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»Dein Mitschüler ist dein natürlicher Feind«

SPIEGEL-Report über Schulerziehung und Bildung in Japan Fast jeder japanische Jugendliche besucht eine Oberschule bis zum Abitur, bald geht jeder zweite auf die Universität - Basis, so scheint es, für Japans erstaunlichen Wirtschaftserfolg. Doch die Bildungsexplosion hat Japan keineswegs dem erstrebten Ideal einer egalitären Akademikergesellschaft näher gebracht. Der Ausleseprozeß ist härter denn je, und die Kinder lernen vor allem eins: büffeln, Gehorsam und Unterordnung.
aus DER SPIEGEL 9/1983

Schon seit über drei Wochen lag der zwölfjährige Masato Ito aus Tokio im Krankenhaus. Fast jeden Tag aber, das freute ihn sehr, besuchte ihn seine Mutter und brachte ihm, damit er die Hospitalzeit sinnvoll nutze, stets neue Lektüre mit: ausschließlich Lehrbücher, »sonst verpasse ich den Anschluß in der Schule«, erklärte das Kind stolz seinen Arbeitseifer im Krankenbett. Denn: »Meine Mutter hat mir gesagt, ich muß ein harter Bursche werden und mich trotz aller Schmerzen zum Lernen zwingen.«

Kein Arzt schritt gegen diesen unsinnigen Lernwahn ein, obgleich der Junge stationär wegen eines Magengeschwürs behandelt wurde - verursacht durch Schulstreß, durch ein unerträgliches Lernpensum.

Masato ist kein Einzelfall: Allein in der japanischen Hauptstadt Tokio haben etwa ein Dutzend Kliniken Sonderstationen für Kinder mit - fast ausschließlich schulisch bedingten - Magenleiden eingerichtet. Der Mediziner Masayoshi Namiki hat in Reihenuntersuchungen festgestellt, daß heute mehr als siebenmal so viele japanische Kinder unter 14 Jahren an Magengeschwüren leiden wie noch vor fünf Jahren. Sein jüngster Ulcus-Patient war ein Dreijähriger, der schon vor dem Kindergarten die komplizierte japanische Schrift eingebleut bekam.

Hideto Kakizaki, Sohn eines Professors aus Osaka, war gerade 15 Jahre alt, als er sich in seinem Zimmer erhängte. Er hinterließ einen kurzen Abschiedsbrief: »Für mich ist es besser, zu sterben. Denn es ist sinnlos, weiter zu lernen.«

Auch Hideto ist kein Einzelfall: Japan hat weltweit die höchste Selbstmordrate unter Jugendlichen. Allein im vergangenen Jahr nahmen sich über 3000 Heranwachsende das Leben oder versuchten, sich umzubringen; es werden von Jahr zu Jahr mehr. Die fast ausschließliche Ursache der Suizide: Schulsorgen. Mehr als drei Viertel aller japanischen Kinder und Jugendlichen erklärten bei Umfragen, das größte Problem ihres Lebens sei die Schule.

Nobuya Ichiryu stammte aus einer, wie die Nachbarn meinten, »glücklichen Familie": Sein Vater, Absolvent der angesehenen Universität Tokio, war ein erfolgreicher Manager bei einem Tokioter Großkonzern; ein ruhiger, ausgeglichener Mann, einflußreich, wohlhabend. Die Mutter, auch sie akademisch gebildet, sah ihre Aufgabe vor allem daheim, bei der Familie in ihrem wenige Jahre zuvor erbauten Haus (Wert: über eine Million Mark) in einem Vorort von Kawasaki. Aufopferungsvoll, meinten die Nachbarn, kümmerte sie sich um ihre beiden fast erwachsenen Söhne.

Daß Nobuya, 20, ebenso wie sein Vater und sein älterer Bruder, an einer angesehenen Hochschule studieren würde, galt bei den Ichiryus als ausgemacht. Nur hatte Nobuya leider Schwierigkeiten: Zweimal bereits war er bei der allgemeinen Universitäts-Aufnahmeprüfung durchgefallen. Doch es wurde von ihm erwartet, daß er sich weiter bemühe. Die ständigen Vorhaltungen seiner Mutter, er lerne nicht fleißig genug, wurden ihm zur alltäglichen Routine.

Nobuya wollte nicht mehr lernen, was er nicht lernen konnte. Eines Nachts, S.138 angeheizt durch etliche Glas Whisky, schlich er ins elterliche Schlafzimmer: Mit einem Baseballschläger aus Metall hieb er unzählige Male »mit unglaublicher Brutalität« (Polizeibericht) auf den Kopf seines schlafenden Vaters, auf den Kopf seiner schlafenden Mutter ein.

Die Bluttat schockierte die Nation. In den Leserbriefspalten vieler Zeitungen des Landes kamen Zweifel auf: Wie hatte es dazu kommen können? War nur ein bis dahin unerkannt Geistesgestörter Amok gelaufen - oder verbarg sich mehr dahinter? Hatte das schreckliche Geschehen gar gesellschaftliche Relevanz über die familiäre Tragödie hinaus? Vor allem, selbstkritisch: War der getriezte Uni-Prüfling Nobuya für seine Tat wirklich verantwortlich? Aber wenn nicht er, wer dann?

Die in Hongkong erscheinende Zeitschrift »Asiaweek« beantwortete die bangen Zweifel mit der rhetorischen Frage: »Brachte die Schule Nobuya dazu, zu töten?« - Und das Blatt rief vergleichbare Fälle in Erinnerung:

Vor wenigen Jahren hatte ein Vater in der Hauptstadt seinen 16jährigen Sohn erwürgt, weil dessen Gewalttätigkeit gegen seine auf immer bessere Schulleistungen dringende Mutter »außer Kontrolle zu geraten drohte« (wie der Vater sagte). Ein Jahr danach hatte ein 16jähriger Oberschüler seine Großmutter mit Messer und Hammer ermordet und verstümmelt, nur weil sie sein Schulzeugnis bemäkelte.

Der japanischen Polizei sind im vergangenen Jahr über 200 Fälle von »innerfamiliärer Gewalt«, wie euphemistisch auch Elternmord und - mordversuch heißen, bekannt geworden. Scheinbar plötzlich und unerwartet ist die »Rache der Kinder«, so das Massenblatt »Asahi Shimbun«, über die japanische Gesellschaft gekommen.

Denn die japanische Schule macht die Kinder krank; die Schule führt sie in ausweglose Verzweiflung; die Schule weckt in ihnen unkontrollierbare Aggressionen. Das heißt: Japans Erziehungssystem ist mörderisch. »Sicherlich in keinem anderen zivilisierten Land«, meint Professor Isao Suwa von der Tokioter Hitotsubashi-Universität, »wird von den Schülern so viel gefordert wie bei uns.«

Die Jugend geht dabei kaputt: Daß schon Neunjährige täglich bis zu fünfzehn Stunden in der und für die Schule büffeln, gilt eher als Regel denn als Ausnahme. »Die heutige Schule«, sorgt sich der Publizist Hideo Matsuoka, »scheint das Grundrecht der Kinder auf das Spielen zu leugnen.«

60 Prozent aller Grund- und Mittelschüler, so ergab eine Untersuchung der Schulgesundheitsbehörde, leiden unter chronischem Schlafmangel. Über die Hälfte aller Schüler erreichen das vorgegebene Lernsoll nur durch zeitraubenden, nervenzehrenden und sündhaft teuren Nachhilfeunterricht.

Gleichwohl, den Blick aufs Ganze gerichtet, befindet der Lehrergewerkschafter Akio Fukushima, Japan habe »im Prinzip das beste Schulsystem der Welt«. Der ehemalige Ministerpräsident Takeo Fukuda schwärmte: »Wir haben das höchste Erziehungsniveau« - weltweit, versteht sich. Und die Zeitung »Mainichi« bejubelte gar eine US-Studie darüber, daß japanische Schüler dank ihrer rigorosen Erziehung intelligenter seien als alle anderen.

Die Mär von der überlegenen Intelligenz war zu schön, als daß sie nicht eine fette Schlagzeile wert gewesen wäre. Besonders, weil die frohe (wenngleich falsche) Botschaft aus Amerika kam - und dergleichen wird im ostasiatischen Kaiserreich begierig aufgesogen.

Tatsächlich haben auch Ausländer in jüngster Zeit nicht mit Lob für Nippons Erziehung gespart. »Vorbildlich« nennt der ehemalige US-Botschafter in Tokio, der Japanologe Edwin Reischauer, das System; als »beispiellos« anerkennt es der Harvard-Professor Ezra Vogel in seinem Bestseller »Japan as Number One«. Die Bonner »Welt« gar sieht im Schulwesen den Grund, warum die Europäer angeblich »nicht mit den Japanern mithalten« können: es sei das eigentliche »Geheimnis ihres Erfolges«.

Dabei verlieren die Lobspender jedoch den Blick für Inhalte, sind starr fixiert einzig auf das statistisch Erfaßbare, auf den nach Köpfen zählenden Output des Systems.

Ja, dann überkommt den Kritiker die Faszination beeindruckender Zahlen, und die Japaner präsentieren sich in toto als Musterschüler in einem Musterland.

99,98 Prozent aller jungen Japaner durchlaufen die neunjährige Pflichtschule - Weltrekord. Unter allen Ländern der Erde hat Japan die niedrigste Rate S.140 an Analphabeten - lediglich 0,4 Prozent der Bevölkerung (Bundesrepublik: gut zwei Prozent). Nirgendwo sonst gehen so viele Jugendliche nach der Pflichtschulzeit auf eine Oberschule - 94 Prozent eines jeden Jahrgangs (Bundesrepublik: knapp 25 Prozent).

Schließlich auch bei den Studenten hält Japan einsam die Spitzenposition: 38 Prozent aller Abiturienten entschließen sich zu einem Hochschulstudium (das ist weit mehr als jeder dritte Jugendliche eines Jahrgangs; Bundesrepublik: knapp 25 Prozent); bis zur Mitte der 80er Jahre sollen es 45 Prozent sein. An den 446 Universitäten des Landes (ohne die 579 Colleges und Fachhochschulen) sind derzeit mehr als zwei Millionen Studenten immatrikuliert. Sie werden, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, alle ein akademisches Abschlußdiplom erlangen.

Denn in japanischen Schulen bleibt niemand sitzen; und kaum ein Student steigt, wie es etwa in Deutschland oder den USA gang und gäbe ist, vorzeitig aus. Wer in eine Schule aufgenommen wird, kann darauf bauen, sie mit ordnungsgemäßem Abschluß zu verlassen. Darauf zu achten, daß er das auch wirklich schafft, ist die moralische Verpflichtung des Lehrers.

Genau an diesem Punkt wird das gülden strahlende Statistikbild der japanischen Schulerziehung fleckig. Wo auch der schwächste Schüler mit durchgezogen werden muß, nicht ins Abseits seiner Gruppe gedrängt werden darf, muß das Niveau zwangsläufig leiden. Selbstgefällig behauptet der Pädagoge Shumon Miura dennoch in der Monatsschrift »Chuo-Koron«, nach internationalen Maßstäben lägen die Errungenschaften des japanischen Schulsystems »weit über dem Weltdurchschnitt«. Der Anthropologe Mitsusada Fukusaku, Universitätsrektor in Kioto, urteilt realistischer: »Die Qualität der Hochschulen in Japan ist deutlich schlechter als etwa in Europa.«

Und was für die Universitäten gilt, hat Gültigkeit für alle Schulzweige. Denn die Universität ist das Maß aller erzieherischen Dinge: Nur auf sie hin wird in der Schule unterrichtet. Und wie sollte die Vorbereitung besser sein können als die Vollendung?

Ein einig Volk von Akademikern soll Japan in den Wunschträumen seiner Bildungsplaner sein - mag das Niveau im internationalen Vergleich auch relativ niedrig sein; das zählt nicht.

Was zählt, ist die Macht der schieren Zahl, sind Anstelligkeit, Lerneifer, Fleiß und Gehorsam, die den jungen Menschen in bis zu 16 Jahren schulischem Drill eingetrichtert werden.

Auf dem Weg zur Utopie der totalen Akademiker-Gesellschaft ist Japan gewiß weiter vorangeschritten als irgendein anderes Land. »Natürlich gibt es gar nicht genügend akademische Berufe«, sagt ein deutscher Industriemanager in Tokio, »aber das ist gerade Japans Vorteil. S.141 Die meisten Uni-Absolventen lassen sich ohne Murren von ihrem Arbeitgeber da einsetzen, wo der es für nötig hält. Für die japanische Wirtschaft insgesamt ist das ein ungeheurer Wettbewerbsvorsprung.«

Der allerdings wird teuer erkauft: »mit der Mißachtung des Wohles der Kinder«, klagt Professor Tsuneo Kimura, ein nach New York emigrierter Pädagoge aus Osaka. Denn die bedingungslose Fixierung auf das Studium degradiert bereits den Kindergarten zur Paukanstalt, läßt die Mittelschule zur Durchgangsstation auf dem eingleisigen Weg zum Gymnasium verkümmern, deformiert die Oberschule zur stupiden Vorbereitungsanstalt für die Universitäts-Eintrittsexamina.

Diese Prüfung, urteilt der Soziologe Kazuo Miyazaki, ist »das wichtigste Ereignis im Leben eines jeden Japaners«, das einschneidendste auch. Denn nur wer erfolgreich diese Hürde nimmt und Aufnahme findet in dem illustren Kreis der Studenten einer - möglichst angesehenen - Universität, kann für sein späteres Leben mit gesellschaftlicher Achtung rechnen, mit einer weitgehend störungsfreien Karriere, mit Wohlstand.

»Wenn ich es nicht schaffe, doch noch in die Todai zu kommen«, sagt Mitsuru Ito, der sich bereits dreimal vergebens durch die Aufnahmeprüfung quälte, »dann will mein Vater mich nicht in unser Unternehmen lassen. Aber ich soll die Firma doch erben.«

»Todai« ist ein Zauberwort, das gesellschaftliche Sesam-öffne-dich: Die ehemals kaiserliche »Tokio-Universität« gilt als fast absolut sicheres Sprungbrett in höchste Stellen von Bürokratie, Politik und Wirtschaft. Wer es schafft, dort einzutreten, der hat es fürs Leben geschafft.

Die meisten Topmanager der Industrie, über die Hälfte der Spitzenbeamten in der Regierung, fast alle japanischen Ministerpräsidenten der Nachkriegszeit absolvierten die Todai. Bis zur Mitte dieses Jahrhunderts genoß die Todai als einzige Hochschule des Landes sogar das Privileg, daß ihre Studenten, wenn sie wollten, ohne erneute Auslese in den höchsten Staatsdienst übernommen wurden.

Die Tokio-Universität ist die Spitze der Pyramide; darunter kommen, schon deutlich abgeschlagen, die (ebenfalls früher kaiserlichen) Kioto-Universität und die Hitotsubashi in Tokio. Es folgen in genau abgestufter Folge die restlichen 982 staatlichen, kommunalen und privaten Universitäten und Colleges: Japans Meritokratie klammert sich an wohlklingende Schulnamen, achtet das verschwommene, sich exakter Definition entziehende allgemeine Ansehen eines Bildungsinstituts, über das jeder Japaner sehr genau Bescheid weiß, höher als die dort vermittelte Bildung.

Daß zum Beispiel nicht der die größere Chance hat, höherer Beamter zu werden, der ein zielgerichtetes Studium wie Jura oder Volkswirtschaft hinter sich bringt, sondern derjenige, der egal was an der »richtigen« Schule studiert, ist allgemein akzeptierter Brauch. So entstammen gut zwei Drittel aller höheren Staatsbeamten in Tokio lediglich den oberen sieben Universitäten, seit vielen Jahren stets denselben.

Die halbstaatliche Rundfunkanstalt NHK ermittelte: 88 Prozent der japanischen Eltern meinen und heißen gut, daß in der Gesellschaft der akademische Background, der Namensklang der Uni also, mehr gilt als Wissen und Fähigkeit des einzelnen. Und immerhin noch in jeder vierten Familie herrscht die Meinung vor, man müsse seine Kinder auf »eine angesehene Schule« schicken, »welche Opfer auch immer das Eltern und Kindern« abverlange.

Diese elitäre Einstellung ist ebenso irrational wie urjapanisch.

Vor zweieinhalbtausend Jahren lehrte der chinesische Philosoph Konfuzius, daß Bildung das höchste Gut jedes Gemeinwesens sei, daß dem Weisen, dem Lehrer also, die höchste Achtung unter den Menschen zukomme.

Japan, seit etwa dem vierten nachchristlichen Jahrhundert durch wachsenden Kulturimport aus China aus seiner Vorgeschichtlichkeit erwachend, machte sich die Philosophie des Konfuzius zu eigen - und modifizierte sie, vor allem in diesem einen Punkt.

Denn das Inselvolk am Rande des Ostchinesischen Meeres ehrte stets den Krieger mehr als den Gelehrten. Nun also, und so ist's bis auf den heutigen Tag geblieben, stieg zwar der »sensei« zum »Lehrer« des Volkes auf - aber nur nach Maßgabe seines Namens, nach dem Grad seiner wie auch immer, nicht notwendigerweise durch Gelehrsamkeit, erworbenen Akzeptanz in der Gesellschaft. Der Samurai des 18. Jahrhunderts etwa, den sein Lehnsherr mit Unterrichtung der Dorfjugend beauftragt hatte, war Lehrer sui generis, auf welchem Gebiet er auch dilettieren mochte.

Entsprechend ist die Tokio-Universität, weil ein kaiserliches Dekret sie vor einem guten Jahrhundert als erste Hohe Schule der Nation schuf, auch heute noch im Bewußtsein der Japaner oberste Bildungsinstanz, mag ihr Niveau steigen, schwanken oder sinken.

Und: Lernen hieß in Japan stets nachahmen, reproduzieren, kopieren. Individuelle Kreativität war selten gefragt, Wille und Fähigkeit zur Kritik sind niemals erstrebenswerte Lernziele gewesen.

Das gilt auf fast allen Gebieten: Zum Beispiel galt nicht etwa das unabhängige schöpferische Genie, das sich auf neue Wege wagte, als großer Künstler, sondern derjenige, der die Vorlagen seines Lehrers zum Verwechseln ähnlich wiederholen konnte - auch heute noch.

So lebt in Tokio ein Kalligraph, der sich schon vor Jahrzehnten den Titel eines Großmeisters der Schriftkunst erwarb. Einer seiner Schüler, selbst längst »Meister« seines Fachs, schickt dem Lehrer immer noch jeden Monat Proben seines Könnens zur Begutachtung. Der S.144 vergleicht dann lediglich mit seinen eigenen Schriftzügen: Jede Abweichung ist ein Fehler.

Yukichi Fukuzawa, Japans größter Erzieher des 19. Jahrhunderts, Gründer der bedeutenden Privatuniversität »Keio« in Tokio, selbst erzogen in einer privaten Samurai-Schule, beschreibt in seiner Autobiographie: Seine Mitschüler und er bemühten sich, sogar im Tonfall ihres Lehrers zu sprechen, um so zu zeigen, daß sie besonders viel gelernt hätten.

Der Linguist Shoichi Watanabe von der Tokioter »Sophia-Universität« beklagt die verlorene goldene Zeit. In der Edo-Periode, vor der Einführung der allgemeinen Schulpflicht 1872, schreibt er in der Zeitschrift »Chuo Koron«, »wurde noch das Recht der Eltern anerkannt, den Inhalt der Schulbildung zu bestimmen. Schließlich wurde den Lehrern von den Eltern ihrer Schüler die Lehrerlaubnis erteilt«.

Diese Freiheit, Bildung nach altverstandenem japanischem Sinn im individuellen Fall zu bestimmen, damit Eliten aufzubauen und zu fördern, ging naturgemäß mit dem Aufkommen von Massenschulen verloren. Doch die Mentalität blieb. Gewisser Trost war es da vielen traditionell gesinnten Japanern, daß sich ihre Regierung unter dem Meiji-Kaiser ein Vorbild für den Aufbau des neuen Schulsystems nahm, das dem Land, wie man meinte, am besten entsprach: die Schule des wilhelminischen Preußen - obrigkeitshörig, klassenbewußt, geistlose Paukanstalt.

»Es kann nicht stark genug betont werden«, schreibt Professor Watanabe, »daß in Japan das kaiserliche Edikt über die Wehrpflicht und die Einführung eines Pflichtschulsystems im selben Jahr kamen. Militärische und Bildungsknechtschaft wurden sozusagen die zwei Räder eines Karrens.«

Noch heute tragen die Schüler vieler staatlicher Mittel- und Oberschulen Uniform: die Mädchen unförmig lange Faltenröcke in Dunkelblau und Blusen mit gewaltigen Kragen im Matrosen-Look; die Jungen zu weißen Turnschuhen schwarze lange Hosen, eine schwarze Jacke mit Stehkragen, auf dem wie militärische Rangabzeichen die Klassensymbole blitzen, Schirmmütze mit einem Schulwappen drauf, das ebensogut eine Waffengattung bezeichnen könnte.

Die militärischen Anklänge der Schulkleidung sind nicht zufällig, sondern beruhen auf direkter Übernahme der großjapanischen Kadettenuniform aus den 30er Jahren.

Die japanische Gesellschaft war und ist strikt vertikal strukturiert, gläubig und hierarchisch. Bildung heißt Macht, und Macht artikuliert sich durch Eliten. Deshalb ist in Japan ein guter Schüler immer nur der bessere Schüler, eine gute Schule stets nur die bessere Schule, eine renommierte Universität zwangsläufig die angesehenste Universität. Das japanische Volk, meint Isao Suwa, ist »furchtbar elitär bildungshörig«.

Da haben gleichmacherische Tendenzen keine Chance. Die Amerikaner, 1945 als Besatzer ins besiegte Japan gekommen, verordneten in ihrer missionarischen Demokratie-Besessenheit den Japanern zwar ein egalitäres Schulsystem, das der Form nach heute immer noch gilt. Aber funktionieren im Sinne seiner Väter konnte das System nicht, mag auch das Erziehungsministerium in Tokio, treuer Gralshüter des amerikanischen Auftrags, sein Schulwesen für das »denkbar demokratischste« ausgeben (so Ministeriumssprecher Hidetaka Sano).

Bis zum Ende der Pflichtschulzeit, also durch sechs Jahre Grundschule und drei Jahre Mittelschule, verläuft die eingleisige Erziehung - theoretisch - einheitlich: Angehende Akademiker sitzen in der Klasse neben künftigen Fabrikarbeitern. Kein frühzeitiger Ausleseprozeß soll die umfassende soziale Gruppe stören. Alle Schüler werden bis zum 15. Lebensjahr nach identischen Lehrplänen unterrichtet, zentral gelenkt und genau überwacht vom Ministerium für Erziehung, Wissenschaft und Kultur in Tokio. S.145

Getreu der US-Vorgabe ist de facto erstrebte Elitenbildung, nach offizieller Lesart, verpönt. Gleicher Drill für alle: Die rund 66 000 Lehranstalten - vom Kindergarten bis zur Uni - sind gleichmäßig über Japan verteilt, vorbildlich. Ein Stadt-Land-Gefälle im Bildungsangebot gibt es - theoretisch - nicht. Jeder Schüler muß die Schule besuchen, die seiner Wohnung am nächsten liegt.

Hideo Kurata, 12, wohnt am Stadtrand von Jokohama. Jeden Wochentag macht er sich bereits kurz nach sechs Uhr auf den rund anderthalbstündigen Weg zu »seiner« Schule im Tokioter Stadtteil Shibuya. Er wohnt sicherlich nicht im offiziell vorgezeichneten Einzugsgebiet der Anstalt.

Aber Hideos Eltern hatten schon vor Jahren, er war noch im Kindergarten, diese Schule für ihn ausgesucht. Denn sie hat, heißt es, sehr gute Beziehungen zu einer prestigeträchtigen Oberschule in der Hauptstadt und bereitet die Schüler gezielt auf deren Aufnahmeprüfung vor.

Also gab die Familie Kurata ihren Sohn, zumindest dem Meldepapier nach, in die Obhut eines entfernten Verwandten, der nahe dieser Schule wohnt.

Andere Eltern erfinden Adressen, mieten Scheinwohnungen an, lassen ihre Kinder gar für die Dauer der Schulzeit von Bekannten quasi adoptieren - nur um die Sprößlinge in einer »besseren« Schule anmelden zu können.

Professor Tadashi Sato lehrt seit fast zehn Jahren an der Hochschule der Wissenschaftlerstadt Tsukuba, einer Retortenkommune für 50 000 Akademiker und Forscher in der Abgeschiedenheit der Präfektur Ibaraki, gut zwei Bahnstunden von Tokio entfernt. Professor Sato hat seinen Wohnsitz in Tsukuba - und seine Familie in Tokio, der Kinder wegen: »Hier reicht das Schulniveau doch nur zur Vorbereitung auf die Präfektur-Uni.« Und die hat keinen besonders klingenden Namen.

Wie viele Eltern mit welchen Tricks das Nachbarschaftsgebot der Regierung für den Schulbesuch umgehen, ist unbekannt; ein hoher Beamter des Erziehungsministeriums räumt aber ein, daß es »sicher einige hunderttausend« sind.

Für Hideo Kurata beginnt der Unterricht um 8.30 Uhr. In seiner Klasse sind 45 Jungen und Mädchen; das ist für Tokio die Norm. Hideo sitzt im vorderen Drittel des Klassenzimmers. Jeden Monat wechselt die Sitzordnung; das ist an fast allen Schulen dasselbe: Stets hat der Klassenprimus seinen Platz vorne links; der Klassenletzte hockt in der Ecke hinten rechts. Neben der Wandtafel hängt eine Liste, auf der die Leistungspunkte eines jeden Schülers stehen. Die Liste wird im Vierwochenrhythmus aktualisiert. »Das mag für den, der aus seiner Ecke dahinten nie herauskommt, unangenehm sein«, räumt der Oberschullehrer Michio Kinoshita ein, »für alle anderen aber ist es Ansporn, selbst ganz oben auf der Liste zu stehen.« Tatsächlich S.146 jedoch fördert die öffentliche Anprangerung Neid, Egoismus und Unkameradschaftlichkeit. Denn wer seinen Mitschüler daran hindern kann zu lernen, sei es auch nur einen Nachmittag lang, indem er ihn etwa zum Fernsehen oder gar Spielen verleitet, selbst aber emsig büffelt, hat bereits wieder einen Schritt nach oben getan. »Vergiß nicht«, warnt ein Prüfungshandblatt, »dein Mitschüler ist dein natürlicher Feind.«

Weil sich nämlich der gesamte Unterricht ausschließlich an den nächstfälligen Prüfungen orientiert, wird Lernen zum sturen Büffeln; nicht auf die Entfaltung natürlicher geistiger Anlagen hin wird erzogen, gefragt ist vielmehr die Ansammlung jederzeit abrufbaren enzyklopädischen Wissens. »Vom ersten Tag der Oberschule an«, berichtet ein Student in Osaka, »gab unser Lehrer uns jeden Morgen als erstes bekannt, wie viele Tage uns noch bis zur Uni-Aufnahmeprüfung bleiben.«

Wenn der Schüler sich an die letzte schulische Hürde traut, das Eintrittsexamen für eine Universität, dann soll er dergleichen wissen: »Welcher prominente Publizist von welcher Zeitung unterstützte den japanisch-russischen Friedensvertrag und wurde von den Massen angegriffen?« - eine Frage aus der Geschichte. Oder Geographie, computergerecht mit ja oder nein zu beantworten: »Liegt die Stadt Anchorage auf der Halbinsel Alaska?« Antwort: Nein, denn Alaska ist keine Halbinsel.

Bis zur Hochschule hat fast jeder japanische Schüler fünf Aufnahme-, nicht etwa Abschlußprüfungen zu bestehen. Denn schon der private Kindergarten, der seine Aufgabe darin sieht, Grundschulwissen im Vorgriff zu vermitteln, siebt die Kleinen vor der Aufnahme. Schon der Dreijährige, den seine Mutter bereits in den ersten Schriftzeichen unterwiesen hat, tritt ein in Japans berüchtigte »shiken jigoku«, die »Examenshölle«.

Vom ersten Schuljahr an haben die jungen Japaner täglich mindestens sieben Stunden Unterricht, 240 Tage im Jahr. Allein die japanische Schrift, die einem mittelgroßen Lexikon zufolge gut 40 000 Zeichen umfaßt (von denen jedoch nur rund 2000 für den täglichen Sprachbedarf bestimmt sind), ist für die Kinder eine schwere Herausforderung: In den ersten drei Schuljahren müssen sie 881 Schriftzeichen lernen, am Ende der Grundschule weitere 1000 beherrschen. Erst dann können sie eine Zeitung lesen.

Doch gerade die komplizierte Sprache und Schrift fördern die Konzentrationsfähigkeit und lassen japanische Schüler ganz außergewöhnliche Leistungen im Auswendiglernen vollbringen. Die im internationalen Vergleich überdurchschnittlichen Kenntnisse in Geographie sind darauf zurückzuführen; auch in Mathematik und Chemie glänzen deshalb japanische Schüler - allerdings nur, soweit S.147 es um die Fülle abrufbereiter Formeln geht.

Dennoch ist der Kanon an Schulfächern zu umfangreich - schon zwölfjährige Kinder werden in elf Fächern unterwiesen -, als daß der Klassenunterricht ausreichte, alles für notwendig erachtete Wissen zu vermitteln. Und das, obgleich die meisten Lehrer trotz modernster Schuleinrichtungen wie in alter Zeit lediglich Lektionen erteilen: Der Lehrer doziert, die Schüler schweigen und memorieren. Ein Dialog findet nicht statt. »Dazu haben wir gar keine Zeit«, sagt der »Sensei« Kinoshita.

Die »Juku« freuen sich darüber. Juku sind private Tutoren-Colleges, deren einzige Aufgabe darin besteht, ihre Zöglinge erfolgreich auf Eintrittsexamina von der Grundschule bis zur Universität vorzubereiten. Das System ist so einfach wie wirkungsvoll: Immer wieder werden Prüfungsbögen vergangener Jahre repetiert, bis jedem Schüler auch die dümmste Nebensächlichkeit im Kopfe haften bleibt.

Die Unfähigkeit des offiziellen Schulsystems, mit seiner selbstgeschaffenen Bildungsexplosion fertig zu werden und einen vernünftigen Ausgleich zu schaffen zwischen dem faktischen Anspruch der Gesellschaft auf »elitäre« Bildung und dem Gleichheitsdogma des Erziehungsministeriums, erzwungen durch die Examenshölle, bringt für die Juku das ganz große Geschäft.

In nur etwas mehr als zwei Jahrzehnten haben sich über 50 000 solcher Nachhilfeschulen etabliert. Und obgleich sie meistens horrend teuer sind, jährliche Studiengebühren zwischen 3000 und 12 000 Mark verlangen, ist der Zustrom so groß, daß manche Juku einen Numerus clausus eingeführt haben.

Der Kreis der Absurdität schließt sich: Schüler, die ohne kräftige Nachhilfe nicht die Aufnahmeprüfung für die Schule ihrer Wahl bestehen können, pauken für viel Geld an einer Nachhilfeschule, um durch sie dann die Aufnahmeprüfung für eine bessere Nachhilfeschule zu bestehen, die wiederum sie auf die eigentliche Schule vorbereiten soll. »Schlichter Wahnsinn« sei dies System, meint Lehrerfunktionär Akio Fukushima.

Die sozialistische Gewerkschaft Nickyoso, in der über 70 Prozent aller japanischen Lehrer zusammengeschlossen sind, hat ihren Mitgliedern eigentlich verboten, nebenberuflich an Juku zu unterrichten. Daß sich etliche Genossen dort gleichwohl ein kräftiges Zubrot verdienen, kann die Gewerkschaft aber nicht verhindern.

Allein im Großraum Tokio besuchen drei Viertel aller Mittelschüler bis zu viermal wöchentlich eine Juku; bei den Hochschulaspiranten steigt die Quote auf fast 90 Prozent. Da fließt viel Geld: Das »Yoyogi-Seminar«, die größte Juku Japans mit etlichen 10 000 Schülern, zahlt seinen Lehrern Spitzenlöhne von bis zu 20 000 Mark im Monat, gut das S.149 Zehnfache eines durchschnittlichen staatlichen Lehrergehalts.

Yasuagi Takemura, Gründer und Vizepräsident des Yoyogi-Seminars, verweist stolz auf die Erfolge seiner Schule: Über 80 Prozent seiner Schüler schaffen es im allgemeinen, in eine der drei am stärksten bevorzugten Hochschulen aufgenommen zu werden.

Allerdings kann das dauern. Am Yoyogi-Seminar gibt es über 20 000 »Ronin«, so hießen früher die herrenlosen Samurai der Feudalzeit, so heißen heute junge Leute, die mindestens schon einmal bei der Uni-Aufnahmeprüfung durchgefallen sind.

Bis sie im Jahr darauf einen neuen Anlauf nehmen dürfen, pauken sie an einer Juku immer denselben Prüfungsstoff. Ronin, seit zehn Jahren schon ohne Testerfolg, sind keine Seltenheit. Insgesamt gibt es derzeit in Japan eine halbe Million Ronin.

Und die Eltern müssen das bezahlen. Bildung nach dem Geschmack der sprichwörtlichen »Kyoiku-mama«, der »Erziehungsmütter«, die ihre Kinder um des sozialen Prestiges willen zu immer höheren Leistungen antreiben, ist teuer. Eine Ausbildung an privaten Schulen - und die meisten Schulen in Japan sind in privater Hand, bei den Universitäten sogar fast 90 Prozent - kostet über die Jahre hinweg gut 90 000 Mark an Schul- und Studiengebühren. Die gleichzeitig fälligen Juku-Gebühren können leicht auf 50 000 Mark klettern.

Das Gros der Abiturienten bewirbt sich bei mehreren Hochschulen gleichzeitig. Bei den staatlichen Unis beträgt die Einschreibgebühr nur knapp 800 Mark, bei den privaten jedoch bis zu 10 000 Mark - fällig auch dann, wenn der Prüfling den Sprung in eine bessere Anstalt schafft.

Etliche Privat-Unis erwarten von ihren Jungstudikern, vielmehr deren Eltern, beträchtliche freiwillige Spenden: Die Regierung in Tokio forderte unlängst eine Reihe von Medizin-Akademien auf, künftig nicht mehr auf Einzelspenden von über 100 000 Mark zu dringen.

»Japanische Eltern sind entweder Masochisten«, urteilt der Anthropologe Mitsuada Fukasaku, »die Freude an ihren finanziellen Schwierigkeiten haben, weil sie ihren Kindern mehr geben, als sie wert sind. Oder aber sie sind Optimisten, die tatsächlich glauben, allein eine Hochschulausbildung mache aus ihren Kindern schon fähige und gute Menschen.«

Ja, lohnt sich der ganze Aufwand denn überhaupt, die jahrelange Schinderei der Kinder, die Opfer der Eltern? Die Staatsanwältin und ehemalige Leiterin des Büros für Jugendfragen im Amt des Ministerpräsidenten, Kinko Sato, ist von der Richtigkeit des Kurses überzeugt: »Diese Art rigoroser Schulausbildung setzt die Kinder unter starken Druck, aber sie versuchen, die Herausforderung anzunehmen. Hierdurch lernen sie Selbstdisziplin, Ausdauer und ein Rivalitätsgefühl Freunden gegenüber; sie erkennen die Bedeutung des Fair play und erfahren das Glück des Erfolges wie die Pein der Niederlage.«

Und das soll dann alles gewesen sein? In der Tat: ja. Wo Lernen zur gedankenlosen Aufnahme faktischer Wissensbrösel verkommt, wo die Fülle mechanisch auswendig gelernter Details geistige Durchdringung und Analyse ersetzt, da müssen Kreativität und individuelle Wißbegier, die tiefer schürfen möchte, zwangsläufig auf der Strecke bleiben.

Intellektuelle Selbstverwirklichung der Schüler, behutsame Pflege individueller Anlagen, das Wecken wissenschaftlicher Neugierde, die sich unerforschtes Terrain erschließt - all das findet in der japanischen Schule nicht statt.

Die japanische Schule stellt sich vielmehr als Kreativitäts-Verhinderer dar; S.150 den Bildungsplanern in Tokio ist es recht so. Denn sie sehen lediglich einen scheinbaren Widerspruch darin, daß das Schöpferische im Erziehungssystem einer Nation unterdrückt wird, die sich gerade in den vergangenen Jahrzehnten als ungemein schöpferisch erwiesen hat.

Kreativität, meint etwa Professor Kotaro Ito aus Kioto, ist »eine natürliche Anlage, die jederzeit geweckt, nicht aber gelehrt werden kann«. Deshalb kann sie für die Zeit der schulischen Ausbildung ruhig quasi beurlaubt werden, sie stände dem Paukbetrieb nur im Wege.

Die Schule hat die Aufgabe, ein solides Fundament an Sachwissen zu legen; wer sich von Natur aus kreativ fühlt, der darf diesen schöpferischen Funken später und außerhalb der Anstaltsmauern zünden lassen.

Den, im positiven Sinne, Brandstifter geben dann meist Japans Großunternehmen, in seltenen Fällen nur die Universitäten und deren Forschungseinrichtungen. Denn auch die vier Jahre Hochschulstudium sind den meisten Studenten mehr soziale Pflicht als geistige Kür. Lebensbezogen, das heißt von beruflicher Relevanz, sind diese Jahre sowieso nicht.

Mehr noch, da in Japan grundsätzlich Eintrittsprüfungen um ein Vielfaches schwieriger als Abschlußexamina sind: In den meisten Fällen ist mit dem Eintritt in eine Hochschule dem gesellschaftlichen Anspruch Genüge getan. Und auf die Plackerei folgen für die große Mehrheit der Studenten vier sorglose Jahre, sozusagen ein langgezogener Aufatmer zwischen Schule und Beruf. »Lauter Vergnügen und keine Arbeit«, überschrieb die »Far Eastern Economic Review« einen Bericht zum japanischen College-Leben. Selbst auf der hochangesehenen, angeblich schweren Tokio-Universität fühlte sich der 20jährige Masaaki Kawakita nach zwei Jahren immer noch wie in einem »Freizeitparadies«.

Die Akademikerschwemme Japans erweist sich damit als Schimäre. Die Zahl derer, die tatsächlich wissenschaftlich arbeiten wollen und können, die auf entsprechende Positionen deshalb hinarbeiten, die Forschung betreiben und wissenschaftliche Erkenntnisse sammeln wollen, ist in Japan prozentual keineswegs größer als in anderen Industriestaaten, verglichen mit den USA sogar deutlich geringer.

Aber das oft angstvoll beschworene Riesenpotential an Akademikern, das Japans Industrie locker die Konkurrenz abhängen läßt - wie steht es damit? Eine Schimäre auch das.

Die Handvoll Großunternehmen, deren Innovationsfähigkeit unbestritten ist, von den Elektrogiganten Sony und Matsushita bis zum Computer-Hersteller Fujitsu etwa, beziehen zwar Jahr um Jahr von einer ebenso kleinen Zahl ausgesuchter Universitäten ihren Nachwuchs wie im Abonnement, aber nicht als »fertige Akademiker«, sondern bestenfalls als Halbfertigprodukte.

Sie sind nach Maßgabe und Notwendigkeit der einzelnen Firmen noch formbar, haben bis dato lediglich bewiesen, daß sie belastbar sind (Schule), ausdauernd zielgerichtet arbeiten können (Hochschulexamen), sich ihrer gesellschaftlichen Stellung bewußt sind und sich ihr stellen - davon profitiert nun die Firma.

Denn was der einzelne studiert hat, ist ziemlich unwichtig; es zählt allein, daß er studiert hat.

Die Konzerne sind viel zu international ausgerichtet und klug, als daß sie ihre Forschung den Universitäten überließen. Sie unterhalten ihre eigenen Forschungsinstitute, in denen sie die fähigsten Wissenschaftler für sich einsetzen. Sie können es sich leisten: Den fünf größten industriegesponserten wissenschaftlichen Instituten stellen sie mehr Geld zur Verfügung, als die Regierung für Forschung in allen Universitäten zusammen bereithält - im vergangenen Fiskaljahr nur rund 75 Millionen Mark.

Seit 1949 haben vier Japaner einen Nobelpreis in Naturwissenschaft, Physik und Chemie bekommen. Keiner von ihnen forschte oder lehrte an einer japanischen Universität.

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