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»Dem Führer entgegen arbeiten«

Der britische Historiker Ian Kershaw über das Zusammenspiel zwischen Hitler und den Deutschen sowie den Zusammenhang von Krieg und Holocaust
aus DER SPIEGEL 34/2000

SPIEGEL: Professor Kershaw, zehn Jahre lang haben Sie an Ihrer Hitler-Biografie gearbeitet, deren zweiter Band in dieser Woche auf den Markt kommt. Anders als Ihre Vorgänger haben Sie Hitler und den Zweiten Weltkrieg nicht als Zeitgenosse erlebt. War der innere Abstand für das Schreiben von Vorteil?

Kershaw: Ja, unbedingt. Ich bin 1943 geboren, war also zwei Jahre alt, als Hitler Selbstmord verübte und Deutschland kapitulierte. Mich unterscheidet der »Luxus der späten Geburt« von anderen Hitler-Biografen, und ich bin zudem Engländer, meine Familie musste im Zweiten Weltkrieg weder Opfer noch Täter beklagen. Ich glaube, ich kann Hitler und das Dritte Reich mit größerer Unbefangenheit beurteilen.

SPIEGEL: Umso mehr fällt auf, dass Sie sich weigern, letzte Fragen zu erörtern, die andere Biografen vorsichtig beantworteten: etwa ob Hitler zu den Großen der Geschichte zählt oder eine Art Verkörperung des Bösen war. Warum eigentlich?

Kershaw: Weil mir solche letzten Fragen nicht dabei helfen, die Vergangenheit zu analysieren. Es gab Millionen ganz einfacher, ganz normaler Menschen, die an Hitler glaubten. Mit metaphysischen Betrachtungen lässt sich deren Verhalten nicht erklären. Es ist auch gar keiner weiteren Erörterung bedürftig, dass ich Hitler abscheulich und das Dritte Reich schrecklich finde. Aber als Historiker bringen mich solche Werturteile keinen Schritt voran.

SPIEGEL: Wenn wir Sie recht verstehen, wollen Sie sich möglichst direkten Zugang zu Ihrem Sujet verschaffen. Sie nehmen Hitler das Singuläre - und historisieren ihn damit.

Kershaw: In gewisser Weise stimmt das. Ich würde über Napoleon von der Methode her nicht anders schreiben, als ich über Hitler geschrieben habe. Ich halte Hitlers Aufstieg und Niedergang für ebenso verstehbar wie die politischen Lebensläufe anderer Diktatoren. Da gibt es keine »black box«. Die moralischen und die metaphysischen Fragen mögen andere beantworten. Ich bin dafür nicht zuständig.

SPIEGEL: Was war Hitler - ein zynischer Machtmensch, ein fanatischer Weltverbesserer, ein verblendeter Ideologe?

Kershaw: Unter den Historikern würde heute niemand mehr Hitler nur auf die Figur eines zynischen Machtpolitikers reduzieren. Natürlich war er das auch, aber seine Antriebskraft war eine politische Vision: Deutschland zu neuer Größe zu führen, am Ende sollte die Weltherrschaft stehen. Die Vernichtung Andersdenkender und der Genozid an den Juden gehörten dazu, waren aber nicht Selbstzweck.

SPIEGEL: War Hitlers letzte Antriebskraft Mordlust, wie Sebastian Haffner meint?

Kershaw: Nein, Hitlers entscheidender Beweggrund war der Wunsch, Deutschland zur beherrschenden Weltmacht zu erheben. Das bedeutete nicht nur, die Gegner im Krieg zu besiegen, sondern sie buchstäblich zu vernichten. Zu Feinden zählten für Hitler hauptsächlich natürlich die Juden, die für ihn zugleich Weltkapitalismus und Weltkommunismus verkörperten.

SPIEGEL: War der Holocaust nur ein Nebenprodukt des Kriegs?

Kershaw: Vernichtung und Krieg sind nicht zu trennen, der Genozid fiel mit dem Krieg zusammen.

SPIEGEL: Alle Biografen beschäftigen sich zwangläufig mit dem Gemütszustand Hitlers. Sie schreiben in Ihrem Buch, dass er im klinischen Sinn nicht geisteskrank gewesen sei - in welchem denn?

Kershaw: Natürlich müssen uns heute seine Vorstellungen und Vorhaben verrückt erscheinen. Aber wir können ja nicht übersehen, dass sie damals unter den deutschen Eliten und auch im Volke verbreitet waren, sonst wäre Hitler nicht zum Führer geworden. Der Angriff auf die Sowjetunion 1941 etwa fand unter den Generälen der Wehrmacht breite Unterstützung. Waren die Generäle auch geisteskrank? Selbst für den Holocaust fanden sich ohne Schwierigkeiten genügend Täter, die keineswegs geisteskrank waren.

SPIEGEL: Von Friedrich Nietzsche stammt der Satz, dass sich politische Verführer den Glauben an sich von ihrem Publikum bestätigen lassen müssen. Sie schreiben, das deutsche Volk habe »die persönliche Hybris seines Führer geformt«. Haben sich die Deutschen ihren Hitler geschaffen?

Kershaw: Ja, es gibt eine Wechselwirkung zwischen Hitler und großen Teilen der Bevölkerung, die ihre Wünsche, Sehnsüchte und Erwartungen auf den Führer projizierten. Sicherlich sind Ansätze zur Hybris bei Hitler schon vor seinem Aufstieg vorhanden. Aber erst der Führerkult ließ diese Hybris zur vollen Wirkung kommen. Die Auswirkungen schlugen später auf die Deutschen zurück.

SPIEGEL: Der Terror gegen Sozialdemokraten oder Kommunisten war der Preis, den die meisten Deutschen vor allem in den ersten vier »guten Jahren« nach der Machtergreifung 1933 akzeptierten?

Kershaw: Ja, wobei das Verhalten der Deutschen nicht so ungewöhnlich ist, wie die Deutschen zu denken geneigt sind. Schauen Sie sich an, wie viele Briten auf die Anschläge der IRA in Nordirland reagiert haben. Sie wollten die IRA-Sympathisanten am liebsten einsperren und den Schlüssel wegwerfen. Ähnlich war die Mentalität, die 1933 in Deutschland gegenüber den Linken herrschte. Sie galten als Ruhestörer nach dem Motto: Was ihnen geschieht, geschieht ihnen zu Recht.

SPIEGEL: Und so dachten die Deutschen auch, als die Juden zwischen 1933 und 1935 ausgegrenzt wurden?

Kershaw: Auch das finden Sie überall auf der Welt - eine kleine, unbeliebte Minderheit als Sündenbock. Sie müssen auch dabei bedenken, dass der NS-Staat ein Terror- und Polizeistaat war, in dem Widerstand Repressalien nach sich zog.

SPIEGEL: Sie wollen den Deutschen das Singuläre nehmen ...

Kershaw: ... nicht ganz. Faschismus gab es zwar auch in Spanien oder in Italien, aber besondere deutsche Eigenheiten sind nicht zu unterschätzen.

SPIEGEL: Welche denn?

Kershaw: Am wichtigsten ist die besondere Ausprägung des Imperialismus. Nur die Deutschen wollten ihre Vorherrschaft mit rassistischen Mitteln - auch im ethnisch gemischten Zentral- und Osteuropa - durchsetzen; darin ist das Dritte Reich einmalig. Zu den Besonderheiten zählt zudem die Vorstellung von einer ethnisch »reinen« Volksgemeinschaft. Das findet man nirgendwo so extrem wie in Deutschland.

SPIEGEL: Wie hoch veranschlagen Sie Glück und Zufall bei Hitlers Aufstieg und Deutschlands Wiedererstarken bis 1938?

Kershaw: Schon Hitlers Weg in die Reichskanzlei war keineswegs zwangsläufig und beileibe keine logische Konsequenz der deutschen Geschichte. Er lebte immer wieder von der Schwäche seiner Gegner, innen- wie außenpolitisch. In den dreißiger Jahren war das Versailler System schon so wackelig wie ein Kartenhaus, deshalb konnte Hitler die Remilitarisierung des Rheinlands 1936 widerstandslos vornehmen oder den Anschluss Österreichs 1938 vorantreiben. Es war dann zwar ein Vabanquespiel, als Hitler 1938 mit Krieg drohte, um die Tschechoslowakei zur Abtretung des Sudetengebiets zu zwingen. Aber er hatte auch Glück. Der britische Premierminister Neville Chamberlain lenkte ein, Hitler hatte einen »blutlosen« Sieg, und die ersten Anzeichen eines Widerstandes verschwanden.

SPIEGEL: In welche Kategorie fällt das Scheitern aller Attentate auf Hitler?

Kershaw: Das war hauptsächlich Zufall. Anders kann ich nicht erklären, dass im November 1939 der Bombenanschlag des Schreiners Georg Elser in München scheiterte, weil Hitler die vorgesehene Redezeit halbierte und den Saal im Bürgerbräukeller 13 Minuten vor der Explosion verließ.

SPIEGEL: Ist Elser Ihr Held in dieser Zeit?

Kershaw: Einer von den wenigen sicherlich, vermutlich gerade deshalb, weil er ein Außenseiter war. Elser ist kein politischer Mensch, er will Hitler töten, um den Krieg zu beenden, einfach so. Verglichen mit den Offizieren, die immer wieder zögern, bis sie 1944 endlich einen Anschlag zu Stande bringen, ist Elser eine Lichtgestalt.

SPIEGEL: Im zweiten Band Ihrer Hitler-Biografie fällt auf, dass der Gegenstand Ihrer Betrachtung, Hitler nämlich, als Privatperson kaum noch vorkommt.

Kershaw: Das liegt an Hitler. Wenn Sie ihn losgelöst von seinem Amt betrachten, ist er nicht besonders eindrucksvoll. Hitler war im ersten Abschnitt seines Lebens bis 1919 eher eine lächerliche und exzentrische Figur. Ab 1933 hieß er dann nur noch »Mein Führer«, und das bringt eine Mystifizierung mit sich, hinter der die Privatperson fast vollkommen verschwindet. Wichtiger sogar als die Person Hitler war der Kult, der um den Führer entstand. Ohne diesen Führerkult hätte der Mensch Hitler seine Wirkung nicht entfalten können.

SPIEGEL: Wer unter seinen Paladinen war Hitler am nächsten?

Kershaw: Hitler hatte keine echten Freunde, er war zu persönlichen Beziehungen im üblichen menschlichen Sinne unfähig. Sein engster politischer Vertrauter war lange Zeit sicherlich Joseph Goebbels, der Propagandaminister, der den Führerkult zur vollen Blüte brachte.

SPIEGEL: In seiner Hitler-Biografie stützte sich Joachim C. Fest auf die Aussagen Albert Speers, Hitlers Architekten und späteren Rüstungsminister. Sie hingegen benutzen ausgiebig Goebbels' Tagebücher als Quelle, die im Moskauer Sonderarchiv liegen und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zugänglich wurden. Womit begründen Sie diese Priorität?

Kershaw: Goebbels schrieb meist am Tag danach über seine Treffen mit Hitler. Das ist etwas anderes, als wenn Speer nach 20 Jahren Haft in Spandau seine Erinnerungen über das Dritte Reich und sein Verhältnis zum Führer niederschreibt. Natürlich tendiert Goebbels dazu, die Dinge zu beschönigen. Doch über ihn erschließt sich auf weiten Strecken Hitlers Gedankenwelt.

SPIEGEL: Bei Goebbels lässt sich nachlesen, wie sich das Dritte Reich innenpolitisch - trotz aller Erfolge in der Außenpolitik - bis 1938 radikalisiert. Unter Historikern ist dabei umstritten, ob Hitler das initiiert oder ob er dem Binnendruck der NSDAP-Ortsgruppen- und Gauleiter nachgibt. Hans Mommsen bezeichnet Hitler sogar als »schwachen Diktator«.

Kershaw: Hitler war kein schwacher Diktator, auch wenn sich einige Beispiele für Entscheidungsschwäche finden lassen. Dass er den inkompetenten und morphiumsüchtigen Luftwaffenchef Hermann Göring nicht abgesetzt hat, ist sicherlich kein Beweis für

Stärke. Ins Gewicht fällt aber vor allem, dass Hitler alle herausragenden Entscheidungen wie die über Außenpolitik oder Krieg selbst traf. Er strebte den Krieg mit Frankreich 1940 und mit der Sowjetunion 1941 an, er wollte die Juden - deutsche, ost- und westeuropäische - vernichten lassen, er stand unter keinerlei Druck von irgendjemandem.

SPIEGEL: Aber wie lässt sich das Zusammenspiel zwischen Hitler und der NSDAP, der Verwaltung oder der Wehrmacht erklären?

Kershaw: Den Schlüssel fand ich in einer Rede, die Werner Willikens, ein Staatssekretär im preußischen Landwirtschaftsministerium, 1934 vor NS-Funktionären hielt. Er sagte, es gelte, »dem Führer entgegen zu arbeiten«. Dieser Satz war mein Aha-Erlebnis.

Hitler hatte eine unveränderliche Vision, doch kein konkretes Programm etwa für die Ermordung der Juden oder für den Kampf um Lebensraum in Osteuropa. Da jedoch bekannt war, dass Hitler immer die radikalste Lösung wählte, wussten seine Mitarbeiter, aber auch die Verwaltungs- und Mordexperten in den besetzten Gebieten, dass sie selbst für radikalste Vorschläge Zustimmung aus Berlin erhielten, es sei denn, taktische Gründe sprachen zu diesem Zeitpunkt aus Hitlers Sicht dagegen.

SPIEGEL: Wie spielte sich das in der Praxis ab?

Kershaw: Oberstleutnant Bernhard von Loßberg aus dem Wehrmachtsführungsamt zum Beispiel erfuhr im Sommer 1940, dass Hitler einen Angriff auf die Sowjetunion erwog. Aus eigenem Antrieb entwarf er eine Operationsstudie für den Russlandfeldzug. Als Hitler den Chef des Amtes, Alfred Jodl, um Operationspläne bat, konnte der stolz verkünden, dass sie schon vorlägen.

SPIEGEL: Aber vorauseilender Gehorsam zeichnet nicht allein das Dritte Reich aus. In jeder Verwaltung machen Mitarbeiter Vorschläge, von denen sie hoffen, dass ihr Chef sie gut findet und sie dafür lobt.

Kershaw: Das stimmt, aber im Dritten Reich ist die weltanschauliche Dynamik anders. Die ideologischen Impulse kommen grundsätzlich von Hitler. Sie werden von Parteifunktionären, Beamten oder Militärs aufgegriffen, und zwar in der extremsten Ausprägung. Ihre Vorschläge lassen dann an Radikalität nichts zu wünschen übrig. Hitler musste nicht mehr viel tun. Was er wollte, geschah folgerichtig, ohne seine permanente Aufforderung.

SPIEGEL: Doch dass die letzte Entscheidung bei ihm lag, ziehen Sie nicht in Zweifel?

Kershaw: Natürlich nicht. Als 1936 David Frankfurter, ein Jugoslawe jüdischen Glaubens, den NSDAP-Landesgruppenleiter in der Schweiz, Wilhelm Gustloff, ermordete, ließ Hitler erkennen, dass er derzeit kein Interesse an einer antisemitischen Welle im Reich hege, und es gab dann auch keine. Bei der so genannten Reichskristallnacht 1938 war es umgekehrt. Hitler stimmte dem drängenden Goebbels zu, und dann brannten die Synagogen.

SPIEGEL: »Dem Führer entgegen arbeiten« - ist das auch Ihr Schlüssel für den Holocaust?

Kershaw: Ja. Bezeichnenderweise lassen sich die ersten Schritte in den Genozid ohne Hitlers Einmischung erklären. Nach dem Sieg über Polen 1939 handelten die SS und der Polizeiapparat eigenständig. Indem sie immer neue Projekte für Deportationen und Umsiedlungen erdachten, arbeiteten sie dem Führer entgegen. So entstand auch 1940 der Plan, Juden in Madagaskar anzusiedeln.

SPIEGEL: Glauben Sie wirklich, dass Hitler nach Kriegsbeginn den Juden die Emigration gestattet hätte, wenn denn ein Land bereit gewesen wäre, sie aufzunehmen?

Kershaw: Nein, die Juden waren für ihn Geiseln, vor allem im Blick auf Amerika. Alle Umsiedlungspläne schlossen ein, dass die Juden unter dem Regime der SS bleiben sollten. Er glaubte, die Westmächte erpressen zu können.

SPIEGEL: Sie neigen der Ansicht zu, dass der Holocaust 1940 noch nicht beschlossen war?

Kershaw: Hitler wollte die Juden nicht von vornherein ermorden. Sie sollten zwar später irgendwie territorial entfernt werden, aber das meinte 1940 noch nicht vergasen.

SPIEGEL: Wann fallen die Entscheidungen zum Mord?

Kershaw: Es gibt nicht eine einzelne Entscheidung Hitlers, die Juden zu ermorden, sondern eine Fülle von Schritten zwischen Sommer 1941 und Frühjahr 1942. Im Juli/August 1941 zum Beispiel baute SS-Chef Heinrich Himmler die Polizeieinheiten aus, die in den eroberten sowjetischen Gebieten zunächst alle jüdischen Männer, dann alle Juden erschossen. Himmler traf in jenen Tagen mehrmals mit Hitler in der Wolfsschanze, seinem ostpreußischen Hauptquartier, zusammen. Wir wissen nicht, was die beiden besprochen haben, aber es ist sehr wahrscheinlich, dass Himmler die Genehmigung Hitlers zur Ausweitung der Erschießung von sowjetischen Juden auch auf Frauen und Kinder einholte.

SPIEGEL: Was macht Sie in der Annahme so sicher, dass Himmler bei Hitler die Erlaubnis einholte, die Juden zu töten?

Kershaw: Weil es in einem anderen Fall so gehandhabt wurde. Als der Höhere SS- und Polizeiführer im Warthegau, Wilhelm Koppe, bei Himmler anregte, 30 000 tuberkulosekranke Polen zu ermorden, antwortete ihm Himmlers Adjutant, dass darüber der Führer entscheiden müsse. Wenn Hitlers Einwilligung zum Mord an 30 000 Menschen eingeholt werden musste, muss es erst recht bei größeren Menschenmengen der Fall gewesen sein.

SPIEGEL: Zum Völkermord kam es erst Ende 1941? Und wieder wird dem Führer entgegen gearbeitet?

Kershaw: Ja, die Gauleiter im Altreich hatten Hitler im Frühherbst 1941 bedrängt, die Juden aus ihren Gebieten nach Osten zu deportieren. Diese Leute wussten instinktiv, dass sie damit Hitlers Vorstellungen entsprachen, auch wenn er zunächst zögerte. Die deutsche Führung rechnete im Herbst 1941 immer noch mit einem schnellen Sieg über die Sowjetunion; die Juden sollten zuerst nach Osteuropa und später nach dem eroberten Russland deportiert werden - übrigens in die Gulag-Lager, die Stalin angelegt hatte.

SPIEGEL: Die Deportation ging in Mord über, als der Vormarsch der Wehrmacht ins Stocken geraten war?

Kershaw: Zunächst stockten auch die Deportationen, weil SS und Verwaltung in den besetzten Gebieten Osteuropas nicht wussten, wohin sie die Juden bringen sollten. Anstatt aber die Deportationen abzubrechen, schlugen die Nazis den radikalsten Weg ein und brachten die Menschen einfach um. Hitlers Zustimmung war dafür unerlässlich.

SPIEGEL: In dieser Logik wäre der Holocaust ausgeblieben, falls Deutschland die Sowjetunion besiegt hätte.

Kershaw: Nein. Der Holocaust hätte aber wohl andere Formen angenommen. Eines ist unumstößlich: Hitler wollte alle Juden aus Europa entfernen; möglicherweise hätte er sie in Sibirien dahinsiechen lassen. Eine menschenwürdige Existenz war für sie nicht vorgesehen.

SPIEGEL: Ihre Theorie über den Beginn des Holocaust besitzt einen Schwachpunkt: Himmler und Hitler trafen sich 1941 Dutzende Male. Ob Hitler dabei Himmler Befehle gegeben hat oder ob Himmler die Initiative ergriff, wissen wir nicht. Möglicherweise hat die SS gar nicht Hitler entgegen gearbeitet, sondern einfach seine Aufträge an Himmler ausgeführt.

Kershaw: Das ist natürlich denkbar, aber nicht belegt und an sich eher unwahrscheinlich. Ich beschränke mich auf belegbare Vorgänge und ziehe plausible Analogien. Bei den wichtigsten Schritten in der Judenpolitik, wie zum Beispiel bei der Entfaltung der Nürnberger Gesetze 1935, der Entfesselung des Novemberpogroms 1938 oder der Deportation der »Reichsjuden« im September 1941, reagierte Hitler auf Initiativen von anderen. Es ist anzunehmen, dass er in diesem Fall nicht anders handelte.

SPIEGEL: In Hitlers Gegenwart durfte vom Genozid an den Juden nicht geredet werden. Wie erklären Sie dieses Tabu?

Kershaw: Das Schweigegebot bleibt auch für mich ein Rätsel. Ich kann es mir nur auf Umwegen erklären. Hitler neigte grundsätzlich zur Geheimhaltung. Dazu kam die Sorge, die Westalliierten könnten vom Holocaust erfahren und das für ihre Propaganda ausnutzen. Man kann auch darüber spekulieren, ob seine absurde Furcht vor den Juden in den USA so groß war, dass er ihre Rache fürchtete. Aber befriedigend sind solche Antworten nicht, weder für mich noch für Sie.

SPIEGEL: Sebastian Haffner hat den Dezember 1941 als den entscheidenden Kriegsmonat gedeutet: Der Blitzkrieg gegen die Sowjetunion war gescheitert, die Japaner griffen Amerika in Pearl Harbour an, Deutschland erklärte Amerika den Krieg. Haffner meint, dass Hitler damals im Grunde den Krieg verloren gegeben habe.

Kershaw: Das sehe ich anders. Hitler neigte grundsätzlich dazu, in jeder Situation etwas Positives zu finden. Natürlich hatte er auch seine depressiven Phasen, doch dann blickte er schon wieder voller Optimismus auf die nächste Offensive. Das war im Dezember 1941 ebenfalls so, das erhellen Goebbels' Tagebücher.

SPIEGEL: Wann gab Hitler Ihrer Meinung nach den Krieg verloren?

Kershaw: Nach der alliierten Invasion in der Normandie im Juni 1944, obwohl selbst danach die Hoffnung gelegentlich wieder aufflackerte. Sein Trauma war die deutsche Kapitulation im Ersten Weltkrieg 1918, so etwas sollte sich auf keinen Fall wiederholen. Deshalb lehnte er es ab, die Niederlage zu akzeptieren.

SPIEGEL: Sie haben einmal gesagt, dass Biografen normalerweise eine gewisse Sympathie für ihre Hauptperson entwickeln. Haben Sie an Hitler nette Züge entdeckt?

Kershaw: Nein, absolut nicht. Nach zehn Jahren an dieser Studie ist Hitler mir, wenn möglich, sogar noch abscheulicher als zuvor.

SPIEGEL: Professor Kershaw, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

* Gerhard Spörl und Klaus Wiegrefe in einem Hotel in Oslo.

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