Debatte Kein Kniefall vor Ratzinger!

Was ist bloß los? Wieso entdecken im Moment so viele Intellektuelle ihre Begeisterung für einen knallkonservativen Kleriker? Es gibt keinen Grund, sich vom Papst moralischen Relativismus vorhalten zu lassen, nur weil man sich nicht in das Wertekorsett des Katholizismus zwängen lassen möchte. Ein Beitrag von Mariam Lau.



Berlin - Habemus Papam. Viele Katholiken, die versuchen mit den Vorgaben ihrer Kirche zu leben, sind erschüttert über die Wahl Kardinal Ratzingers. Dagegen ergehen sich manche Intellektuelle in Unterwerfungsgesten und Selbstgeißelungsritualen, die einen Schiiten in Kerbala vor Neid erblassen lassen würden.

Begeistert wird Ratzingers Schelte der "Diktatur des Relativismus" gerade von denjenigen applaudiert, die vom Pluralismus der Meinungen leben. Was soll an der Auffassung, die Scheidung sei einer zerrütteten Beziehung vorzuziehen, moralisch relativ, also irgendwie beliebig sein? Den einen ist das ungeborene Leben, auch das im Reagenzglas heilig, den anderen die Freiheit der persönlichen Entscheidung - warum ist das eine absolut moralisch, das andere relativ?

Die einen halten Sterbehilfe für Hybris, die anderen für einen Akt der Barmherzigkeit - wo ist hier die Indifferenz? Mag schon sein, dass im Mittelalter noch jeder gewusst hat, wo sein Platz ist, aber wollen wir deshalb wirklich gleich Ratzingers Relativismus-Kritik lobpreisen? Selbst die liberale "Zeit" erkennt heute in Papst Benedikt XVI. einen Bündnispartner im Antikapitalismus und gegen den Irak-Krieg und will mit ihm "die Vernunft in die Schranken weisen". Da drängt sich vollends der Eindruck auf, hier solle das Papamobil den versenkten Karren der Frankfurter Schule aus dem Morast ziehen - frohes Schaffen!

Den Anfang hatte Jürgen Habermas gemacht - derselbe Habermas, der noch vor ein paar Jahren das "nachmetaphysische Denken" verteufelte. In den achtziger Jahren hat er jedermann des "Neokonservatismus" verdächtigt, der die These wagte, dass "die Moderne den sinnstiftenden und tröstenden Gegenhalt nicht aus sich selber produzieren kann", so Habermas 1985 in einem programmatischen Aufsatz. Er goss Häme aus über jene Denker, die der haltlosen Moderne einen Bedarf an "gegenwirkenden Traditionen" attestierten. Sie waren Reaktionäre, Philosophen der Kohlschen Tendenzwende und gehörten als solche entlarvt und an den Pranger gestellt.

Derselbe Habermas räumte vor einem Jahr im Gespräch mit Ratzinger ein, der säkulare Verfassungsstaat sei auf die "säkularisierende Entbindung religiös verkapselter Bedeutungspotentiale" dringend angewiesen - was für ein Gang nach Canossa! Da wurde die Religion zur Revitalisierung des politischen Systems schamlos eingespannt. Wer da Erfahrungen sucht, sollte mal nach Iran fahren: Von dieser Wechselbeziehung hat weder Religion noch Staat profitiert. In den religiösen Gemeinden, so Habermas, könne "etwas intakt bleiben, was andernorts verloren gegangen ist", nämlich "Sensibilitäten für verfehltes Leben, für gesellschaftliche Pathologien, für das Misslingen individueller Lebensentwürfe und Deformation entstellter Lebenszusammenhänge".

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Rom: Beifall, Jubel, Freudentränen

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Das ist freilich nicht die Kirche, die Joseph Ratzinger meint. An der Seite seines Amtsvorgängers hatte er so weit wie möglich versucht, die Impulse, die das Zweite Vatikanische Konzil gegeben hatte, zurückzudrängen. Er war ein strikter Kritiker der Idee von der Kirche als dem "Volk Gottes", wie es in einem Dokument des Konzils heißt. Laieninitiativen wurden von beiden nachhaltig entmutigt, die Debatten auf Bischofssynoden eingehegt. Ratzinger lehnte auch die Vorstellung ab, der Mensch sei das Ebenbild Gottes; er sei nur das Ebenbild Christi, und dieser das Ebenbild Gottes. Es war Ratzinger, der mit argumentativem Feinschliff gegen die liturgischen Veränderungen des Konzils anging, vor allem der Neupositionierung des Altars, nach der der Priester den Gläubigen das Gesicht zuwendet. "Ist der Priester etwa wichtiger als der Herr?" Seelsorge ist nicht seine Stärke. Der Klerus mit dem Rücken zu den Gläubigen - das ist gewiss nicht die Kirche, in der die Habermasschen "Sensibilitäten für verfehltes Leben" aus ihren "Bedeutungskapseln" zu saugen sind.

Bemerkenswerterweise ist ja Ratzinger selbst so etwas wie ein "Neokonservativer", ein ehemaliger Linker, der gemeinsam mit Hans Küng, Karl Rahner oder Johann Baptist Metz die Zeitschrift "Concilium" herausgab. Sein 1968 erschienenes Buch "Einführung in das Christentum" galt als so aufrührerisch, dass der konservative Kardinal Stefan Wyszynski es aus seiner Diözese verbannte. Mit Karl Rahner verfasste er einen Entwurf der Kurie zum Thema Rolle der Kirche, das als zu "avanciert" für das Konzil galt. Aber im selben Jahr der Studentenunruhen, 1968, nachdem seine Vorlesung mit Sit-ins und lauten Protesten gestört worden war, gab er seinen Lehrstuhl auf und ging an die neue Universität von Regensburg, in seine alte bayerische Heimat. In seinem Buch "Salz der Erde" von 1997 bezeichnet er die Aktivisten als "tyrannisch, brutal und grausam", und man fühlt sich an die Definition des "Neocon" als einem Liberalen erinnert, dem die Realität eins über den Schädel gegeben hat.

Der Kirche laufen die Gläubigen in Scharen davon. Nur 15 Prozent der deutschen Katholiken besuchen nach eigenem Bekenntnis wenigstens einmal in der Woche eine Messe. Ob das wohl daran liegt, dass Ratzingers Kirche sie zur Heuchelei zwingt, mit ihren Scheidungen, Abtreibungen, Kondomen, homosexuellen Abenteuern und sonstigen Schwächen und Verfehlungen? Die wenigen, die das Kirchenleben in Deutschland aufrecht erhalten, sind vielfach an Ratzinger und seinen Interventionen verzweifelt; bestes Beispiel war in der Tat die Beratung für abtreibungswillige Frauen, die er bei Strafe des völligen Ausstiegs der Kirche ablehnte.

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Titelseiten: "Wir sind Papst!"

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Aber das sind nicht die Sorgen des Feuilleton-Katholiken, den niemand fragt, auf wie viele Rosenkränze pro Woche er kommt. Mit wohliger Unterwerfungsbereitschaft feiert er gerade den Papst als ehemaligen Präfekten der Glaubenskongregation, einem Erbe der Inquisitionsbehörde. Angeblich sind unsere moralischen Grundlagen aufgezehrt (hast du heute auch deine Sinnressourcen schon aufgegessen?) - und da soll eine Enzyklika gegen den Menschen als Ebenbild Gottes helfen?

Gott lebt, Nietzsche ist tot.

Mariam Lau lebt in Berlin und leitet die Redaktion Forum in der Tageszeitung "Die Welt".

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