Die SED-Führung will, entgegen früheren Plänen, die Modalitäten für Westreisen der DDR-Bürger einstweilen doch nicht in einer Verordnung rechtlich verbindlich festlegen. Um die wachsenden Unruhen im Inneren zu dämpfen, wollten die Genossen ursprünglich noch vor dem 1. Mai ihren Bürgern das Recht auf eine Westreise pro Jahr zugestehen und eine Beschwerdeinstanz bei Ablehnung des Reiseantrags schaffen. Im Politbüro hat sich inzwischen aber die Überzeugung durchgesetzt, eine derartige Geste zum jetzigen Zeitpunkt könnte als Nachgiebigkeit gegenüber der evangelischen Kirche angesehen werden, die eine solche Regelung seit Monaten fordert. Auch eine Neufassung der Konditionen, unter denen republikmüde DDR-Bürger in den Westen emigrieren dürfen, soll es vorerst nicht geben, ebenfalls aus politischen Erwägungen: Ein solches Edikt, das als Teilstück der Reiseverordnung vorgesehen war und die derzeitige Genehmigungspraxis empfindlich einengen sollte, werde die derzeit gespannte Situation im Land, in der sich erstmals Ausreisewillige zu Gruppen zusammentun, nur noch verschärfen. Die SED-Spitze will nun erst einmal die Ergebnisse der KSZE-Nachfolgekonferenz in Wien abwarten. Die aber wird vermutlich frühestens im Herbst ihren Abschlußbericht über Menschenrechtsfragen vorlegen.
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