese Leute in der Betrachtung des Politbüros und der Kulturpolitik der Partei dieselbe Meinung haben, wie sie auch an unserer Universität jeder kluge Student ha ... ha ... -- halt, ich nehme alles zurück!«
Sekundenlang bleierne Stille, danach erste Lacher, Beifall, brausendes Gelächter, Zwischenruf aus dem Hintergrund: »Na endlich mal fast die Wahrheit.«
Beides, die Freudsche Fehlleistung vom Rednerpult wie die Reaktion der Universitäts-Funktionäre, kennzeichnet die derzeitige Stimmungslage der ostdeutschen Führungselite. Fast ein Jahr nach den Protesten, mit denen im vergangenen November über hundert DDR-Intellektuelle für Biermann Partei ergriffen und damit erstmals öffentlich ein Zeichen gegen die Willkür der SED gesetzt hatten, wird offenbar, daß der Bazillus der Aufsässigkeit inzwischen selbst Erich Honeckers Kadertruppen infiziert hat. Die Symptome sind Resignation, Unsicherheit, Hohn, Zynismus.
Konstruktive Kritik, wie sie Rudolf Bahro mit seiner System-Analyse ("Die Alternative") betrieb, bleibt noch die Ausnahme. Opposition in der DDR, das ist bislang vor allem Verbitterung.
»Was ist das?«, fragte ein Teilnehmer der Klein-Runde am Hölzernen See in einer Diskussionspause seinen Nachbarn und malte mit einem Stöckchen eine Gerade in den märkischen Sand, umwunden von einer Schlangenlinie ... Ein Äskulapstab«, antwortete der studierte Genosse. Darauf der Zeichner: »Falsch! Die Senkrechte ist ein Funktionär, der vom geraden Kurs unserer Partei abgekommen ist.«
Die SED-Oberen aber gaukeln sich und ihrem Volk noch immer unverdrossen das Trugbild einer heilen sozialistischen Welt vor. »Es gibt bei uns«, so beschwor Politbüro-Mitglied Kurt Hager erst unlängst wieder vor Funktionären des DDR-Kulturbundes die gute alte Zeit, kein »Austrocknen der Kulturlandschaft. Und es wird niemandem und niemals gelingen, das Vertrauensverhältnis zwischen unserer Partei und den Kultur- und Kunstschaffenden zu zerstören«
Die Wahrheit aber ist: Noch immer ist kein Ende des Exodus ostdeutscher Intellektueller abzusehen, der nach der hinterhältigen Aussperrung Biermanns aus der DDR begonnen hatte.
Nicht nur unter jenen Künstlern, die dem anderen Deutschland in der internationalen Kulturszene zu Anerkennung verholfen haben, wächst die Neigung, bei fortdauerndem Druck lieber ins westdeutsche Exil zu gehen, als sich noch länger engstirniger Parteiräson zu beugen. Auch in der jungen, weithin noch namenlosen Generation der ostdeutschen Intelligenz verbreitet sich Unlust, weiter in einem Staat zu leben, der nicht die schöpferische Initiative, sondern allein den Kotau vor Mutter Partei und ihren Dogmen honoriert. Und Wahrheit ist auch: Gerade jene »Kultur- und Kunstschaffenden«, die, ginge es nach Hager, Vertrauen zur SED haben müßten, weil sie, Geschöpfe des Systems, jahrelang die Hätschelkinder der Partei waren, haben ihr Verhältnis zu den Einheitssozialisten längst gelöst.
Die Wortführer des Widerwillen, sitzen mitten im Partei-Apparat.
Schriftsteller wie Jurek Becker oder Günter Kunert beklagen, weil ihnen daheim das Wort verboten wird, in westlichen Medien den Mangel an Freiheit und Sozialismus in ihrem Land. Auch der Erstlingsband des Ost-Berliners Hans Joachim Schädlich ("Versuchte Nähe"), kürzlich bei Rowohlt erschienen, mußte im Westen publiziert werden, weil sich kein ostdeutscher Verlag bereit gefunden hatte, die kritischen Texte des 42jährigen zu drucken (siehe Seite 254).
In ebenso kunstvollen wie bitteren Parabeln beschreibt Schädlich bislang tabuisierte »Wirklichkeiten der DDR« (Günter Graß), Pressionen gegen ausreisewillige Bürger, die Präzisionsarbeit des Staatssicherheitsdienstes, die Ohnmacht der Bürger vor dem Apparat der Partei und die pathologische Einsamkeit des Allmächtigen, des Parteichefs' inmitten der werktätigen Massen: Sehr kurze Zeit will er denken, das eigene Personal, bewaffnet, starre ihn an: aus der Menge, die verschwunden ist, von Häuserdächern herab und aus geöffneten Fenstern, die leichten, entsicherten Waffen auf ihn richtend; ein Bild, das er, lächelnd, winkend noch einmal, sogleich abweist.
Nicht einmal auf jene Dichter, von denen die Partei gehofft hatte, sie wären aus der Front der Biermann-Sympathisanten herauszubrechen, kann sich die SED verlassen. Die Roman-Autorin Christa Wolf und den Erzähler und Essayisten Franz Fühmann etwa, beide Mitverfasser des Schriftsteller-Protestes vom letzten November, hatten die cleveren Kulturbürokraten mit Milde behandelt, obwohl beide den Kniefall verweigerten. Während die Staatspresse die übrigen Protestler beharrlich totschweigt, fand Christa Wolf s Roman »Kindheitsmuster« lobende Rezensenten. Fühmann würdigte die SED sogar einer raren Auszeichnung: Er wurde im Parteiblatt »Neues Deutschland« abgebildet.
Doch die Verwirrtaktik verfing nicht, die beiden Hofierten vergalten die Gnade schlecht: Vergangenen Monat legten Christa Wolf und Fühmann ihre Ämter im Vorstand des DDR-Schriftstellerverbandes nieder -- aus Protest: Die SED habe die Lyrikerin Sarah Kirsch »schweinisch« (Christa Wolf) behandelt und außer Landes getrieben.
Kein Zweifel, die Parteiobrigkeit hat den Aufstand ihrer Literaten, ihrer Dichter, Schauspieler und Liedermacher trotz des Einsatzes der Staatsgewalt, trotz Publikationsverbots, Auftragsentzugs, Verhaftung bisher picht zu unterdrücken vermocht, ja nicht einmal unter Kontrolle bringen können. Kulturpapst Hager schwindelt sich mit Bagatellisierungen über den Ärger hinweg; für ihn sind die Opponenten einfach »einige Künstler, die entweder dem Sozialismus seit langem fremd gegenüberstehen ... oder die Orientierung verloren' haben -- hysterisierte, geltungssüchtige Außenseiter der intakten DDR-Gesellschaft.
Doch spätestens seit dem 23. August weiß die SED-Spitze, daß die Wortführer des Widerwillens gegen Bevormundung und Bürokratie, des Widerstands gegen den deformierten Sozialismus nicht nur in literarischen Zirkeln, in Studios und Ateliers zu finden sind, sondern längst mitten im Apparat.
An diesem Tage verhaftete der Staatssicherheitsdienst den SED-Funktionär Rudolf Bahro -- einen Tag nachdem ein Vorab druck aus seinem in der Bundesrepublik verlegten Buch »Die Alternative -- Zur Kritik des real existierenden Sozialismus« im SPIEGEL erschienen war.
Der bis dahin unbekannte Name des Gesellschaftswissenschaftlers und Industriemanagers wurde über Nacht zum Schrecken der Partei. Unzählige DDR-Bürger sahen Bahros Interviews im West-Fernsehen, die Staatsagentur ADN meldete seine Festnahme wegen angehlicher »nachrichtendienstlicher Tätigkeit« mit dem bloßen Namen des SED-Mannes -- als wisse jeder ostdeutsche Leser ohnehin, um wen es sich handele.
Mittlerweile ist Bahros »Alternative«. trotz Importverbots, zum DDR-Bestseller geworden -- für die Top-Genossen aus dem Zentralkomitee ebenso wie für die Parteiredakteure des »Neuen Deutschland«.
Was Bahros Buch für den SED-Staat so gefährlich macht, sind die Nüchternheit, die schonungslose Genauigkeit, mit der er, der Insider, die Blößen des Systems enthüllt. Bahro artikuliert als erster ohne jede dichterische Verbrämung oder Verfremdung das diffuse Unbehagen unzähliger Mitbürger, vom Arbeiter bis zum Direktor, vom kleinen Apparatschik bis zum Führungskader.
Der »real existierende Sozialismus« der DDR habe, so der überzeugte Kommunist, die »in der bürgerlichen Ära von den Massen eroberten Freiheiten« liquidiert, statt sie zu bewahren, soziale Ungleichheit zementiert statt beseitigt; er bevormunde, wider das kommunistische Ideal, die Bevölkerung, übe »lückenlose Zensur« und habe, entgegen der Lehre von Karl Marx, den Staat nicht abgebaut, sondern die ·.unförmige Staatsmaschine in einen Staats- und Parteiapparat verdoppelt«.
Bahros Fazit:
In ihrer jetzigen politischen Verfassung hat diese Ordnung keinerlei Aussicht die Menschen für sich zu gewinnen. Angesichts der totalen Konzentration der gesellschaftlichen Macht tritt die Bedeutungslosigkeit des Individuums hier offensichtlicher und allgemeiner zutage als bei dem Spiel der Zufälle und Wahrscheinlichkeiten an der schillernden Oberfläche des kapitalistischen Reproduktionsprozesses.
Die SED-Führung antwortete auf die Herausforderung ihres Funktionärs mit Härte -- und untermauerte damit Bahros Kritik. Statt den Buch-Autor mit Schweigen zu strafen, sperrte sie ihn ein. Statt sich mit seinen Thesen auseinanderzusetzen, verunglimpft sie ihn.
Gleich nach der Verhaftung verfügte das Politbüro, die Agitatoren der Partei sollten dem Thema Bahro in der parteiinternen Kaderschulung ab sofort größte Aufmerksamkeit widmen. Dabei sei, so die Weisung, jede inhaltliche Diskussion der »Alternative« strikt zu vermeiden. Ein SED-Mann: »Bahro wird lediglich diffamiert. Kein Wort über das, was er zu sagen hat.«
Getreu dieser Devise attackierte Jürgen Schuchardt, Erster Parteisekretär und Polit-Chef der Humboldt-Universität, bei der Kader-Tagung am Hölzernen See den »Alternative«-Autor als »schwachsinnigen Kretin«, sein Buch als »idiotischen Schwachsinn«. Inhaltliche Fragen zu Bahros Buch blockte der Funktionär ab, obwohl er seinem Publikum zu verstehen gab, er habe das verbotene Druckwerk gelesen
Auch Schuchardts oberster Dienstherr hielt sich an die Sprachregelung: Gegenüber einer westdeutschen DKP-Delegation tat Erich Honecker den Abweichler mit dem Bemerken ab, bei Bahro handele es sich um einen seit langem bekannten Agenten.
Wie wenig die SED mit dieser plumpen Methode erreicht, wie ansteckend Bahros Kritik vielmehr auch auf führende Genossen wirkt, konnte das Politbüro im SPIEGEL nachlesen. »Unter Mißachtung der elementarsten demokratischen Spielregeln«, so schrieb da ein hochrangiger SED-Mann seiner Partei ins Beschwerdebuch, »wird die DDR regiert wie ein deutscher Duodezstaat des 19. Jahrhunderts: Der Fürst und eine Handvoll Ratgeber ... befinden über die Religion ihrer Untertanen.«
Um mit Bahro gleich alle anderen Unruhestifter unter der Genossenschaft zu disziplinieren, will Politbüro-Mitglied Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit, am »Alternative«-Denker ein abschreckendes Exempel statuieren. Er belegte Bahro mit dem strafträchtigen Spionage-Vorwurf und fand dabei die Unterstützung der Ordnungshüter im Politbüro um den Sicherheitssekretär Paul Verner und schließlich auch die Erich Honeckers.
Der Ost-Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, Ost-West-Vertrauensmann im diskreten Häftlings-Handel zwischen Bundesrepublik und DDR, mußte auf höhere Weisung die ihm angetragene Bahro-Verteidigung ablehnen. Und den Bonner Instanzen, die Interesse am Freikauf Bahros zeigten, wurde von Ost-Berlin bedeutet, auf den Häftling, der vermutlich im Stasi-Gefängnis in Berlin-Hohenschönhausen einsitzt, warte keineswegs die Freiheit im Westen, sondern eine lange Freiheitsstrafe in. der DDR.
Über das Strafmaß verbreiten sich bereits die Agitatoren der Partei. So bat auf einer Sitzung der Berliner Sektion des DDR-Schriftstellerverbandes Sektionschef Günter Görlich, Kandidat des SED-Zentralkomitees, die Literaten zum Fall Bahro doch folgendes zu bedenken: Der DDR-Kundschafter im Bonner Kanzleramt Günter Guillaume habe 13 Jahre bekommen, obwohl er lediglich Informationen gesammelt, sich jedoch aus den inneren Angelegenheiten der BRD strikt herausgehalten habe.
Für Bahro, der nicht nur spioniert, sondern auch zum Umsturz der DDR-Ordnung aufgerufen habe, müsse die Strafe selbstverständlich höher ausfallen. Ein Teilnehmer der Sitzung: »Das sagt der nie ohne Weisung von oben.«
So drakonisch das Urteil gegen Rudolf Bahro auch ausfallen mag, der SED wird es kaum helfen, in ihrem Staat jene dumpfe Bewegungslosigkeit wiederherzustellen, die Ostdeutschlands Einheitssozialisten zum Ideal kommunistischer Zucht und Ordnung erhoben haben: Das Mißbehagen an ideologischer Gängelei, mehr noch aber die Verdrossenheit über die fortdauernde materielle Enge breitet sich zunehmend in allen Schichten der DDR-Bevölkerung aus. Und die Zahl derer, die ihrem Staat lieber heute als morgen den Rücken kehren möchten, geht, nach vorsichtigen Schätzungen, weit über 100 000 hinaus. Konsumgüter als Preis für den inneren Frieden.
Zwar hat sich die politisch indifferente Masse der Ostdeutschen in 28 DDR-Jahren um den Preis eines bescheidenen Wohlstandes mit der verordneten sozialistischen Gesellschaft arrangiert. Doch wird immer fraglicher, wie lange sich die SED die Kosten dieser gekauften Stabilität noch leisten kann.
Die Partei steckt in einem bösen Dilemma: Einerseits muß sie darauf bedacht sein, den Lebensstandard der Bevölkerung ständig zu erhöhen, um die Bürger still zu halten und den Wanderdrang in die Überflußgesellschart Bundesrepublik zu hemmen. Andererseits kann sie die wachsenden Konsumansprüche nur befriedigen, wenn sie ihre wirtschaftliche Abhängigkeit vom Westen vergrößert.
Um die Werktätigen bei Laune zu halten, hat die Parteiführung vor anderthalb Jahren ein aufwendiges Sozialprogramm bis 1980 beschlossen, das von der Einführung der 40-Stunden-Woche bis zu höheren Renten reicht. Außerdem hat sich die SED verpflichtet, bis 1980 über eine halbe Million neue Wohnungen bauen zu lassen.
Zu finanzieren wären die teuren Gaben indes nur, wenn die volkseigene Industrie durch gesteigerten Export die erforderlichen Mittel erwirtschaftet. Produktion für den Weltmarkt aber setzt die Ausrüstung der Betriebe mit modernen Anlagen voraus, die in erforderlicher Qualität fast nur im Westen und mithin nur gegen Devisen zu haben sind.
Zusätzliche Belastungen für die chronisch knappe Devisenkasse der DDR ergeben sich aus den steigenden Weltmarktpreisen für Industrie-Rohstoffe und jene Konsumgüter von Kaffee und Kakao bis zu Schuhen, die Erich Honecker, gewissermaßen als Preis für den inneren Frieden seiner Republik, importieren lassen muß.
»Die Arbeitermacht bei uns«, so warnte der Arbeiterschriftsteller Paul Gratzik in seinem Buch »Transportpaule« erst kürzlich, »darf sich Fehler erlauben, nur den nie, das Herbeischaffen des Kaffees auch nur einen Moment lang zu vergessen.« Mit 13,3 Milliarden Mark im Westen verschuldet.
Allein 300 Millionen Dollar, so klagte Honecker Ende September vor 2400 Parteifunktionären in Dresden, müsse die DDR jährlich für den Import von Rohkaffee ausgeben. Und »fast 14 Milliarden Valutamark zusätzlich« habe der Staat seit 1974 für die gestiegenen Preise bei Rohstoffen und Lebensmitteln aufbringen müssen.
An Valuta aber hapert es mehr denn je. Statt der geplanten 30 Prozent exportierten die DDR-Außenhändler im vergangenen Jahr lediglich 9,7 Prozent ihrer Ausfuhren in nichtsozialistische Länder. Und auch für 1977 -- Plansoll 29,5 Prozent -- sehen die Prognosen der Wirtschaftslenker düster aus. Insgesamt ist die DDR inzwischen mit 13,3 Milliarden Mark bei kapitalistischen Geldgebern verschuldet, mit 2,55 Milliarden allein in der Bundesrepublik.
Kein Wunder darum, daß die SED versucht, durch Preistreiberei gegenüber der Bundesrepublik das Loch im Devisenbeutel ein wenig zu stopfen. Regelmäßig verlangen ihre Vertreter Absprachen über neue, höhere Tarife für den Wegezoll nach West-Berlin, für Postgebühren, für den Freikauf ausreisewilliger Bürger. Immerhin brachte der letzte Posten dem Ost-Berliner Finanzminister Siegfried Böhm in den ersten neun Monaten dieses Jahres 100 Millionen Westmark ein.
Um Devisen zu sparen, mußte das Politbüro bereits im Juli erste unpopuläre Einschränkungen beschließen. So wurde die Benzinzuteilung an Behörden und Industrie um ein Drittel verringert, wurden Repräsentations- und Verwaltungsausgaben gekürzt, die Sozialfonds der Betriebe zusammengestrichen und die Kaffee-Einfuhren verringert.
Die meistgekaufte Kaffee-Sorte »Kosta«, mit 40 Mark für das Pfund ohnehin teuer genug, zog das Ministerium für Handel und Versorgung ohne öffentliche Ankündigung oder Begründung ganz aus dem Verkehr und ersetzte sie durch einen geschmacklosen, aber in attraktive Silberfolie abgepackten »Kaffee Mix« für sechs Mark das Viertel. Betriebskantinen und Gaststätten der unteren Kategorien erhielten die Auflage, nur noch das neue Mischgetränk auszuschenken.
Der Unmut über den Muckefuck-Coup macht sich vor allem in einer Flut bitterer Witze Luft. Seit Wochen kursieren an Stammtischen, in Betrieverleumderischen Witzen, die in der Bevölkerung umliefen. Beispiel:
Anfrage an Radio Eriwan: »Ist es richtig, daß ein Mann einen Mann schwängern kann?«
Antwort: »Im Prinzip nein. Aber fahren Sie mal in die DDR, dort ist gegen Westmark alles möglich.«
Der härteste Test für die Belastbarkeit der DDR-Gesellschaft steht den Ost-Berliner Machthabern noch bevor. Seit einem Jahr brüten die Finanzbeamten der SED über Preiserhöhungen, um die enormen Staatssubventionen für Lebensmittel, Mieten und Dienstleistungen abzubauen -- nach Honeckers Angaben im laufenden Jahrzehnt 120 Milliarden Mark.
Da sich die Partei-Hoffnung auf höhere Exportgewinne bislang nicht erfüllt bat, sind drastische Preiserhöhungen auf dem Binnenmarkt unumgänglich, wenn die Parteiführung ihr kostspieliges Sozialprogramm verwirklichen will. Bereits zweimal nahm die SED Anlauf: Erst zum Frühsommer, dann zum 1. Oktober sollten zunächst die Preise für Alkohol und Zigaretten angehoben werden. Doch wegen der unerwartet heftigen Reaktion der Kaffee-Sachsen auf den staatlich verordneten Verschnitt ihres Lieblingsgetränks wurde die Teuerung abermals verschoben-auf 1978.
Der Mokka-Aufstand verunsicherte die Parteispitze derart, daß sie am 23. September im »Neuen Deutschland« ihren Kaffee-Kurs erstmals öffentlich verteidigte und zugleich revidierte. Auch im Westen, so hieß es da, tränken die Menschen statt des teuren Bohnenkaffees immer mehr Malz-Mischungen oder Tee. Zugleich versprach die SED: »Die Qualität der Mischkaffeesorte »Kaffee-Mix' wird verbessert und künftig zum Preis von vier Mark pro 125-Gramm-Packung im Einzelhandel verkauft« -- zwei Mark billiger als bisher.
Nur drei Tage später widmete sich Parteichef Honecker persönlich den Verbraucher-Sorgen. In seiner Dresdner Rede bat er das DDR-Volk in beschwörendem Ton um Verständnis für die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des SED-Staats.
Er beklagte die steigenden Rohstoffkosten, verwies auf die Belastung des DDR-Haushalts durch die Preissubventionen auf dem Binnenmarkt und schilderte in bewegten Worten die Devisen-Kalamität der Republik: Man habe »bekanntlich« -- nie öffentlich bekanntgemachte Sparmaßnahmen verordnen müssen, um die Importe zu senken, und benötige die Einnahmen aus den »Intershops"' um »unsere Volkswirtschaft noch stärker zu entwickeln«.
Der erwartete Dank aus Bonn blieb aus.
Mit einer für Partei-Potentaten beachtlichen Offenheit übte der Spitzengenosse Selbstkritik: »Natürlich übersehen wir nicht, daß nun Bürger der DDR, die keine Devisen besitzen, in gewissem Sinne im Nachteil gegenüber denen sind, die über solche Währung verfügen.«
Zum Ausgleich versprach Honecker den Habenichtsen den Ausbau der sogenannten »Exquisit«- und »Delikat«-Läden, in denen auch der Normalverbraucher »Waren der höheren Preisklasse« (Honecker) zu noch höheren Preisen erstehen kann -- freilich mit Ost-Mark. Dort kosten zum Beispiel 20 West-Zigaretten, die im »Intershop« für 2,20 West zu haben sind, sieben Mark Ost.
Nicht erst seit seinem Auftritt im Kulturpalast am Dresdner Altmarkt bemüht sich der SED-Chef' verlorenes Partei-Terrain gutzumachen' den Mißmut der Bürger zu dämpfen, die aufgebrachte Intelligenzia zu beschwichtigen. Schon seit Monaten dürfen auch solche Schriftsteller wieder besuchsweise in den Westen reisen, die zu den zunächst verfemten Unterzeichnern des Biermann-Protestes zählen. Der Poet Günter Kunert ("Der andere Planet") bekam sogar ein auf zwölf Monate befristetes Dauer-Ausreisevisum.
Und dem Jazz-Musiker Klaus Lenz, einem der populärsten DDR-Band-Leader, machten die Obergenossen ein Traum-Angebot: Wenn der Trompeter seinen Ausreiseantrag zurückziehe' dürfe er sich künftig zwischen Ost und West frei bewegen. Lenz akzeptierte,
Zu seinem 65. Geburtstag im August zeigte sich Honecker noch großzügiger. Er entließ über ein Dutzend seit November letzten Jahres inhaftierte Biermann-Sympathisanten und Bürgerrechtler in den Westen, die meisten freilich wider Willen und überdies gegen eine Bonner Devisenspende, die weit über der sonst üblichen Kopfquote von 48 000 Mark lag.
Unter den Abgeschobenen war auch der Schriftsteller Jürgen Fuchs, 26, der am 19. November 1976 aus dem Auto seines Mentors heraus, des Regime-Kritikers Robert Havemann, von Mielkes Stasi verhaftet worden war und neun Monate in den Zellen der Geheimpolizei verbracht hatte (siehe Seite 67).
Wie Fuchs, der überzeugte Sozialist, wären auch seine beiden zur selben Zeit freigesetzten Freunde, die Liedermacher Gerulf Pannach und Christian Kunert, lieber zu ihren Familien in der DDR zurückgekehrt, als sich am 26. August dieses Jahres in West-Berlin wiederzufinden, Immerhin: Gegen West-Gebühr schickte die SED den Entlassenen ihre Angehörigen hinterher.
Zu offiziellen Dankesworten, wie sie Honecker in Bonn hatte anmahnen lassen, mochte sich die Bundesregierung jedoch nicht verstehen. Helmut Schmidt machte dem SED-Chef kund, gerade in dieser Situation seien dem Kanzler wohl kaum Lobreden auf die DDR abzuverlangen.
Die Situation: Just an jenem 23. August, an dem Fuchs und Genossen ihr bevorstehender Abschub angekündigt worden war, hatten Mielkes Männer den »Alternative«-Autor Bahro eingesperrt. Und seine Verhaftung markierte das Ende des kurzen Honecker-Frühlings.
Nun zeigte sich, wie eng der Spielraum des ersten Mannes der DDR in Wirklichkeit längst ist. Walter Ulbrichts Nachfolger, der sieh zunächst vor allem mit seiner Normalisierungspolitik gegenüber der Bundesrepublik und seinen Sozialprogrammen wenigstens ein gewisses Maß an Vertrauen erwerben konnte, ist dabei, seinen Kredit zu verspielen.
Wenige Tage nach dem Dresdner Offenbarungseid des SED-Chefs streikten im Ost-Berliner Stadtteil Marzahn Bauarbeiter aus der Provinz. Der Grund: In Marzahn wird derzeit ein neuer Stadtbezirk hochgezogen. Um das Renommier-Projekt schneller voranzubringen, wurden Werktätige aus allen Teilen der DDR abkommandiert, ihr Lohn jedoch nicht dem schon immer höheren Niveau der Hauptstadt-Kollegen angeglichen.
Und am Nationalfeiertag der DDR, Freitag vorletzter Woche, kam es -- erstmals seit dem Juni 1953 -- in Ost-Berlin sogar zu handfesten Krawallen.
Nach Abschluß eines Jazz-Konzertes am Fernsehturm hinter dem Alexanderplatz hatten einige der mehr als 1000 Jugendlichen die Mauer eines Belüftungsschachtes bestiegen und waren abgestürzt. Als Krankenwagen die Verletzten abtransportieren wollten, entspann sich eine stundenlange Schlägerei zwischen den vom Anblick der sich rasch vermehrenden Uniformen aufgeheizten Jugendlichen und Volkspolizei.
Die jungen Leute rissen Zementplatten aus dem Pflaster, warfen die Scheiben der umliegenden Geschäfte ein und riefen »Bullen raus aus Ostdeutschland«, »Mauer weg« und »Freiheit, Freiheit«. In den Außenbezirken demolierten noch spät in der Nacht heimkehrende Jugendliche Straßenbahn-Waggons.
Zwischenfälle wie die von Marzahn und vom Fernsehturm machen deutlich, wie weit die auf Ruhe und Ordnung gedrillten DDR-Untertanen der starken Hand ihrer Partei bereits entglitten sind. Und die Schuld daran geben die Genossen in der Parteiführung vor allem ihrem Generalsekretär Erich Honecker. Sie werfen ihm vor, die Westöffnung habe dem Staat nur neue Probleme gebracht, die Wirtschaft in immer größere Abhängigkeit zur Bundesrepublik manövriert, beim Volk Begehrlichkeit auf mehr Freiheit geweckt.
Nicht einmal der Sowjets, die ihn einst gegen den starrsinnigen Ulbricht protegierten, kann sich der ostdeutsche Generaisekretär' mehr sicher sein. Sie geben vor SED-Freunden zu bedenken, daß die wachsenden ökonomischen Bindungen an Bonn eines Tages auch die politische Standfestigkeit des Moskauer Vorpostens untergraben könnten. Und sie zitieren inzwischen wieder den sonst totgeschwiegenen Honecker-Vorgänger mit dessen Dauer-Mahnung, die »Störfreimachung« der Republik von westlichem Wirtschaftseinfluß sei sozialistische Hauptaufgabe. Mielkes »spezifische Mittel und Möglichkeiten«.
Schon wägen jüngere Politbüro-Mitglieder ihre Karriere-Chance. Hoffnungen macht sich vor allen der ehemalige Marxismus-Lehrer Konrad Naumann, 48, der als Chef des potenten Ost-Berliner Parteibezirks über eine schlagkräftige Hausmacht verfügt. Längst auch sitzen Naumanns Leute in Schlüsselpositionen des zentralen Partei- und des Staatsapparats. Ein hoher Genosse: »Der gräbt schon die Startlöcher.«
Im Führungszirkel der Partei gewinnen unterdessen die Einreden der Staatssicherheits-Wächter um Verner und Mielke an Gewicht, die, um das System vor Zersetzung zu schützen, nachdrücklich Härte gegen Störenfriede fordern.
Ihnen ist gleichgültig, ob die DDR damit im Westen Ansehen verliert, und Proteste wie etwa den der Gefangenen-Hilfsorganisation »Amnesty International« gegen die Ost-Berliner Praktiken (siehe Seite 164) schlagen sie in den Wind. Sie lassen weiter verhaften: Nach Bahro traf es den Ost-Berliner Diplom-Ökonomen Werner Molik. 26, dem die SED wegen unverhohlener System-Kritik vor Jahresfrist die Promotion aberkennen ließ, ihn mit Berufsverbot belegte, zugleich aber die Ausreise verweigerte. Am 5. September holte ihn der Staatssicherheitsdienst.
Am 17. September war Dagmar Dimitroff, 17 Jahre alt, an der Reihe. Ihr Vergehen: Sie hatte auf dem Pankower Flohmarkt ohne behördliche Genehmigung selbstgemalte Bilder ausgestellt. Auf der Stasi-Liste stand das Mädchen freilich schon seit einem Jahr -- als Mitunterzeichnerin eines Biermann-Protestes 50 Ost-Berliner Jugendlicher.
Ende September holte der Staatssicherheitsdienst den DDR-Bürger Rainer Rodenwald, 28, aus dem mecklenburgischen Ludwigslust -- gleich nachdem der SPIEGEL über den Diplom-Ingenieur berichtet hatte. Rodenwalds Verbrechen war sein Wunsch, als Entwicklungshelfer der DDR nach Tansania zu gehen. Ein Jahr lang hatte sich der Baustatiker vergeblich bemüht, die Behörden für seinen Plan zu gewinnen, bevor er, Ende Juli, resigniert einen Ausreise-Antrag in die Bundesrepublik stellte.
Ebenfalls Ende September drangen Mielkes Angestellte in die Wohnung des 48jährigen Helmut Warmbier in Leipzig ein. Die Staatsschützer durchwühlten sämtliche Zimmer, doch was sie offenbar suchten, fanden sie nicht: ein Exemplar des Bahro-Buches. Warmbier, vor zwei Jahren von der SED gemaßregelter Gesellschaftswissenschaftler, kam in Haft.
Beihilfe zum Staatsschutz müssen nach dem Willen der Partei-Oberen künftig nicht nur Stasi-Profis und bezahlte Spitzel leisten, sondern auch -- ehrenamtlich -- Ordnungstrupps der Parteijugend FDJ. Kommandos im Blauhemd sollen in Diskotheken, Kinos und Kneipen ihre Altersgenossen überwachen.
Wo Mahnung nicht hilft, dürfen die Hilfspolizisten auch zupacken. Jugend-Chef Egon Krenz, 40, gab das Motto aus: »Wir haben ja in der DDR ein kostenloses Gesundheitswesen.«
Nicht ganz so zynisch, dafür aber öffentlich formulierte Staatssicherheits-Minister Erich Mielke, worauf seinesgleichen die Hoffnung stützt, daß die etablierte Macht noch allemal stark genug ist, sich gegen aufkeimende Opposition und zunehmende Irritation bis hinein in die Staatspartei zu behaupten.
»Klarheit in der Frage der Macht«, so schrieb Mielke zum 100. Geburtstag von Felix Dserschinski, dem Gründer der sowjetischen Geheimpolizei, im »Neuen Deutschland«, »war, ist und bleibt eine Grundforderung der marxistischen Weltanschauung und Politik«, und »danach handeln die Angehörigen des Ministeriums für Staatssicherheit«.
Wie sie handeln? Mielkes Antwort: »Unter Nutzung unserer spezifischen Mittel und Möglichkeiten.«
Stasi-Häftling Jürgen Fuchs hat sie am eigenen Leibe erfahren.