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Artikel 25 / 67

»Dein armer J. Stalin«

aus DER SPIEGEL 40/1967

2. Fortsetzung

Stalins Sohn wird gefangen -- Die Kapler-Affäre

Unser sorglos heiteres Kinderdasein, ausgefüllt mit Spiel, nützlichen Beschäftigungen und Lernen zerfiel nach Mamas Tod sehr bald. Als ich im darauffolgenden Jahr, im Sommer 1933, in unser geliebtes Subalowo kam, fand ich unseren Kinderspielplatz im Wald, fand ich die Schaukel, die Ringe, das »Robinson-Häuschen« nicht mehr vor, alles war wie von einem Besen hinweggefegt.

Nur der Platz selbst und Spuren von Sand waren noch längere Zeit zu sehen. Auch unsere Erzieherin, Natalija Konstantinowna, verließ uns; Alexander Iwanowitsch, der Lehrer meines Bruders Wassilij, blieb noch zwei Jahre.

Vater wechselte seine Wohnung; er konnte nicht bleiben, wo Mama gestorben war. Er ließ sich außerdem eine neue Datscha in Kunzewo bauen und übersiedelte für die nächsten zwanzig Jahre dorthin. Die neue Wohnung im Kreml war auch wirklich sehr unbehaglich.

Sie befand sich im ersten Stock des von Kasakow erbauten Senatsgebäudes; früher war sie ein Teil des Amtsgebäudes gewesen; ein langer Gang, auf dessen einer Seite langweilige, gesichtslose Zimmer lagen, mit eineinhalb Meter dicken Mauern und teilweise gewölbten Decken.

Uns Kinder sah Vater in dieser Wohnung nur beim Essen. Hier erkundigte er sich auch nach unseren Fortschritten in der Schule, kontrollierte die Eintragungen der Lehrer und ließ sich manchmal unsere Hefte vorlegen.

Bis 1938 waren nach und nach alle Menschen verschwunden, die Mama seinerzeit noch selbst ausgesucht hatte -- außer meiner Kinderfrau. Sie hatten Mama geliebt und verehrt, aber mit jedem Jahr wurden ihrer weniger.

Als ich einmal im September, zu Schulbeginn, zurückkam, fand ich unsere alte Köchin Jelisaweta Leonidowna nicht mehr vor. Danach kam Tanja dran, die immer so mühelos die schweren Tragebretter voll Geschirr geschleppt hatte. Und zum Schluß ging auch unsere Wirtschafterin Karolina Wassiljewna.

Von nun an ging im Haushalt alles auf Staatskosten. Sogleich wuchs der Stab des Bedienungspersonals oder »Betreuungspersonals« (wie man es, zum Unterschied von den früheren »bourgeoisen« Dienstboten, nannte) ins Unermeßliche.

In jeder Datscha erschienen Kommandanten, ein ganzer Stab von Bewachungspersonal (mit ihren eigenen Befehlshabern), es gab zwei Köche, die sich täglich ablösten, doppelte Belegschaften von Serviererinnen und Putzfrauen, die sich ebenfalls abwechselten. Alle diese Menschen wurden zu »Mitarbeitern« des MGB (oder der GPU, wie es damals noch hieß)*.

1939, als rechts und links alle Menschen ohne Unterschied unter den Sensenhieben fielen, grub jemand die Tatsache aus, daß der Mann meiner Kinderfrau, von dem sie sich noch während des Ersten Weltkrieges getrennt hatte, vor der Revolution als Schreiber bei der Polizei gedient hatte.

Man meldete Vater, sie sei eine »unzuverlässige« Person, außerdem treibe sich ihr Sohn mit Gott weiß was für Leuten herum. Vater hatte keine Zeit, sich mit derartigen Angelegenheiten zu befassen; er war der Meinung, es gebe genug Leute, die den besonderen Auftrag hätten, derartige Dinge herauszufinden, ihm sei nur das »fertige Material« vorzulegen.

Als ich hörte, daß man die Absicht habe, meine Kinderfrau zu verjagen, fing ich zu heulen an. Vater vertrug keine Tränen; er wurde plötzlich wütend und verlangte, daß meine Kinderfrau in Ruhe gelassen werde.

Bald herrschte der staatliche, halbmilitärische Geist nirgends so stark wie

* MGB Ministerium für Staatssicherheit; GPU Staatliche politische Verwaltung, die Geheimpolizei der Sowjet-Union.

bei uns; kein anderes Haus wurde so vollständig dem Geheimdienst-Apparat untergeordnet wie unseres. Selbst Sergei Alexandrowitsch Jefimow, der noch zu Mamas Zeit Kommandant von (Stalins Datscha*) Subalowo war, hielt sich in unserem Haus nicht lange. Er wurde dann auf die Blischnjaja, nach Kunzewo, versetzt.

Er hatte sich noch irgendein elementares menschliches Gefühl für uns alle als Familie bewahrt. Er erlangte den Rang eines Generals, (des MGB), aber in den letzten Jahren büßte er Vaters »Wohlwollen« ein und wurde abgeschoben -- »abserviert« von seinem »Kollektiv«, das heißt von anderen Generalen und Obersten des MGB, die sich einen eigenartigen »Hof« bei Vater eingerichtet hatten.

Hier muß noch ein anderer General erwähnt werden, der sich sehr lange -- ab 1919 -- an Vaters Seite hielt. Zuerst war er als Rotarmist zu Vater gekommen und ihm zur persönlichen Bewachung zugeteilt worden. Später entwickelte er sich zu einer ganz mächtigen Persönlichkeit hinter den Kulissen: General Nikolai Sergejewitsch Wlassik.

Er war als Chef über Vaters gesamtes Wachpersonal eingesetzt und betrachtete sich selbst sozusagen als Vaters allernächsten Vertrauten. Er war unbeschreiblich ungebildet, grob, dumm und großspurig. In den letzten Jahren ging er so weit, einigen Kunstschaffenden den »Geschmack des Genossen Stalin« zu diktieren. Kein einziges Konzert anläßlich des 7. November im Bolschoi-Theater oder während der Bankette im Georgssaal (des Kremls) wurde ohne Sanktion dieses Wlassik veranstaltet.

Solange Mama lebte, stand er irgendwo im Hintergrund als »Leibwächter«, unser Haus betrat er selbstverständlich nie. Dafür war er fortwährend in der Datscha Kunzewo und »leitete« von dort aus alle übrigen Residenzen meines Vaters.

Allein in der Umgebung von Moskau gab es noch Lipki, ein altes Gut mit einem Teich, einem wunderschönen Haus und einem riesigen Park mit prächtigen hundertjährigen Linden, und Semjonowskoje, ein neues Haus, das kurz vor dem Krieg errichtet worden war.

Nicht minder interessant als jener Wlassik war die unserer Wohnung im Kreml zugeteilte Wirtschafterin

oder vielmehr »Stütze der Hausfrau«, Alexandra Nikolajewna Nakaschidse, Leutnant (später Major) des Staatssicherheitsdienstes. Sie erschien bei uns 1937 oder 1938, ein Protektionskind Berijas, eine Verwandte von ihm. Ich war damals erst elf oder zwölf Jahre alt und konnte die ganze Ungeheuerlichkeit, daß ein Berija unmittelbar unterstellter »Aufpasser« in unserem Haus auftauchte, noch nicht voll begreifen.

Vater, der von uns weit entfernt war und hoch über uns thronte, gab von Zeit zu Zeit jenem Wlassik, der sozusagen unser inoffizieller Vormund

* In Kursivschrift: Erläuterungen der Redaktion.

war, grundlegende Anweisungen für unsere Erziehung. Außerdem erschien bei meinem Eintritt in die Schule unerwartet eine Gouvernante namens Lydia Georgijewna.

Sie war klein, sehr geschminkt und bucklig. Vom ersten Augenblick an geriet sie in Konflikt mit meiner Kinderfrau. Fünf Jahre lang »erzog« sie mich, plagte mich mit ihrer unfähigen Pädagogik. Nach fünf Jahren flehte ich Vater an, sie zu entlassen. Dem Vater war die Bucklige ebenfalls unsympathisch, die außerdem mit jedem unbeschreiblich kokettierte. Er befreite mich von ihr.

Ungefähr 1937 wurde -- ich weiß nicht, von wem -- folgende neue Ordnung eingeführt: Wohin immer ich ging, in die Schule, aus der Schule, in die Datscha, ins Theater -- stets folgte mir ein erwachsener Mensch, ein Tschekist (Geheimpolizist), nach. Er hatte den Auftrag, mich zu »beschützen«.

Zuerst erfüllte der gallige, ausgemergelte Iwan Iwanowitsch Kriwenko diese Pflicht. Bald darauf wurde er von dem dicken, wichtigtuerischen Alexander Sergejewitsch Wolkow abgelöst, der allmählich die ganze Schule terrorisierte, die sogenannte Musterschule 2 B in der Gorkistraße (ich besuchte sie von 1939 bis 1943).

Ich durfte meinen Mantel nicht in der allgemeinen Garderobe anziehen, sondern mußte das in einem eigenen Winkel neben der Kanzlei besorgen, wohin ich mich, rot vor Scham und Ärger, begab. Das Essen während der großen Pause im allgemeinen Speisesaal schaffte Kriwenko gleichfalls ab, man führte mich in eine eigens abgetrennte Ecke, wohin er für mich Butterbrote von zu Hause brachte.

Schließlich kam ein ruhiger, guter Mensch, Michail Nikititsch Klimow. Er stapfte von 1940 bis 1943 hinter mir her, bis endlich diese ganze Einrichtung abgeschafft wurde; ich besuchte die Universität im ersten Semester. Ich sagte Vater, daß es mir peinlich sei, mit einem solchen »Anhängsel« auf die Universität zu gehen.

Offenbar erkannte Vater das Absurde der Lage. Er sagte nur: »Also geh zum Teufel, von mir aus sollen sie dich umbringen, ich lehne jede Verantwortung ab.« Es war im Dezember 1943, er war soeben von der Teheraner Konferenz heimgekehrt und in bester Stimmung, und so wurde die Angelegenheit erledigt.

Mit siebzehneinhalb Jahren erhielt ich endlich das Recht, allein auf die Universität, ins Theater, ins Kino oder einfach durch die Straßen zu gehen.

Von 1933 bis unmittelbar vor dem Krieg lebte ich ganz der Schule. Es war meine kleine Welt: die Schule, die Lektionen, die Pionier-Verpflichtungen, die Bücher und mein Zimmer daheim -- eine winzig kleine Welt, wo meine Kinderfrau mich hütete und warmhielt.

Ich las sehr viele Bücher, denn in Vaters Zimmer befand sich eine riesige Bibliothek, die noch Mama gesammelt hatte und die niemand außer mir benutzte.

Gerade diese Jahre erinnern mich aber auch an Vaters Liebe zu mir, an sein Bemühen, mir ein guter Vater und Erzieher zu sein.

Wenn der Vater zum Essen kam und, noch im Mantel, über den Korridor an meinem Zimmer vorbeischritt, rief er gewöhnlich mit lauter Stimme: »Hausfrau!« Ich ließ alles liegen und stehen und stürzte zu ihm ins Eßzimmer; es war ein großes Zimmer, an allen Wänden standen Bücherschränke.

Der Tisch im Eßzimmer war bereits für acht Personen (so viele Gäste kamen für gewöhnlich) gedeckt, und ich nahm rechts vom Vater vor meinem Gedeck Platz. Es war meistens sieben oder acht Uhr abends. Ich saß wie immer zwei geschlagene Stunden bei Tisch und hörte einfach zu, was die Erwachsenen sprachen.

Dann fragte mich der Vater nach meinen Noten. Und da diese damals trefflich ausfielen, erweckten sie jedesmal seinen Stolz, und alle lobten mich im Chor; und dann schickte man mich schlafen.

In jenen Jahren nahm mich Vater auch ins Theater und ins Kino mit. Am allerwunderbarsten war für mich das Kino. Im Kreml war ein Lichtspielsaal eingerichtet worden.

Dorthin begaben wir uns immer erst nach dem Essen, also um neun oder zehn Uhr abends. Das war für mich ziemlich spät, aber ich bat und bettelte so sehr, daß mir Vater das Vergnügen nicht abschlagen konnte, mich nach vorne stieß und lachend sagte: »Na, dann führ uns hin, Hausfrau, sonst kommen wir ohne Führer noch vom Weg ab.«

Und so schritt ich denn an der Spitze der langen Prozession bis zum anderen Ende des Kremls; hinter uns aber krochen im Gänsemarsch die schweren gepanzerten Wagen der Wache. Das Kino endete spät, gegen zwei Uhr nachts, denn man sah sich zwei oder gar drei Filme an. Dann schickte man mich schlafen, denn ich mußte doch um sieben wieder aufstehen, um in die Schule zu gehen.

Im Sommer, nach Schulschluß, nahm mich der Vater manchmal auf zwei, drei Tage nach Kunzewo mit. Er fragte mich nach den Namen der Waldblumen und der Kräuter, und er wollte auch wissen, was für ein Vogel da singe. Dann setzte er sich irgendwohin in den Schatten, um seine Schriftstücke und Zeitungen zu studieren, ich aber langweilte mich.

Der Vater merkte es wohl, und er fühlte sich gekränkt. Eines Tages zerstritt er sich ernsthaft mit mir, nachdem ich ihn ganz offen gefragt hatte: »Darf ich jetzt wieder wegfahren?«

»Fahr nur«, entgegnete er schroff; er sprach dann lange Zeit kein Wort mehr mit mir und rief auch nicht an. Und erst nachdem ich ihn um Verzeihung gebeten hatte, versöhnte er sich wieder mit mir.

»Einfach wegfahren und mich armen alten Mann im Stich lassen. Weil sie sich langweilt!« brummte er, immer noch beleidigt; aber dann küßte er mich und verzieh mir -- weil er sich ohne mich noch mehr langweilte.

Manchmal erschien er ganz unerwartet bei uns in Subalowo. Dann kamen auch Großvater und Großmutter aus ihren Zimmern hervorgekrochen. Mitunter rief man auch in Subalowo 2 an, und dann eilte Onkel Pawluscha mit seinen Kindern oder Anastas Mikojan herbei. Man briet an einem Lagerfeuer Schaschlik, und alle tranken ganz gehörig von dem guten, leichten georgischen Wein.

Wir Kinder unterhielten uns bei diesen Picknicks glänzend; ob es die Erwachsenen auch so amüsant fanden, weiß ich nicht. Jedenfalls fing Großmutter einmal laut zu weinen an, und Vater fuhr wütend ab.

Großmutter machte immer Szenen. Eines Tages schrie sie mich an: »Deine Mutter war eine Närrin, ja, eine Närrin! Wie oft habe ich ihr gesagt, daß sie eine Närrin ist, aber sie wollte mich nicht hören! Da hat sie's denn auch bitter bezahlen müssen ...

Ich fing an zu heulen und rief: »Du selbst bist eine Närrin!« Ich erinnerte. mich sehr gut an Mama und glaubte bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr, daß sie an einer Blinddarmentzündung gestorben sei wie mir die Erwachsenen versichert hatten.

Mit der Zeit kam es in Subalowo, was zu Mamas Lebzeiten nie geschehen wäre, sogar zu Streitigkeiten zwischen den übrigen Verwandten. Die einander befehdenden Gruppen suchten Schutz bei Vater. Zu diesem Zweck wurde ich ausgeschickt: »Geh, sag dem Papa ...« Ich ging und erhielt vom Vater prompt einen Verweis: »Warum plapperst du alles nach, was man dir sagt -- wie ein Papagei!« ärgerte er sich und verlangte von mir, ich solle mich nicht an ihn wenden mit Bitten für andere.

Er bestand auch darauf, daß ich ihm keine Briefe, von wem auch immer, bringe -- denn man steckte mir in der Schule manchmal Briefe zu -, ich sollte nicht für andere den »Postboten« machen.

Im Sommer reiste Vater gewöhnlich nach Sotschi. Aus jenen Jahren sind noch viele Briefe erhalten, die Vater aus oder nach Sotschi oder auf die Krim schrieb. Ich bringe hier einige Auszüge:

Ich grüße Dich, mein Spätzchen! Sei mir nicht böse, daß ich nicht sogleich geantwortet habe. Ich war sehr beschäftigt. Ich bin gesund und fühle mich wohl. Ich küsse mein Spätzlein sehr, sehr zärtlich.

Liebe Setanka! Ich habe Deinen Brief vom 25. September erhalten, Ich danke Dir dafür, daß Du Papi nicht vergißt. Ich lebe nicht schlecht, bin gesund, aber ich lang. weite mich ohne Dich. Hast Du die Granatäpfel und die Pfirsiche bekommen? Ich schicke Dir noch welche, wenn Du es befiehlst. Sage Wassja (Wassilij), er soll mir auch Briefe schreiben. Also, auf Wiedersehen. Ich grüße Dich herzlich,

Dein Papi.

Liebe Hausfrau!

Ich habe Deinen Brief und Deine Karte erhalten. Das ist schön, daß Du Papa nicht vergißt. Ich schicke Dir einige Granatäpfel. In einigen Tagen schicke ich Dir Mandarinen. Laß Dir's schmecken. Wassja schicke ich nichts, weil er jetzt so schlecht lernt. Das Wetter hier ist schön, nur langweilig, ist's, weil die »Hausfrau« nicht bei mir ist. Na, alles Gute, meine kleine Hausfrau. Ich küsse Dich herzlich. (8. Oktober 1935)

Ich grüße Dich, liebe Hausfrau!

Ich schicke Dir Granatäpfel, Mandarinen und kandierte Früchte. Laß Dir's schmecken, meine Hausfrau! Wassja schicke ich nichts, weil er immer so schlecht lernt und mich mit leeren Versprechungen abspeist. Erkläre ihm, daß ich an schöne Worte nicht glaube und Wassja erst dann Vertrauen schenken werde, wenn er wirklich zu lernen anfängt und es wenigstens zu einem »Gut« bringt. Ich melde Dir, Genossin Hausfrau, daß ich für einen Tag in Tiflis gewesen bin, Großmama besucht und Ihr Grüße von Dir und Wassja überbracht habe. Sie ist mehr oder weniger gesund und küßt Euch beide herzlichst. Na, das ist vorläufig alles, Kuß. Bald sehen wir uns wieder. (18. Oktober 1935) Ich grüße Dich, mein Spätzchen!

Brief erhalten, danke für den Fisch. Ich bitte Dich aber, liebe Hausfrau, mir keinen Fisch mehr zu schicken. Wenn es Dir auf der Krim so gut gefällt, kannst Du den ganzen Sommer über in Mucholatka bleiben. Ich grüße Dich herzlich. (7. Juli 1937) Dein Papi. Meiner Hausfrau Setanka einen Gruß!

Ich habe alle Deine Briefe erhalten. Herzlichen Dank, Ich habe auf Deine Briefe nicht geantwortet, weil Ich sehr beschäftigt war. Wie verbringst Du Deine Zelt? Wie ist es mit Deinem Englisch? Fühlst Du Dich wohl? ich bin gesund und munter wie immer. Ohne Dich ist es langweilig, aber was kann man da machen? Ich muß es eben ertragen. Ich küsse meine kleine Hausfrau. (22. Juli 1939) Ich güße Dich, Hausfrau!

Deine beiden Briefe erhalten. Schön, daß Du Papi nicht vergißt. Ich hab' nicht gleich antworten können, sehr beschäftigt. Du bist, wie mir scheint, in Rizo gewesen und noch dazu nicht allein, sondern mit einem Kavalier. Na, gar nicht übel. Rizo ist ein hübscher Ort, besonders in Begleitung eines Kavaliers, mein Spätzchen. Wann gedenkst Du nach Moskau zurückzukehren? Wird's nicht bald Zeit? Ich glaube schon. Reise am 25. August, oder, noch besser, am 20. ab. Schreib mir doch, wie Du darüber denkst. Meine Gesundheit? Ich bin gesund und munter. Nur langwelle ich mich ziemlich ohne Dich, aber Du wirst ja bald kommen. Ich küsse Dich, mein Spätzchen. (8. August 1939)

Vater pflegte alle seine Briefe in ein und derselben Weise zu unterschreiben: »Der kleine Sekretär der Hausfrau Setanka, der arme J. Stalin.« Das war ein Spiel, das sich der Vater ausgedacht hatte.

Mich nannte er »Hausfrau«, sich selbst aber und alle seine Mitarbeiter, die fast täglich in unserem Hause waren, meine »Sekretäre« oder »Sekretärlein«. Ich weiß nicht, ob diese Spielerei auch den andern Spaß machte, den Vater jedenfalls unterhielt sie bis knapp vor dem Krieg.

Auf seinen Ton eingehend, schickte ich ihm »Befehle« wie die folgenden (ihre Form war ebenfalls vom Vater selbst ausgedacht):

21. Oktober 1934 An den Genossen J. W. Stalin, Sekretär Nr. 1 Befehl Nr. 4

Ich befehle Dir, mich mitzunehmen.

Unterschrift: Herrin Setanka (Stempel)

Unterschrift des Sekretärs Nr. 1 Befehl ausgeführt. 3. Stalin

Es handelte sich offenbar darum, daß er mich nicht ins Kino oder ins Theater mitnehmen wollte. Es gab aber auch Befehle folgender Art: »Ich befehle Dir, daß Du mir gestattest, morgen nach Subalowo zu fahren.« (10. Mai 1934).

Oder: »Ich befehle Dir, mich ins Theater mitzunehmen.« (15. April 1934). Oder: »Ich befehle Dir, daß Du mir erlaubst, ins Kino zu gehen, und daß Du den Film »Tschapajew' oder irgendein amerikanisches Lustspiel vorführen läßt.« (29. Oktober 1934).

Vater unterzeichnete die Befehle mit: »Zu Befehl« oder »Befehl ausgeführt« oder »Einverstanden« oder »Wird ausgeführt«. Und da der Vater immer neue Befehle verlangte, was mich bereits langweilte, so schrieb ich ihm einmal: »Ich befehle Dir, mir zu gestatten, daß ich Dir nur einen Befehl in der Woche zu schicken brauche.« (26. Februar 1937).

Als ich dann etwas älter geworden war, brachte ich eine gewisse Abwechslung in diese Befehle: »Papa! In Anbetracht dessen, daß bereits Frost eingetreten ist, befehle ich Dir, den Pelz zu tragen. Setanka-Hausfrau.« (15. Dezember 1938).

Und zum Schluß noch die letzte Scherzbotschaft dieser Art, geschrieben im Mai 1941, bereits an der Schwelle des Krieges: Mein teurer Privatsekretär,

ich beeile mich, Sie davon zu verständigen, daß Ihre Hausfrau einen Aufsatz geschrieben hat, der mit »Sehr gut« klassifiziert worden ist. Auf diese Weise habe ich die erste Prüfung bestanden, morgen lege ich die zweite ab. Eßt und trinkt, und laßt es Euch schmecken. Ich küsse Papi tausendmal. Gruß den Sekretären. Hausfrau.

Als »Resolution« steht an den oberen Rand geschrieben: »Wir grüßen unsere Hausfrau! Für die Sekretäre: J. Stalin, Papi.«

Bald darauf begann der Krieg, und niemand hatte mehr Lust für Scherze und Spiele. Doch der Spitzname »Setanka-Hausfrau« blieb mir noch lange Zeit,

Mein Vater achtete und liebte seine Mutter. Er sagte, daß sie eine sehr kluge Frau gewesen sei. Gelegentlich erzählte er von ihr, wie sie ihn als Knaben verprügelt, aber, auch seinen Vater, der gern über den Durst trank, verhauen habe. Sein Vater war bei einem Zechgelage zugrunde gegangen. Irgend jemand erstach ihn.

Großmutter war sehr fromm und träumte davon, daß ihr Sohn einmal Geistlicher werden würde, Sie blieb religiös bis ans Ende ihrer Tage, und als sie der Vater kurz vor ihrem Tod besuchte, sagte sie zu ihm: »Wie schade, daß du nicht doch Geistlicher geworden bist.«

Ihre Gleichgültigkeit gegenüber allem, was er erreicht hatte, gefiel ihm. Sie wollte um keinen Preis Georgien verlassen und nach Moskau übersiedeln.

Sie verbrachte weiterhin ihr stilles, bescheidenes Dasein als schlichte, fromme alte Frau, 1936 starb sie, beinahe achtzig Jahre alt. Vater war sehr betrübt und sprach auch noch später oft von ihr. Doch eigentlich war er ein schlechter, ein nicht sehr aufmerksamer Sohn, wie er auch ein schlechter, wenig aufmerksamer Gatte war,

Manchmal zeigte Vater mir gegenüber merkwürdige, fast eigensinnige Launen. Eines Tages, als er mich in Augenschein genommen hatte (ich war damals bereits zehn Jahre alt und ein ziemlich »kräftiges« Kind), sagte er plötzlich: »Wie, du gehst nackt?« Ich begriff nicht recht, was er meinte. »Da, da!« rief er und zeigte auf den Saum meines Kleides -- es war kniefrei,

»Weiß der Teufel«, ärgerte er sich, »was soll denn das heißen?« Diesmal waren es meine Shorts, über die er sich aufregte: »Ein Skandal, diese Sportlerinnen -- gehen splitternackt!« und er steigerte sich mehr und mehr in Zorn.

Dann begab er sich auf sein Zimmer, holte zwei seiner Leinenhemden und brachte sie der Kinderfrau, »Da«, sagte er zu ihr, »nehmen Sie das, und nähen Sie ihr anständige Pluderhosen, so daß die Knie bedeckt sind; und auch das Kleid soll über die Knie reichen!«

»Ja, ja«, erwiderte die Kinderfrau. »Papa«, bettelte und bat ich, »so etwas trägt doch jetzt niemand!«

Einmal schimpfte er, warum ich im Sommer Socken und nicht Strümpfe trüge: »Du gehst schon wieder mit nackten Beinen« Dann wieder verlangte er, daß das Kleid nicht auf Taille gearbeitet sein dürfe, sondern als weiter Kittel herabfallen müsse.

Oder er riß mir die Mütze vom Kopf: »Was ist das für ein Pfannkuchen? Kannst du dir denn keinen anständigen Hut anschaffen?«

Als 1941 der Krieg ausbrach, ging mein ältester Bruder, Jascha (Jakob), bereits am 23. Juli mit seiner Batterie an die Front ab (siehe Kasten); alle seine Kameraden des letzten Jahrgangs der Artillerie-Akademie waren unmittelbar nach der Ausmusterung in den Krieg gezogen.

Er selbst machte nicht den geringsten Versuch, sich vor der Gefahr zu drücken. Eine solche Handlungsweise gab es für ihn einfach nicht, sie widersprach völlig seinem Charakter, seiner ehrenhaften, anständigen und strengen Lebensauffassung.

Dem Vater glich er nur im mandelförmigen kaukasischen Schnitt der Augen; das war alles. Vielmehr ähnelte er seiner Mutter Jekaterina Swanidse, die starb, als er eben zwei Jahre alt geworden war.

Ich habe nur ein- oder zweimal gesehen, daß er auch wütend werden konnte. Sein Zorn wurde immer durch meinen anderen Bruder Wassilij hervorgerufen, und zwar durch dessen üble Gewohnheit, in meiner Gegenwart und überhaupt vor Frauen und anderen Personen unanständige Reden zu führen. Jascha stürzte sich jedesmal wie ein Löwe auf ihn, und es gab ein Handgemenge.

Jascha hatte ziemlich lange in Tiflis gelebt. Als Jüngling kam er dann nach Moskau, um hier zu studieren. Vater zeigte sich ihm gegenüber sehr unfreundlich. Jascha fühlte sich dem Vater gegenüber stets als eine Art Stiefsohn, aber durchaus nicht gegenüber Mama, die er sehr liebte.

eines Nachts unternahm Jascha in unserer Küche, neben seinem Zimmerehen, einen Selbstmordversuch. Er schoß sich an; die Kugel streifte ihn nur, aber er hatte lange an den Folgen zu leiden. Vater benahm sich hernach noch abweisender gegen ihn.

Jaschas erste Ehe war unglücklich, sie ging auch bald in die Brüche. Später heiratete er eine sehr hübsche Frau, die von ihrem früheren Mann verlassen worden war. Julia war Jüdin, und das erregte abermals Vaters Unwillen. Gewiß, in jenen Jahren zeigte Vater seinen Haß gegen die Juden noch nicht so deutlich, das fing bei ihm erst später an, nach dem Kriege; doch innerlich hatte er nie Sympathien für die Juden gehegt.

Jascha aber blieb hartnäckig. Dennoch achtete er den Vater und wurde auf dessen Wunsch hin Soldat. Doch die beiden waren zu verschiedene Menschen, es war ihnen unmöglich, einander seelisch näherzukommen. ("Der Vater spricht immer in Thesen«, sagte mir Jascha einmal.)

Nach Ausbruch des Krieges mit Deutschland wurde Jaschas Einheit gerade dorthin geschickt, wo damals das ärgste Durcheinander herrschte, nach dem Westen Weißrußlands, in die Gegend von Baranowitschi; und sehr bald hörte jede Nachrichtenübermittlung auf.

Jaschas Ehefrau Julia blieb mit der Tochter Galotschka bei uns. Aus irgendeinem Grunde (offenbar wußte in den ersten Monaten des Krieges niemand recht, was zu tun sei, auch bereits am 23. Juli mit seiner Batterie an die Front ab (siehe Kasten); alle seine Kameraden des letzten Jahrgangs der Artillerie-Akademie waren unmittelbar nach der Ausmusterung in den Krieg gezogen.

Er selbst machte nicht den geringsten Versuch, sich vor der Gefahr zu drücken. Eine solche Handlungsweise gab es für ihn einfach nicht, sie widersprach völlig seinem Charakter, seiner ehrenhaften, anständigen und strengen Lebensauffassung.

Dem Vater glich er nur im mandelförmigen kaukasischen Schnitt der Augen; das war alles. Vielmehr ähnelte er seiner Mutter Jekaterina Swanidse, die starb, als er eben zwei Jahre alt geworden war.

Ich habe nur ein- oder zweimal gesehen, daß er auch wütend werden konnte. Sein Zorn wurde immer durch meinen anderen Bruder Wassilij hervorgerufen, und zwar durch dessen üble Gewohnheit, in meiner Gegenwart und überhaupt vor Frauen und anderen Personen unanständige Reden zu führen. Jascha stürzte sich jedesmal wie ein Löwe auf ihn, und es gab ein Handgemenge.

Jascha hatte ziemlich lange in Tiflis gelebt. Als Jüngling kam er dann nach Moskau, um hier zu studieren. Vater zeigte sich ihm gegenüber sehr unfreundlich. Jascha fühlte sich dem Vater gegenüber stets als eine Art Stiefsohn, aber durchaus nicht gegenüber Mama, die er sehr liebte.

eines Nachts unternahm Jascha in unserer Küche, neben seinem Zimmerehen, einen Selbstmordversuch. Er schoß sich an; die Kugel streifte ihn nur, aber er hatte lange an den Folgen zu leiden. Vater benahm sich hernach noch abweisender gegen ihn.

Jaschas erste Ehe war unglücklich, sie ging auch bald in die Brüche. Später heiratete er eine sehr hübsche Frau, die von ihrem früheren Mann verlassen worden war. Julia war Jüdin, und das erregte abermals Vaters Unwillen. Gewiß, in jenen Jahren zeigte Vater seinen Haß gegen die Juden noch nicht so deutlich, das fing bei ihm erst später an, nach dem Kriege; doch innerlich hatte er nie Sympathien für die Juden gehegt.

Jascha aber blieb hartnäckig. Dennoch achtete er den Vater und wurde auf dessen Wunsch hin Soldat. Doch die beiden waren zu verschiedene Menschen, es war ihnen unmöglich, einander seelisch näherzukommen. ("Der Vater spricht immer in Thesen«, sagte mir Jascha einmal.)

Nach Ausbruch des Krieges mit Deutschland wurde Jaschas Einheit gerade dorthin geschickt, wo damals das ärgste Durcheinander herrschte, nach dem Westen Weißrußlands, in die Gegend von Baranowitschi; und sehr bald hörte jede Nachrichtenübermittlung auf.

Jaschas Ehefrau Julia blieb mit der Tochter Galotschka bei uns. Aus irgendeinem Grunde (offenbar wußte in den ersten Monaten des Krieges niemand recht, was zu tun sei, auch bereits am 23. Juli mit seiner Batterie an die Front ab (siehe Kasten); alle seine Kameraden des letzten Jahrgangs der Artillerie-Akademie waren unmittelbar nach der Ausmusterung in den Krieg gezogen.

Er selbst machte nicht den geringsten Versuch, sich vor der Gefahr zu drücken. Eine solche Handlungsweise gab es für ihn einfach nicht, sie widersprach völlig seinem Charakter, seiner ehrenhaften, anständigen und strengen Lebensauffassung.

Dem Vater glich er nur im mandelförmigen kaukasischen Schnitt der Augen; das war alles. Vielmehr ähnelte er seiner Mutter Jekaterina Swanidse, die starb, als er eben zwei Jahre alt geworden war.

Ich habe nur ein- oder zweimal gesehen, daß er auch wütend werden konnte. Sein Zorn wurde immer durch meinen anderen Bruder Wassilij hervorgerufen, und zwar durch dessen üble Gewohnheit, in meiner Gegenwart und überhaupt vor Frauen und anderen Personen unanständige Reden zu führen. Jascha stürzte sich jedesmal wie ein Löwe auf ihn, und es gab ein Handgemenge.

Jascha hatte ziemlich lange in Tiflis gelebt. Als Jüngling kam er dann nach Moskau, um hier zu studieren. Vater zeigte sich ihm gegenüber sehr unfreundlich. Jascha fühlte sich dem Vater gegenüber stets als eine Art Stiefsohn, aber durchaus nicht gegenüber Mama, die er sehr liebte.

eines Nachts unternahm Jascha in unserer Küche, neben seinem Zimmerehen, einen Selbstmordversuch. Er schoß sich an; die Kugel streifte ihn nur, aber er hatte lange an den Folgen zu leiden. Vater benahm sich hernach noch abweisender gegen ihn.

Jaschas erste Ehe war unglücklich, sie ging auch bald in die Brüche. Später heiratete er eine sehr hübsche Frau, die von ihrem früheren Mann verlassen worden war. Julia war Jüdin, und das erregte abermals Vaters Unwillen. Gewiß, in jenen Jahren zeigte Vater seinen Haß gegen die Juden noch nicht so deutlich, das fing bei ihm erst später an, nach dem Kriege; doch innerlich hatte er nie Sympathien für die Juden gehegt.

Jascha aber blieb hartnäckig. Dennoch achtete er den Vater und wurde auf dessen Wunsch hin Soldat. Doch die beiden waren zu verschiedene Menschen, es war ihnen unmöglich, einander seelisch näherzukommen. ("Der Vater spricht immer in Thesen«, sagte mir Jascha einmal.)

Nach Ausbruch des Krieges mit Deutschland wurde Jaschas Einheit gerade dorthin geschickt, wo damals das ärgste Durcheinander herrschte, nach dem Westen Weißrußlands, in die Gegend von Baranowitschi; und sehr bald hörte jede Nachrichtenübermittlung auf.

Jaschas Ehefrau Julia blieb mit der Tochter Galotschka bei uns. Aus irgendeinem Grunde (offenbar wußte in den ersten Monaten des Krieges niemand recht, was zu tun sei, auch Vater nicht) schickte man uns alle nach Sotschi.

Ende August telephonierte ich aus Sotschi mit Vater. Julia stand neben mir, ohne auch nur für eine Sekunde die Augen von meinem Gesicht abzuwenden. Ich fragte Vater, ob es keine Nachrichten von Jascha gebe, und er erwiderte langsam und deutlich: »Jascha ist in Gefangenschaft geraten.« Und bevor ich noch den Mund auftun konnte, fügte er hinzu: »Sag seiner Frau vorläufig nichts davon.«

Julia erkannte an meinem Gesicht, daß irgend etwas Verhängnisvolles geschehen sein mußte, und bestürmte mich, sobald ich den Hörer aufgelegt hatte, mit Fragen. Doch ich blieb steif und fest dabei: »Vater weiß selbst nichts Genaues.«

Die Neuigkeit schien mir so entsetzlich, daß ich gar nicht imstande gewesen wäre, sie Julia zu sagen. Den Vater jedoch leiteten keineswegs so humane Überlegungen gegenüber Julia: Bei ihm hatte sich der Gedanke festgesetzt, daß irgend jemand Jascha dazu verführt habe, sich gefangennehmen zu lassen, und daß etwa auch Julia daran beteiligt gewesen sei.

Als wir im September nach Moskau zurückkehrten, sagte er mir: »Jaschas Töchterchen mag vorläufig bei dir bleiben. Doch seine Frau ist offenbar ein unehrlicher Mensch, man wird die Sache noch untersuchen müssen.«

Und tatsächlich wurde Julia verhaftet; sie saß bis zum Frühjahr 1943 im Gefängnis, bis endlich »erwiesen« war, daß sie mit diesem Unglück nicht das geringste zu tun hatte. Durch Jaschas Verhalten in der Gefangenschaft wurde Vater endlich davon überzeugt, daß mein Bruder selbst gar nichts dazu getan hatte, um in Gefangenschaft zu geraten.

Im Herbst 1941 warfen die Deutschen Flugblätter mit Jaschas Photographie ab; er war in seiner Uniformbluse zu sehen, ohne Koppel, ohne Abzeichen, ausgemergelt, finster dreinblickend. Wassilij hatte solche Flugblätter mitgebracht. Wir betrachteten sie genau, in der Hoffnung, daß es Fälschungen seien -- doch nein, es war ganz unverkennbar Jascha.

Viele Jahre später schickte man unsere Soldaten, die in Gefangenschaft gewesen waren, nach der Heimkehr zunächst in Konzentrationslager, in die Taiga. Durch sie erfuhren damals viele Leute davon, daß auch Jascha sich in Gefangenschaft befinde. Die Deutschen bedienten sich seiner zu Propagandazwecken; doch war es wohlbekannt, daß Jascha sich ehrenhaft verhielt, daß er sich nicht für üble Zwecke einfangen ließ und infolgedessen eine grausame Behandlung erfahren mußte.

Im Winter 1943/44, also nach dem Sieg bei Stalingrad, sagte mir Vater gelegentlich einer unserer schon so seltenen Begegnungen: »Die Deutschen haben den Vorschlag gemacht, Jascha gegen irgendeinen der Ihrigen (Generalfeldmarschall Paulus) auszu-

* Text des Briefes: »Lieber Vater! Ich bin gefangen, gesund. Bald werde ich in eines der Offiziersgefangenenlager in Deutschland gebracht. Behandlung gut. Freundliche Grüße allen. Jascha.«

tauschen. Soll ich mich auf einen solchen Handel mit ihnen einlassen? Nein -- Krieg ist Krieg.«

Er war tief erregt und steckte mir einen Text in englischer Sprache zu (er betraf seine Korrespondenz mit Roosevelt) und sagte: »Übersetz das! Du hast's doch gelernt. Du hast Englisch gelernt, da kannst du das doch wohl auch übersetzen?« Ich übersetzte. Er war erstaunt und zufrieden -- und die Audienz war beendet.

Dann sprach er nur noch ein einziges Mal von Jascha, im Sommer 1945. »Die Deutschen haben Jascha erschossen«, sagte er. »Ich habe von einem belgischen Offizier, einem Prinzen Soundso, einen Brief mit Beileidsbezeigungen erhalten. Der Belgier war Augenzeuge, die Amerikaner haben sie alle befreit.«

Vater war schwer zumute, er wollte sich nicht lange bei diesem Thema aufhalten. Walentina Wassiljewna Istomina (Waletschka), die damals Vaters Haushälterin war, erzählte mir erst jetzt, daß (Marschall Woroschilow an einem der Frontabschnitte in Deutschland schon gegen Ende des Krieges von Jaschas Tod erfahren habe.

Als Jascha zugrunde gegangen war, fühlte der Vater irgendwie doch etwas wie Liebe zu ihm und sah ein, daß er ihm gegenüber ungerecht gewesen war. Später las ich in einer französischen Zeitschrift den Artikel eines schottischen Offiziers, der ebenfalls Augenzeuge von Jaschas Ende gewesen war und die Tatsache anführte, daß Vater damals auf die offizielle Anfrage eines Korrespondenten, ob sich sein Sohn in Gefangenschaft befinde, negativ geantwortet hatte. Das heißt: Er wollte sich den Anschein geben, als ob er nichts wüßte, und damit gab er Jascha preis.

Das gleicht dem Vater sehr: sich von seinen Angehörigen loszusagen, sie zu vergessen, als wären sie nie gewesen. Übrigens haben wir unsere Gefangenen genauso verraten.

Jaschas Leben aber war jedenfalls ehrlich und anständig gewesen. Es wurde versucht, ihn als Helden zu glorifizieren. Vater selbst erzählte mir, daß Michail Tschiaureli sich mit ihm beriet, als er die Epopöe »Der Fall von Berlin« auf dem Marionettentheater darstellen wollte: Er hatte die Absicht, Jascha als Kriegsheros auftreten zu lassen.

Doch Vater war nicht einverstanden. Jascha Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen, war wohl das letzte, was Vater beabsichtigte. Außerdem wollte er ganz einfach nicht, daß man »seine Verwandten« in den Vordergrund stellte, er hielt sie samt und sonders weder einer echten Leistung für fähig noch für wert, daß man ihrer gedachte.

Als im Juni 1941 der Krieg ausbrach, veränderte sich das Leben radikal, und alles fiel auseinander. Wir mußten Moskau verlassen, um weiterzulernen; unsere Schule wurde von einer Bombe getroffen.

Dann schickte man uns nach Kuibyschew. Man verlud unsere Sachen in einen Extrawaggon. Ob auch Vater Moskau verlassen würde, wußte man nicht; für alle Fälle verlud man seine Bibliothek.

In Kuibyschew brachte man uns in einer kleinen Villa unter. Hier war vordem ein Museum gewesen. Das Haus war eiligst instand gesetzt worden, es roch nach Farbe, und auf den Gängen -- nach Mäusen.

Ende Oktober fuhr ich nach Moskau, um Vater zu besuchen. Er schrieb mir nie, und mit ihm zu telephonieren war schwer; er war sehr nervös, verärgert und sagte nur, er habe keine Zeit, mit mir zu sprechen.

Ich kam am 28. Oktober in Moskau an. Vater war im Luftschutzkeller des Kremls, ich ging zu ihm hinunter. Die getäfelten Zimmer glichen denen in seiner Wohnung In Kunzewo, auch die Möbel waren vollkommen gleich. Die Kommandanten waren sehr stolz, daß sie auch die Blischnjaja so gut kopiert haften.

Da stand der gleiche große Tisch mit allem Drum und Dran, und es kamen dieselben Menschen wie sonst, nur waren jetzt alle in Uniform. Wir waren sehr aufgeregt, denn man hatte gerade gemeldet, daß ein Aufklärungsflugzeug Moskau überflogen und überall kleine Bomben abgeworfen habe.

Vater nahm gar keine Notiz von mir, ich störte ihn. Überall lagen und hingen Karten, man berichtete ihm über die Lage an den Fronten.

Endlich sah er auf -- und mußte doch wohl etwas sagen. »Nun, wie geht es dir dort, hast du dich schon mit jemandem aus Kuibyschew angefreundet?« fragte er, ohne sich dafür besonders zu interessieren.

»Nein, wir haben eine eigene Schule für evakuierte Kinder, es sind sehr viele dort«, antwortete ich.

* Moskauer Kinder in einem Untergrundbahnhof, 1941.

Da blickte Vater mich plötzlich scharf an. »Was? Eine eigene Schule?« Ich sah, daß er allmählich in Wut geriet. »Ach, ihr ...!« Er suchte nach Worten, die nicht gar zu ordinär waren. »Ihr verfluchte Kaste! Da schau her, die Regierung, die Moskauer sind gekommen -- da muß eine eigene Schule her! Wlassik, dieser Schurke, das ist sein Werk.«

»Kaste« -- er hatte recht! Sie waren wirklich eine Kaste, die Spitzen der großstädtischen Gesellschaft, die da In einer Stadt erschienen, die zur Hälfte evakuiert worden war, um dort für alle diese Familien Platz zu schaffen. Die »Kaste« war nun einmal entstanden und lebte natürlich nach ihren eigenen Gesetzen.

Ich fühlte mich in diesem Winter entsetzlich einsam. Vielleicht kam ich mit meinen sechzehn Jahren schon in das Alter des Träumens, des Suchens, der Zweifel -- ich hatte das früher nicht gekannt.

Ich las englische und amerikanische Zeitschriften, »Life«, »Fortune«, » Illustrated London News«. Plötzlich stieß ich auf einen Artikel über Vater, in dem als altbekannte Tatsache, nicht etwa als Neuigkeit, erwähnt würde, daß seine Frau Nadeschda Sergejewna Allilujewa in der Nacht zum 9. November 1932 Selbstmord verübt hatte.

Ich war zutiefst erschüttert. Ich stürzte zu Großmutter und rief: »Ich weiß alles -- warum hat man es vor mir verheimlicht?« Großmutter war sehr erstaunt, erzählte mir aber jetzt, was sich zugetragen hatte. »Ja, wer hätte an so etwas gedacht«, wiederholte sie unaufhörlich, »wer hätte erwarten können, daß sie so etwas tun würde?«

Seitdem hatte ich keine Ruhe mehr. Ich dachte über Vater nach, und wie schwer es mit ihm tatsächlich war. Ich forschte nach Gründen -- aber niemand wollte mir eine vernünftige Erklärung geben.

Buchstäblich im letzten Augenblick vor der Abreise aus Moskau war Julia, Jaschas Frau, verschwunden. Man sagte, sie sei verhaftet worden, weil man annehme, daß sie an Jaschas »Überlaufen« zu den Deutschen schuld sei ... Und jetzt kam mir alles, was mit Julias Verhaftung zusammenhing, auf einmal merkwürdig vor -: Warum hatte mir Vater damals am Telephon aufgetragen: »Sag vorläufig nichts davon zu Jaschas Frau«?

Ich fing an, über etwas nachzudenken, was mir früher niemals in den Kopf gekommen wäre: Hat denn mein Vater wirklich immer recht?

Schließlich kehrte ich im Juni 1942 nach Moskau zurück. In Moskau erwartete uns ein großer Schmerz: Im Herbst war unser liebes Subalowo in die Luft gesprengt worden, da man jeden Moment den Einmarsch der Deutschen erwartete. Man hatte bereits begonnen, das Haus wieder aufzubauen. Es entstand die neue, einfachere Variante des Hauses, ein häßliches, aus Tarnungsgründen dunkelgrün gestrichenes Gebäude.

Das Leben in Subalowo war im Herbst 1942 und Winter 1943 höchst unangenehm. In das Haus hielt ein bis dahin hier unbekannter Geist betrunkener Zügellosigkeit Einzug. Zu Wassilij kamen Gäste: Sportler, Schauspieler, Fliegerkameraden. Es wurden üppige Zechgelage arrangiert, ein Musikautomat grölte, man unterhielt sich, als ob es keinen Krieg gäbe. Und dabei war es äußerst langweilig.

Im Herbst 1942 kam Winston Churchill nach Moskau. Man rief mich plötzlich an und sagte mir, ich solle sofort in die Stadt kommen, weil Churchill am Abend bei uns essen werde; Vater wolle, daß ich zu Hause sei. Ich kam hin und überlegte, ob es wohl passend wäre, einige Worte auf englisch zu sagen, oder ob ich nicht lieber schweigen sollte.

Unsere Wohnung war öde und ungemütlich. In Vaters Speisezimmer standen leere Bücherschränke, die Bibliothek war ja nach Kuibyschew verlagert worden.

Vater war außerordentlich gut gelaunt. Er war in seiner freundlichsten und liebenswürdigsten Laune, die stets alle bezauberte. Er sagte: »Das

Auf der Moskauer Konferenz im August 1042. Rechts: US-Diplomat Harriman.

ist meine Tochter!« und fügte hinzu, während er mit der Hand über meinen Kopf strich: »Die Rothaarige!«

Winston Churchill lächelte und sagte, er sei als junger Mensch ebenfalls rothaarig gewesen, und jetzt -- er deutete nur mit der Zigarre auf seinen Kopf. Dann sagte er, daß seine Tochter bei der Royal Air Force diene.

Ich verstand ihn, doch hatte ich Hemmungen, selbst ein Wort zu sagen. Vater küßte mich und sagte, daß ich gehen könne. Weshalb er mich Churchill zeigen wollte, war mir damals unverständlich. Heute weiß ich es: Er wollte sich doch auch wie ein gewöhnlicher Mensch geben. Churchill war ihm sympathisch, das war sofort zu merken.

Im Oktober trat ich in die zehnte Klasse ein. Die Kunst fand bei uns fruchtbaren Boden, und wir berauschten uns alle an Versen und am Heldentum.

Wie war es doch? Es trat zusammen Der Krieg, die Jugend, Not und Traum. Wie mischt' es sich zu hellen Flammen, Und nachher erst, da wachte ich auf ...

sagt Dawid Samoilow über die damalige Zeit in seinem herrlichen Gedicht »Sorokowyje rokowyje« (Die verhängnisvollen Jahre).

In diesem Winter 1942/43 lernte ich einen Menschen kennen, an den ich mich bis heute in Dankbarkeit erinnere: Alexej Jakowlewitsch Kapler.

Kapler lebt heute in Moskau, er unterrichtet am Institut für Filmkunst, er schreibt Drehbücher, leitet Seminare

er ist ein anerkannter Altmeister der Filmkunst. Sein Leben ist nach zehn Jahren Verbannung und Konzentrationslager wieder ins normale Geleis gekommen.

Nur einige wenige gezählte Stunden verbrachten wir im Winter 1942/43 zusammen, und dann später, nach zwölf Jahren, 1955, noch einige wenige, nicht minder »gezählte« Tage, das war alles ... Es war die flüchtige Begegnung eines vierzigjährigen Mannes mit einer Gymnasiastin.

Es war Wassilij, der Kapler Ende Oktober 1942 zu uns nach Subalowo brachte. Man hatte die Absicht, einen neuen Film über Flieger zu drehen, und Wassilij (damals Offizier der Luftwaffe) übernahm es, Kapler zu beraten.

Wir beide machten, so glaube ich, zunächst gar keinen Eindruck aufeinander. Aber dann lud man uns alle ein, in der Gnesdnikowstraße Filme anzusehen, und bei dieser Gelegenheit sprachen wir das erstemal miteinander über Kinematographie. »Ljusja« Kapler, wie alle ihn nannten, war sehr erstaunt, daß ich überhaupt irgend etwas davon verstand, und freute sich, daß mir die amerikanischen Thriller mit den Girls und ihren wippenden Röckchen nicht gefielen.

Das nächstemal brachte er uns »Königin Christine« mit Greta Garbo nach Subalowo mit. Ich war über diesen Film zutiefst erschüttert, und Ljusja war sehr zufrieden mit mir.

Bald darauf waren die Novemberfeiertage. Es kamen viele Leute. Nach dem ausgelassen lustigen Essen begann man zu tanzen. Ljusja fragte mich unsicher: »Tanzen Sie Foxtrott?« Ich hatte damals gerade mein erstes schönes Kleid von einer guten Schneiderin bekommen. Dazu hatte ich Mamas alte Granatbrosche angesteckt, und an den Füßen trug ich flache Halbschuhe.

Sicherlich war ich ein lächerliches kleines Küken, aber Ljusja versicherte mir, daß ich sehr gut tanze, und mir wurde unendlich wohl und warm neben ihm. Ich empfand auf einmal ein ungewöhnliches Vertrauen zu diesem dicken, freundlichen Menschen; am liebsten hätte ich meinen Kopf an seine Brust gelehnt und die Augen geschlossen.

»Warum sind Sie heute so traurig?« fragte er. Da begann ich ihm davon zu erzählen, wie öde es zu Hause zuginge, daß heute gerade zehn Jahre seit Mamas Tod vergangen seien, daß niemand sich daran erinnere -- alles das sprudelte plötzlich aus mir heraus, während wir ununterbrochen weitertanzten.

An diesem Abend spannen sich dichte Fäden zwischen uns, wir waren uns nicht mehr fremd, wir waren Freunde geworden. Ljusja war freundlich, fröhlich, er interessierte sich für alles. Zu dieser Zeit litt auch er selbst unter Einsamkeit und suchte einen Halt. Er war erst vor kurzem aus dem weißrussischen Patisanengebiet zurückgekehrt, wo er Material für einen Film gesammelt hatte.

Es zog uns unwiderstehlich zueinander. Während dieser wenigen Tage trachteten wir uns so oft als möglich zu sehen, obwohl dies bei meiner Lebensweise unvorstellbar schwer war. Aber Ljusja kam zu meiner Schule, wartete in der Einfahrt des Nachbarhauses und hielt nach mir Ausschau. Und mein Herz pochte vor Freude, weil ich wußte, daß er dort wartete.

Wir gingen in die kalte, kriegsmäßige Tretjakow-Galerie und sahen uns eine Ausstellung über den Krieg an. Lange wanderten wir durch die Säle, bis das Glockenzeichen die Sperrstunde verkündete. Manchmal gingen wir auch ins Theater. Man gab damals »Die Front« von Kornejtschuk, ein Stück, von dem Ljusja sagte, daß die Kunst »dort nicht einmal übernachtet« habe. Auch gingen wir, kein Mensch weiß, warum, in (Maeterlincks) »Blauen Vogel« und hörten im Bolschoi-Theater (Tschaikowskis) »Pique Dame«.

Im kleinen Saal in der Gnesdnikowstraße zeigte mir Ljusja »Schneewittchen und die sieben Zwerge« von Walt Disney und den wunderbaren Film »Der junge Lincoln«. Im Vorführungsraum des Komitees saßen nur wir beide -- ganz allein.

Ljusja brachte mir Bücher. Ich las damals »Wem die Stunde schlägt« von Hemingway, er verschaffte mir die Übersetzung, die damals schon von Hand zu Hand ging, aber in der UdSSR bis heute noch nicht veröffentlicht wurde. Außerdem »Alle Menschen sind Feinde« von Aldington, »Haben und Nichthaben« von Hemingway.

Er gab mir »erwachsene« Bücher über Liebe, völlig überzeugt, daß ich alles verstehen würde. Ich weiß nicht, ob ich damals alles verstanden habe, ich erinnere mich aber an diese Bücher, als ob ich sie erst gestern gelesen hätte. Eine große »Anthologie der russischen Dichtkunst vom Symbolismus bis heute«, die Ljusja mir schenkte, war voll von seinen Strichen und Kreuzen bei seinen Lieblingsversen. Und seit dieser Zeit kenne ich die Achmatowa, Gumiljow und Chodassjewitsch auswendig.

Wir gingen zusammen durch die Straßen des dunklen, verschneiten Moskau der Kriegszeit und führten endlose Gespräche. In einiger Entfernung hinter uns schritt mein unglückseliger »Schutzengel« Michail Nikititsch Klimow, den die neuentstandene Situation völlig durcheinandergebracht hatte, vor allem, weil Ljusja ihn immer freundlich begrüßte und ihm Zigaretten anbot. Wir nahmen von ihm keine Notiz, und er betrachtete uns wohlwollend.

Ljusja war für mich damals der gescheiteste, der beste, der schönste Mensch. Von ihm strahlten das Licht und der Zauber des Wissens aus. Er erschloß mir die Welt der Kunst -- eine unbekannte, ungeahnte Welt. Und er staunte immer mehr über mich, es schien ihm ungewöhnlich, daß ich ihn verstand, ihm zuhörte und seine Worte in mich aufnahm, daß sie bei mir Widerhall, Antwort fanden.

Bald darauf fuhr Ljusja nach Stalingrad, es war am Vorabend der Schlacht. Ljusja wußte, daß ich mich für alles interessieren würde, was er dort sah, In »Königin Christine« (1933).

und er wagte einen Schritt, der in seiner Ritterlichkeit und seinem Leichtsinn erschütternd war.

Ende November 1942 schlug ich die »Prawda« auf und las dort einen Artikel des Sonderkorrespondenten A. Kapler: »Briefe des Leutnants L. aus Stalingrad. Erster Brief« -- und da wurde in der Form eines Briefes, den ein Leutnant an seine Geliebte schreibt, alles erzählt, was sich damals in Stalingrad ereignete und worauf sich in diesen Tagen das Interesse der ganzen Welt konzentrierte.

Als ich das sah, wurde mir eiskalt. Ich stellte mir vor, wie mein Vater die Zeitung öffnete. Man hatte ihm nämlich über mein merkwürdiges Benehmen bereits »Bericht erstattet«, und er hatte mir schon einmal in ziemlich unzufriedenem Ton angedeutet, daß mein Betragen unzulässig sei.

Ich hatte diese Anspielung nicht beachtet und mein Betragen nicht geändert; jetzt aber würde er sicherlich diesen Artikel lesen, aus dem alles so deutlich zu entnehmen war; sogar unsere Besuche in der Tretjakow-Galerie waren genau beschrieben.

Und war es denn wirklich notwendig, den Artikel mit den Worten zu beenden: »Sicherlich schneit es jetzt in Moskau. Aus Deinem Fenster sieht man die Zinnen der Kremlmauer.« Lieber Gott, was wird jetzt geschehen?

Ljusja kam zu Neujahr 1943 aus Stalingrad zurück. Ich flehte ihn nur um eines an: uns nicht mehr zu treffen und nicht anzurufen. Er war damit einverstanden, daß wir uns trennten.

Zwei oder drei Wochen lang riefen wir uns nicht an, aber um so intensiver dachten wir aneinander. Später, nach zwölf Jahren, verglichen wir, was sich ereignet hatte: Ljusja erzählte mir, daß er während dieser Zeit nirgends hingegangen sei und nur auf dem Diwan gelegen und das neben ihm stehende Telephon angestarrt habe.

Zu guter Letzt war ich es, die die Trennung nicht mehr ertrug. Ich rief ihn an -- und alles begann von neuem. Täglich sprachen wir mindestens eine Stunde miteinander durchs Telephon. Meine Umgebung war entsetzt.

Es wurde beschlossen, Ljusja irgendwie zur Vernunft zu bringen. Oberst Rumjanzew rief ihn an, der engste Mitarbeiter und die rechte Hand von General Wlassik auch einer von den gewissen Leuten, die Vater bewachten.

Die wußten selbstverständlich über alles längst Bescheid, sie wußten sogar Dinge, die nie vorgekommen waren. Rumjanzew schlug Ljusja vor, Moskau zu verlassen und irgendwohin auf Kommandierung zu gehen, möglichst weit weg. Ljusja hieß ihn zum Teufel gehen und hängte den Hörer auf.

Den ganzen Februar gingen wir weiter ins Kino, ins Theater oder ganz einfach spazieren. Am letzten Tag des Februar war mein Geburtstag, ich wurde siebzehn Jahre alt.

Wir mußten einen neutralen Ort ausfindig machen. Aber auch dorthin -- in eine leere Wohnung beim Kursker Bahnhof, in der sich Wassilij manchmal mit seinen Fliegerkameraden traf -- gingen wir nicht allein, sondern in Begleitung meines »Aufpassers« Klimow, der furchtbar erschrak, als ich mich nach der Schule plötzlich in eine ganz andere Richtung in Bewegung setzte.

Und da saß er nun im Nebenzimmer, tat so, als ob er eine Zeitung läse, und versuchte in Wirklichkeit zu erspähen, was im Nebenraum, dessen Tür sperrangelweit offenstand, vor sich ging.

Wir standen beieinander und küßten uns stumm. Wir wußten, daß wir uns zum letztenmal sahen. Ljusja hatte bereits eine Kommandierung nach Taschkent, wo ein Film gedreht werden sollte. Uns war gleichzeitig bitter und süß zumute. Wir schwiegen, sahen einander in die Augen und küßten uns. Wir waren unendlich glücklich, obwohl wir beide den Tränen nahe waren.

Ich ging heim, müde, gebrochen, das Unglück vorausahnend. Hinter mir schlich mein »Beschützer«, ebenso zitternd bei dem Gedanken, was jetzt wohl mit ihm geschehen würde. Ljusja fuhr nach Hause, um seine Sachen zu packen, da er in wenigen Tagen Moskau verlassen sollte.

Am andern Tag, am 2. März 1943, kamen zwei Männer zu ihm in die Wohnung und baten ihn mitzukommen. Man fuhr in die Lubjanka (das Moskauer Gefängnis der Geheimpolizei). Dort wurde Ljusja durchsucht; man erklärte ihm, daß er verhaftet sei. Begründung: Verbindung mit Ausländern. Es stimmte, daß er mehrmals im Ausland gewesen war und beinahe alle Auslandskorrespondenten in Moskau kannte. Über mich wurde selbstverständlich kein Wort geredet.

Frühmorgens am 3. März, als ich mich gerade für den Schulweg vorbereitete, erschien völlig unerwartet Vater in der Wohnung; das war ganz außergewöhnlich. Mit schnellen Schritten kam er in mein Zimmer, wo meine gute Kinderfrau schon vor seinem Blick zu Stein erstarrte und wie angewurzelt in der Zimmerecke stehenblieb.

Noch nie hatte ich Vater so gesehen. Er erstickte beinahe vor Wut, er konnte kaum sprechen: »Wo -- wo hast du das alles?« brachte er heraus. »Wo sind die Briefe von diesem deinem »Schriftsteller«?«

Es ist kaum wiederzugeben, mit welcher Verachtung er das Wort Schriftsteller aussprach. »Ich weiß alles! Alle deine Telephongespräche, da sind sie, hier!« Er schlug mit der Hand auf seine Rocktasche. »Also her damit! Dein Kapler ist ein englischer Spion, er ist verhaftet!«

Ich holte aus meinem Tisch Ljusjas Aufzeichnungen und die Photographien mit seinen Kommentaren, die er mir aus Stalingrad mitgebracht hatte. Da waren auch seine Notizbücher, Entwürfe für mehrere Erzählungen und ein neues Drehbuch über (den Komponisten) Schostakowitsch. Und dann war hier auch Ljusjas langer, trauriger Abschiedsbrief, den er mir an meinem Geburtstag gegeben hatte.

»Aber ich liebe ihn«, sagte ich, als ich endlich meine Sprache wiedergefunden hatte. »Du liebst ihn«, brüllte Vater mit unbeschreiblicher Wut, allein schon über dieses eine Wort außer sich, und verabreichte mir zwei Ohrfeigen, die ersten in meinem Leben.

»Hören Sie, Anna, wie weit sie es gebracht hat?« Er konnte sich nicht mehr beherrschen. »Da stehen wir mitten in diesem Krieg, und sie, womit beschäftigt sie sich?« Und er spie grobe, gemeine Zoten aus, denn er fand keine anderen Ausdrücke, um »es« zu benennen.

»Nein, nein, nein«, wiederholte meine gute Kinderfrau unaufhörlich aus ihrem Winkel heraus. »Nein, nein, nein!«

»Wieso nein?!« beharrte der Vater. »Was heißt hier nein? Ich weiß ja doch alles!« Und dann blickte er mich an und sagte etwas, das mich völlig umwarf: »Schau dich doch selbst einmal an -- wer braucht denn so eine wie dich? Der ist umringt von Weibern, du dumme Gans!«

Und damit ging er. Er ging ins Eßzimmer und nahm alles mit, um es gründlich und genau zu lesen.

In meiner Seele aber war etwas zerbrochen. Seine letzten Worte hatten ihr Ziel getroffen. Wenn man versucht hätte, Ljusja in meinen Augen anzuschwärzen, so hätte das keinen Erfolg gehabt. Aber wenn man mir sagte: »Schau dich an«, wurde mir klar, daß mich wirklich niemand brauchen konnte.

Konnte Ljusja wirklich Liebe für mich empfinden? Warum sollte er mich brauchen? Den Satz: »Dein Kapler ist ein englischer Spion« begriff ich im ersten Augenblick nicht einmal. Erst als ich völlig mechanisch weiter meine Vorbereitungen für die Schule traf, verstand ich endlich, was mit Ljusja geschehen war.

Wie im Traum kam ich von der Schule zurück. »Geh ins Eßzimmer zu Papa«, wurde mir gesagt. Schweigend ging ich hinein. Vater war dabei, meine Briefe und Photographien zu zerreißen und in den Papierkorb zu werfen. »Ein Schriftsteller!« murmelte er.« Nicht einmal ordentlich Russisch schreiben kann er! Hättest du dir nicht wenigstens einen Russen aussuchen können?« Daß Kapler Jude war, ärgerte ihn offenbar am meisten.

Ljusja wurde für fünf Jahre nach dem Norden geschickt. Er lebte in Workuta und arbeitete dort am Theater. Nachdem seine Zeit abgelaufen war, beschloß er, sich nach Kiew zu seinen Eltern zu begeben; nach Moskau zurückzukehren, bekam er keine Erlaubnis. Trotz der Gefahr fuhr er doch für ein paar Tage hin. Das war 1948.

Er kam in Moskau an. Und in dem Augenblick, als er den Zug nach Kiew bestieg, erschienen auch »sie« im Waggon, und von der nächsten Station ab reiste er in eine ganz andere Richtung.

Doch diesmal war es keine Zwangsverschickung mehr, sondern der Weg in ein Arbeitslager, in das schreckliche Lager bei Inta, wo er in einem Bergwerk arbeiten mußte. Für weitere fünf Jahre.

Im März 1953 endete seine Frist. Er bat um die Erlaubnis, nach Workuta zurückkehren zu dürfen, wo es ein Theater für ihn gab, er wollte sich dort niederlassen. Doch ganz unerwartet brachte man ihn wieder nach Moskau in die Lubjanka. Und bald darauf, im Juli 1953, sagte man ihm: »Sie sind frei. Sie können nach Hause gehen.«

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