Debatte um Ost-Babymorde "Armut allein tötet keine Kinder"

Warum kommt es in Ostdeutschland zu so vielen Kindstötungen? Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Böhmer löste Empörung mit der These aus, dass die DDR-Mentalität eine Rolle spielt. Im Interview mit SPIEGEL ONLINE spricht Kriminologe Christian Pfeiffer darüber - und über die Ursachen.

SPIEGEL ONLINE: Ist wirklich das lasche Abtreibungsrecht in der früheren DDR daran schuld, dass so viele Frauen im Osten ihre Kinder töten, wie Sachsens-Anhalts Ministerpräsident Böhmer behauptet?

Christian Pfeiffer: Das kann man nicht so eindeutig sagen. Man muss Böhmers unglückliche Äußerung vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen als Gynäkologe betrachten. An unserem Institut läuft derzeit eine Studie zu diesem Thema. Wir sprechen uns gegen Denkverbote aus, wollen nichts tabuisieren – auch nicht den Aspekt, den Herr Böhmer genannt hat. Der Punkt spielt für uns Wissenschaftler eine Rolle, aber es gibt noch viel mehr Gründe, weshalb Frauen ihre Kinder töten als nur das Abtreibungsrecht der DDR.

SPIEGEL ONLINE: Welche denn?

Pfeiffer: Im Osten geraten Frauen häufiger in soziale Notlagen als im Westen, die Armut ist größer und die sozialen Netzwerke geringer. Allerdings ist nicht nur der Osten betroffen, wir stellen auch fest, dass es im Westen dort mehr Kindstötungen gibt, wo sich solche Faktoren bündeln – in den Großstädten. Auf dem Land herrscht offenbar noch mehr die Überzeugung, dass Kinder etwas Besonderes sind, dort gibt es noch mehr funktionierende Netzwerke. Deshalb ist die Gefahr dort wohl geringer, dass eine Frau ihr Kind umbringt. Wir haben in unserer Studie allerdings erst 150 von 900 Fällen untersucht, von daher kann ich mir noch kein abschließendes Urteil erlauben.

SPIEGEL ONLINE: Wie ist denn der große Unterschied zwischen Ost und West zu erklären?

Pfeiffer: Das können wir im Augenblick noch nicht definitiv sagen. Fest steht, dass es im Osten mehr Armut gibt und mehr Familien in sozialer Not sind. Aber Armut tötet noch keine Kinder. Im Osten sind viele soziale Netzwerke kaputt, viele leben von Hartz IV und sind völlig überfordert. Dort wo religiöse Bindungen stark sind, gibt es weniger Abtreibungen und weniger Kindstötungen.

SPIEGEL ONLINE: Welche Rolle spielen denn Werte?

Pfeiffer: Eine sehr große. Die Wertorientierungen eines Menschen beeinflussen seine Verhaltensweisen stark. So fällt auf, dass dort, wo der Einfluss der Kirche noch groß ist, weniger Kinder getötet werden als im Osten, wo ihr Einfluss gering ist. Der Zusammenhang ist zwar nicht bewiesen, aber er ist auffällig. Dort, wo die Kirche stark ist, gibt es Beratungsstellen und soziale Aktivitäten. Das fehlt im Osten.

SPIEGEL ONLINE: Was sind das überhaupt für Frauen, die ihre Kinder töten?

Pfeiffer: Wir unterscheiden drei verschiedene Typen. Einmal solche, die sozial isoliert sind. Sie verheimlichen ihre Schwangerschaft, noch nicht einmal die eigene Großmutter weiß davon. Nach der Geburt hat die Frau niemanden, tötet das Kind oder überlässt es sich selbst. Fast jede dritte Tat fällt darunter. Dann gibt es die Gruppe der psychisch Kranken, aber hier zeigen sich vermutlich keine regionalen Besonderheiten. Zuletzt Frauen in Notlagen. Sie versuchen zunächst, ihr Kind aufzuziehen, sind jedoch völlig überfordert.

SPIEGEL ONLINE: Herr Böhmer sagte im Interview auch: "Niemandem geht es so schlecht, dass er sein eigenes Kind umbringen muss." Wie sehen Sie das?

Pfeiffer: Streng genommen hat Herr Böhmer Recht, niemand muss sein Kind umbringen. Aber das Risiko von Menschen, die in Armut leben, ist höher.

Das Interview führte Corinna Kreiler

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