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SOWJET-UNION / PARTEITAG Deckel auf

aus DER SPIEGEL 12/1971

Es geschah in Sowjet-Rußland: Werftarbeiter und Matrosen traten in den Streik, forderten mehr Lebensmittel und einen Sozialismus ohne Funktionäre. Acht Tage später trat der Parteitag zusammen und beschloß einen neuen Kurs.

Das war vor einem halben Jahrhundert, im März 1921.

50 Jahre später wiederholt sich im sowjetischen Machtbereich die Geschichte: Die Wirtschaft geriet in eine tiefe Wachstumskrise, Arbeiter protestierten gegen Preiserhöhungen bei Lebensmitteln, innerhalb der regierenden Parteien wurden zunehmend kritische Stimmen laut. Und wieder steht ein Parteitag der KPdSU bevor.

1921, zwischen dem 8. und 16. März, beschloß der 10. Parteitag der russischen Kommunisten eine Verschärfung der Parteidiktatur bei gleichzeitiger Liberalisierung der Wirtschaft.

1971, so scheint es, wird der 24. Parteitag der KPdSU, der am 30. März zusammentritt, auf ähnliche Probleme ähnliche Antworten geben müssen -- Festigung der Parteiherrschaft bei Lockerung der Wirtschaftsmethoden. Die Moskauer »Iswestija« erinnerte an das Beispiel: Die »historischen Dokumente des 10. Parteitages haben ihre aktuelle Bedeutung bis jetzt nicht verloren«.

Ein Dokument aus jener Zeit allerdings zitierte die Moskauer »Iswestija« nicht, obwohl es ebenfalls bis heute aktuell geblieben ist -- einen Brief, den eine im rebellischen Ostsee-Stützpunkt Kronstadt herausgegebene »Iswestija« am 5. März 1921 abgedruckt hatte, der aber auch 1971 hätte geschrieben sein können:

Ich bin zu der Einsicht gelangt, daß die Politik der Kommunistischen Partei dos Land in eine hoffnungslose Sackgasse geführt hat. Sie ist bürokratisch geworden. Sie hat nichts gelernt und will nichts lernen. Sie weigert sich, auf die Stimme der Massen zu hören. 115 Millionen Bauern haben nichts zu sagen. Die Partei will nicht begreifen, daß das Volk nur aus seiner Lethargie erwachen kann, wenn man ihm die Freiheit der Rede und die Möglichkeit gibt, am Wiederaufbau des Landes teilzunehmen. Das ist nur möglich, wenn man das Wahlverfahren gründlich ändert. Ich weigere mich von nun an, mich als Mitglied der Kommunistischen Partei Rußlands zu betrachten

German Kanejew, Roter Kommandeur

In den Jubiläumsartikeln zum 10. Parteitag lassen sich statt solcher Dokumente andere Parallelen finden, sogar Zeichen dafür, was sich die Interessengruppen in der Sowjetführung vom 24. Parteitag erhoffen:

Statt schrittweiser Umwandlung der Roten Armee in eine Miliz, so lobte zum Beispiel die Militärzeitung »Roter Stern«, beschloß der 10. Parteitag, »an der Berufsarmee festzuhalten«, sie aber stärker der Kontrolle politischer Kommissare zu unterwerfen.

Die Nationalitäten, die noch immer nach Gleichberechtigung mit dem russischen Staatsvolk streben, erinnerte das Parteiorgan »Prawda« vorige Woche sogar -- mit Namensnennung -- an Stalin, der 1921 die brüderliche »Hilfe« der Russen bei der Festigung der »Machtorgane« in nichtrussischen Republiken angekündigt hatte.

Bei den Gewerkschaften -- die auch heute den Arbeiter-Unmut im Ostblock auffangen sollen -- »muß man vor allem ... in großem Umfang den Grundsatz der Wahlen aller Organe in die Praxis umsetzen ... und die Methode ihrer Einsetzung von oben abschaffen«. Das beschloß -- pro forma -- der 10. Parteitag, und so versprechen es heute die Ostblock-Parteichefs ihren Proletariern; In Polen, Rumänien, der CSSR und in 6 von 14 Sowjetrepubliken wurden die Gewerkschaftschefs dem Druck von unten geopfert.

Selbst die Opponenten des Sowjet-Sozialismus' von 1971 ähneln denen von 1921. So wie heute demokratische Kommunisten nach dem Prager Modell und radikale Rebellen nach dem Muster der chinesischen Kulturrevolution, erhoben 1921 die »Demokratischen Zentralisten« und die »Arbeiteropposition« ihre Kritik:

Die »Demokratischen Zentralisten« lehnten sich gegen die »Diktatur des Zentralkomitees« auf und forderten, daß »tatsächlich allen Tendenzen in der Partei das Recht gewährt wird, sich frei und uneingeschränkt in der Presse, in Parteiversammlungen und im ... Apparat zu äußern«. So klang es auch im Prager Frühling, so schrieb es auch der sowjetische Atomphysiker Sacharow.

Die »Arbeiteropposition«, angeführt von Alexandra Kollontai (später erster weiblicher Botschafter der Weltgeschichte), proklamierte: »Die schöpferische Selbsttätigkeit der Massen« lasse sich nicht vereinbaren mit der Wirtschaftsleitung durch einen zentralen bürokratischen Apparat, die Zentrale habe Angst vor der Arbeiterklasse; der Kommunismus lasse sich nicht dekretieren, »nur die Arbeiterklasse selbst kann ihn schaffen, nach ernstem Suchen und manchem Irren«.

Gegen solche Entfremdung zwischen Apparat und Proletariat empfahl die »Arbeiteropposition«, alle Parteigenossen sollten gelegentlich körperliche Arbeit leisten -- so wie es heute in der Volksrepublik China verordnet ist.

Rußlands Oppositions-Kommunisten von 1921 erhielten Zulauf vor allem von jungen Industriearbeitern. Mit ihnen suchte Lenin das Gespräch -wie in den letzten Wochen Polens Parteichef Gierek.

In der »Prawda« erinnerte sich die Uralt-Genossin Ljudwinskaja, Parteimitglied seit 1903 und Parteitagsdelegierte von 1921, wie sie damals Moskauer Fabrik- und Eisenbahnarbeiter, Anhänger der Kollontai, zu Lenin führte. Die Proletarier klagten über unregelmäßige Lohnzahlungen, aber Lenin überzeugte sie von der »Gefährlichkeit der Oppositionellen« -- wie Gierek, der vorige Woche vor »subversiven Elementen« warnte.

»Die breiten Massen« zu überzeugen ist uns nicht gelungen«, mußte Lenin jedoch auf dem 10. Parteitag zugeben. In dieser Vertrauenskrise verkündete er eine »Neue ökonomische Politik": An die Stelle der Zwangsablieferungen der Bauern trat eine Naturalsteuer. Der private Handel wurde wieder zugelassen, mit »materieller Interessiertheit« wurde die Erwerbsgesinnung der Arbeiter geweckt. Ausländische Firmen, darunter Krupp und Junkers, erhielten Konzessionen zur Ausbeutung von Bodenschätzen.

Diese 50 Jahre alten sozialistischen Wirtschaftsprinzipien haben, so die »Iswestija« am 7. März 1971, »auch heute noch riesige Bedeutung«.

Gleichzeitig mit der Erweiterung der Wirtschaftsfreiheit wurde 1921 aber die Meinungsfreiheit in der Partei abgeschafft: Es sei an der Zelt, erklärte Wladimir Iljitsch Lenin dem 10. Parteitag, »mit der Opposition ein Ende zu machen, ihr den Deckel aufzustülpen«. Die Bildung von Fraktionen mit unterschiedlichen Ansichten innerhalb der Partei wurde -- bei Strafe des sofortigen Parteiausschlusses durch das ZK -- untersagt.

Der Anti-Fraktionsbeschluß gilt noch heute. Die »Iswestija« in ihrem Jubiläums-Artikel:

Der Kampf gegen den linken Opportunismus, der sich mit der ultrarevolutionären Phrase bemäntelt, ist auch heute eine wichtige Aufgabe. »Linke« Opportunisten besorgen auch heute nach ihr dunkles Geschäft, sie stoßen die Massen zu abenteuerlichen Aktionen, sogar die Parteien auf einen sektiererischen Weg ...

Die linke Aktion von Kronstadt hatte der 10. Parteitag zur »Konterrevolution« erklärt; rund 200 der Parteitagsdelegierten beteiligten sich persönlich an der blutigen Niederschlagung des Aufstands.

Diesmal jedoch, Kronzeugin Ljudwinskaja ist überzeugt, wird es mit den Linken keine Abenteuer geben: »Unsere Partei geht eng geschlossen um das Leninsche ZK dem 24. Parteitag entgegen. Wie froh wäre Wladimir Iljitsch, wenn er die monolithische Einheit aller Parteimitglieder und des ganzen Sowjetvolkes sähe!«

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