FERNER OSTEN / HATOJAMA Dem Drachen zum Fraß
Vor knapp zwei Jahren wurde der damalige japanische Ministerpräsident Schigeru Joschida gestürzt. Bis zum letzten Tag seiner Regierung hatte er seine Hoffnungen auf die Vereinigten Staaten gesetzt und hartnäckig jeden Versuch eines Ausgleichs mit den Sowjets abgelehnt.
Jetzt rechnet man in Tokio mit dem Sturz von Joschidas Nachfolger, des Itschiro Hatojama, der die Zurückdämmung des amerikanischen Einflusses in Japan und den Ausgleich mit der Sowjet-Union zu seinem Regierungsprogramm gemacht hatte.
Wenn Hatojama in diesen Tagen von Moskau und einem Abstecher über Europa nach Tokio zurückkehrt, dann hat er zwar das Hauptanliegen seines außenpolitischen Programms - die Wiederaufnahme normaler Beziehungen mit der Sowjet-Union nach einem über elf Jahre währenden Kriegszustand - erreicht, aber seine Tage als Ministerpräsident werden gezählt sein: Die amerikamüde Öffentlichkeit in Japan hatte sich die Ergebnisse eines Ausgleichs mit Moskau bedeutend rosiger vorgestellt.
Bei ihren Verhandlungen mit Hatojama beurteilte die sowjetische Regierung die Internationale Lage anscheinend als so befriedigend, daß sie darauf verzichtete, gegenüber dem japanischen Ministerpräsidenten eine Geste des Wohlwollens zu zeigen. Die Moskauer Diplomatie opferte den der Sowjet-Union freundlich gesinnten Hatojama bedenkenlos den japanischen Wählermassen.
Die Verhandlungen, die Hatojama in Moskau zu einem für Japan unguten Ende geführt hat, sind die langwierigsten und längsten zwischenstaatlichen Besprechungen gewesen, die nach dem zweiten Weltkrieg stattgefunden haben. Es ging dabei um die Folgen der einwöchigen militärischen Aktion der Sowjets gegen Japan am Ende des zweiten Weltkrieges im Sommer 1945. Mit ihrer Leichenfledderei - Japan stand bereits unmittelbar vor der Kapitulation, als Moskau in den Krieg gegen Japan eingriff - gewannen die Sowjets entscheidende strategische Positionen im Fernen Osten.
Die Sowjets besetzten in den Tagen nach der japanischen Kapitulation:
- Die dcm japanischen Inselreich im Nordwesten vorgelagerte Insel Sachalin und
- den 1300 Kilometer langen Bogen der
Kurilen-Inseln, der sich von Nordjapan bis hinüber an die Südspitze der sibirischen Halbinsel Kamtschatka spannt. Die völkerrechtlich formale Beendigung des Kriegszustandes zwischen Japan und der Sowjet-Union war bislang an den territorialen Ansprüchen der Sowjets gescheitert. Hatojama beendete jetzt zwar den Kriegszustand, aber die Lösung jenes entscheidenden Problems brachte er nicht um einen Schritt weiter.
Tokio erkannte recht früh, daß es Sachalin und den größten Teil der Kurilen -Inseln auf das Verlustkonto des Krieges buchen mußte. Es konzentrierte seine territorialen Forderungen auf die Rückgabe der Inseln Habomai und Schikotan, die der Küste Hokkaidos unmittelbar vorgelagert sind und nie zu den Kurilen gehört haben, und auf die beiden südlichen Inseln der Kurilen-Kette, Kunaschiri und Etorofu (siehe Karte).
Die Sowjets dagegen schlugen dem Hatojama eine »-Adenauer-Formel« vor - eine Konsolidierung des sowjetisch-japanischen Verhältnisses nach dem Modell ihrer Verhandlungen mit dem Bundeskanzler im Herbst vorigen Jahres in Moskau. Sie verlangten Verzicht auf jede Erörterung territorialer Fragen und boten dafür:
- Beendigung des Kriegszustandes,
-Austausch von Botschaftern,
- Repatriierung der japanischen Kriegsgefangenen,
- ein zehnjähriges, für die Japaner allerdings lebenswichtiges Fischerei-Abkommen für das Gebiet der Kurilen und
- Unterstützung der Aufnahme Japans
in die Vereinten Nationen (Bulganin: »Selbstverständlich kann ich nicht garantieren, daß niemand anders ein Veto einlegt").
Bereits im August war der japanische Außenminister Schigemitsu drauf und dran gewesen, die »Adenauer-Formel« für Japan zu akzeptieren. Da wurde er in letzter Minute von seinem Ministerpräsidenten zurückgerufen. In gewundenen diplomatischen Redewendungen hatte der amerikanische Außenminister Dulles den Japanern zu verstehen gegeben, Amerika würde eventuell den strategisch wichtigen Stützpunkt Okinawa im Süden Japans räumen, falls die Sowjet-Union ihrerseits bereit sei, die Kurilen zu räumen.
Hatojama sah in diesem Angebot die Chance seines Lebens. Er entschloß sich, selbst mit den Moskowitern zu verhandeln. Es zeigte sich für Japan plötzlich die Möglichkeit, die demütigende »Adenauer-Formel« in eine »österreichische Lösung« zu verwandeln, was bedeutet hätte, daß sowohl die Sowjets als auch die Amerikaner das Land hätten verlassen müssen, so daß Japan in einem neutralen Status zwischen Moskau und Washington zurückgeblieben wäre.
Doch der japanische Ministerpräsident wurde in Moskau brutal aus seinen österreichischen Illusionen herausgerissen. Bulganin und Schepilow dachten gar nicht daran, ihren Standpunkt angesichts des neuen amerikanischen Angebots zu überprüfen.
Hatojama stand vor der peinlichen Situation, im Kreml kapitulieren zu müssen. Die Politik seines Vorgängers und Gegners Joschida, der allein auf die Amerikaner gesetzt hatte, schien nach der Niederlage Hatojamas nachträglich gerechtfertigt zu sein.
In diesem kritischen Augenblick gestatteten die Sowjets ihrem asiatischen Partner, das Gesicht zu wahren, ohne damit allerdings auch nur einen Deut ihrer Ansprüche aufzugeben.
Parteisekretär Chruschtschew rief den japanischen Landwirtschaftsminister Itschiro Kono, der den Hatojama als Sachverständiger für das Fischereiabkommen begleitet hatte, zu sich. Kurz nach der Besprechung erklärte der sowjetische Pressechef Ilijitschew: »In diesem Augenblick darf ich sagen, daß die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Moskau und Tokio sichergestellt ist.«
In der Besprechung zwischen Chruschtschew und Kono hatte der sowjetische Parteisekretär dem Japaner zugesagt, daß die Sowjet-Union die beiden Hokkaido vorgelagerten Inseln Habomai und Schikotan nach Abschluß eines Friedensvertrages zurückerstatten werde. Der japanische Landwirtschaftsminister hatte die Situation gerettet.
Kono empfahl sich damit als der gegebene Partner, falls einmal unter veränderten internationalen Bedingungen neue Gespräche zwischen den beiden Mächten notwendig werden sollten. Die Sowjets aber hatten sich nichts vergeben. Wann ein Friedensvertrag abgeschlossen wird, hängt ausschließlich von ihrem guten Willen ab.
Aus der sowjetischen Verhandlungsstrategie am Modell Japans läßt sich ziemlich genau ablesen, wie der sowjetische Außenminister Schepilow die weltpolitische Lage gegenwärtig einschätzt:
Moskau scheint nicht damit zu rechnen, daß in absehbarer Zeit ein internationaler Konflikt den Fernen Osten berühren wird. Die Kurilen haben für die Sowjets vorwiegend defensive Bedeutung, und zwar als Bollwerk gegen eine Offensive zu Wasser und zur Luft, die von dem amerikanischen Stützpunkt Okinawa gegen die Industrien Ostsibiriens vorgetragen werden könnte. Die gleichzeitige Räumung der Kurilen und Okinawas, die von Washington vorgeschlagen wurde, hätte also die Sowjets von einem offensiven Druck befreit, wenn sie einen solchen Druck zur Zeit empfinden würden.
Die Sowjet-Union scheint ferner - entgegen voreiligen westlichen und auch Bonner Hoffnungen - nicht das geringste Mißtrauen gegen ihren chinesischen Verbündeten zu hegen. Wenn die chinesischen Absichten gegenüber Moskau auch nur den geringsten Zweifel im Kreml offenlassen würden, hätte Moskau nicht das Risiko auf sich genommen, Hatojama, den Freund der Sowjets, dem Drachen der öffentlichen Meinung Japans zum Fraß vorzuwerfen.
Hatojama (Mitte) in Lenis Arbeitszimmer: Die kurilische Kapitulation