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Artikel 70 / 86

Demokratie und Fortschritt

aus DER SPIEGEL 22/1972

Es ist einer der Gemeinplätze, von denen so viel abhängt, daß ein Gefühl der Unsicherheit, der Bedrohung durch die Zukunft um sich greift. offenbar stehen wir auf dem Scheitelpunkt der pessimistischen Phase, in die unsere Zivilisation seit einiger Zeit eingetreten ist.

Die meisten von uns werden sich jetzt erst der kritischen Verschlungenheit des Labyrinths bewußt, das die technologisch entwickelten Nationen sich so rastlos wie blind gebaut haben; und jetzt erst greift die Erkenntnis um sich, daß wir damit der entscheidenden Frage der Geschichte vom Garten Eden konfrontiert sind. Nachdem wir uns trotz aller Warnungen entschlossen haben, die Früchte vom Baum der Erkenntnis zu kosten, geht es jetzt darum, ob wir zuviel davon gegessen haben. Es könnte sein, daß die wirkliche Vertreibung aus dem Paradies nicht die Wißbegierigen, sondern die Unmäßigen trifft.

Allem Anschein nach entfaltet der technologische Prozeß erst jetzt seine ganze Vehemenz. Er überrennt das Vertraute, zerbricht Institutionen, Normen und Werte. Es wird alles davon abhängen, ob es gelingt, ihn unter Kontrolle zu bringen.

Die Frage, die ich stellen will, lautet, ob die Demokratie eine Form der staatlichen Organisation ist, die diese Kontrolle auszuüben vermag: ob sie nicht aus idyllischeren Zeiten stammt .und wir gezwungen sind, sie um unseres Überlebens willen aufzugeben.

Denn das Gefühl der Zukunftsangst rührt nicht nur aus dem technologischen Fortschritt, sondern offenbar auch aus der Unfähigkeit demokratischer Systeme, die Dynamik des Prozesses zu zügeln und seine Konsequenzen in zumutbaren Grenzen zu halten; ja, sie haben nicht einmal annähernd rechtzeitig ein Bewußtsein der uns alle bedrohenden Gefahren verbreiten und unsere Lethargien vertreiben können. Immer noch glauben die meisten, daß erst die nächste Generation ihre Lebensweise ändern und die verlangten Verzichte leisten müsse.

Doch ist die Zeit schon heute unser Feind. In wenigen Jahrzehnten müssen wir, als Fragen von Sein oder Nichtsein. die folgenden Probleme lösen: die Entdeckung, Hebung und Nutzung der verbleibenden Mittel des Planeten: die Erkenntnis der potentiellen Vorteile und Nachteile, die von dieser Nutzung zu erwarten sind; die fürchterliche Gefahr der Übervölkerung; die Beziehung der Menschen und Staaten zu anderen Menschen und Staaten; schließlich müssen wir angemessene Formen politischer und gesellschaftlicher Organisation entwickeln, um diese Aufgaben zu lösen.

Hier geht es nur um Aspekte zu dieser letzten Frage. Es ist klar, daß sie alle anderen einschließt. Konkret lautet sie: Kann ein politisches System alle diese Aufgaben erfolgreich bewältigen und dennoch demokratisch bleiben? Manches spricht dafür. daß wir in absehbarer Zeit, wenn es zum Äußersten kommt, vor der Wahl zwischen Demokratie und Überleben stehen werden.

Man kann das Problem, um das es geht, von verschiedenen Ansatzpunkten her greifbar machen. Beispielsweise zählt zu den entscheidenden Aufgaben demokratischer Ordnungen die Erweiterung und der Schutz der individuellen Freiheiten; dies ist ihre historische und ideologische Legitimation. Gleichwohl ist diese Aufgabe, zumindest in dieser naiven, doch immerhin traditionellen Form, erstmals ernsthaft in Frage gestellt. Denn die begrenzten Mittel unserer Erde machen unsere Fortexistenz von einer größeren Disziplin bei der Verwendung dieser Mittel abhängig und verringern folglich unsere Freiheiten.

Die Vereinigten Staaten beispielsweise stellen rund sechs Prozent der Weltbevölkerung, doch verbrauchen sie rund 40 Prozent der jährlich in der Welt erzeugten Produkte. Nicht wesentlich anders sieht das Verhältnis aus, wenn man die hochindustrialisierten Länder Europas mit berücksichtigt.

Der heranrückende Erschöpfungszustand der Erde stellt uns dabei vor die Frage, ob wir bereit sind, schon morgen oder »sogar heute noch, im Interesse aller, eine empfindliche Verringerung unseres Lebensstandards in Kauf zu nehmen, der doch in erheblichem Umfang auf dem Verbrauch von Gütern aus der sogenannten Dritten Welt basiert -- oder ob wir bewußt die Überlegung akzeptieren und zur Grundlage unseres Verhaltens machen, daß zwischen den industrialisierten und den unterentwickelten Nationen für alle Zeiten ein erklärter Unterschied bestehen muß. Das ist eine unvermeidbare Alternative: sie läßt keinen dritten Weg zu.

Solche rigorosen Zwänge entwickeln

naturgemäß Trends, die dem Gedanken der individuellen Freiheit strikt entgegengesetzt sind. Niemand wird kühn genug sein und behaupten, daß die Menschen von sich aus zu größerer Disziplin, zu den Einschränkungen und Verzichten, die damit einhergehen. in der Lage sind.

Infolgedessen wird es mehr Gesetze. mehr Polizei, mehr Herrschaft geben müssen; das heißt gleichzeitig weniger Freiheit, weniger Rechte, kurz: weniger Demokratie.

Indessen ist es vielleicht noch nicht zu spät für die Überlegung, ob es nicht Möglichkeiten gibt, die fatalsten Auswirkungen dieses Prozesses abzuwehren. Wir werden sie, wie ich vermute, nicht gänzlich vermeiden können; doch könnte es Wege geben, den Stoß abzudämpfen.

Zunächst bleibt uns wohl nicht erspart, ein gewisses Maß eingeschränkter Bewegungsfreiheit bewußt zu akzeptieren. Der robuste Freiheitsbegriff des liberalistischen 19. Jahrhunderts, der mit der demokratischen Idee so eng verknüpft ist, hat ohnehin schon erhebliche Einbußen hinnehmen müssen; andere werden hinzukommen. Der Begriff der Disziplin könnte dann jenen überholten, vielfach unbrauchbar gewordenen Begriff der Tugend ersetzen, den Montesquieu zur Grundlage republikanischer Ordnungen gemacht hat.

Wenn man in Bildern zu sprechen liebt, könnte man sagen, die Welt gehe gleichsam in die Phase der städtischen Zivilisation über; und, wie man weiß. unterscheiden sich städtische Gesellschaften von den ländlichen nicht zuletzt durch die weit größere Anzahl von Regeln und Normen. Lange schon macht Stadtluft nicht mehr frei. Entscheidend ist des weiteren, ein gewandeltes Verhältnis zu Begriffen wie Größe oder Wachstum zu entwickeln.

Nicht nur unserem wirtschaftlichen Denken, sondern unserer gesamten Vorstellungswelt überhaupt liegt die Prämisse zugrunde, daß Vermehrung eine positive Kategorie sei, alle unsere Reflexe sind auf Progression abgerichtet. Mit tiefer Befriedigung registrieren wir Informationen. die von höherem Lebensstandard, steigenden Bevölkerungszahlen oder wachsendem Handelsvolumen berichten, während doch die bestehenden Größenordnungen bereits katastrophal »sind.

Was statt dessen betrieben werden muß, ist die konsequente Diffamierung des Wachstumsgedankens.

Diese Überlegung hat ein Dilemma zur Folge, das bedacht werden muß. Wenn eine Demokratie dem Wachstum Beschränkungen auferlegt, bevor sie andere Interessen, Ideen oder Engagements als Ersatz für den ökonomischen Ehrgeiz der Menschen anzubieten vermag, könnte sich der reduzierte Lebensstandard als höchst gefährlich für die politische Stabilität des Systems erweisen.

Wie die Dinge liegen, läßt sich dieses Risiko nicht vermeiden, man kann sich lediglich darauf präparieren. Denn wenn nicht überall in der Welt das Wachstum durch politische Mittel abgebremst wird, werden schließlich die Erschöpfung oder der Mißbrauch der materiellen Güter das für uns tun. Sie werden anders: blinder, gewaltsamer, schmerzhafter, verfahren.

Ein Problem besonderer Art entsteht aufgrund eines Phänomens, das man als technologischen Verzögerungseffekt bezeichnen kann. Denn nicht selten kommt es zu einer Zeitverschiebung zwischen dem Augenblick, da eine technische Neuerung erstmals kommerziell genutzt wird, und dem Zeitpunkt, da ihre negativen Nebenwirkungen ins allgemeine Bewußtsein treten. Die Einleitung von Gegenmaßnahmen fügt der einen Verzögerung eine zweite hinzu.

Sie kann länger oder kürzer sein. in demokratischen Ordnungen ist sie, infolge des schwerfälligen Instanzenzuges und der Formalisierung der politischen Entscheidungsprozesse, meist besonders lang.

Die schnelle und wirksame Beseitigung eingetretener Mängel oder Gefahren ist naturgemäß nur in den sehr frühen Stadien einer technologischen Entwicklung möglich, lange jedenfalls, bevor sich die Öffentlichkeit der schädlichen Wirkungen einer Neuerung bewußt werden kann. Infolgedessen muß man die Frage prüfen, ob die Regierungen die Eingriffe ohne langes Zögern schon sehr frühzeitig und unter Ausschaltung der Bevölkerung vornehmen sollten -- oder ob man in Kauf nehmen kann, die Dinge ihrem Lauf zu überlassen, bis endlich die öffentliche Reaktion auf die bedrohlichen, unterdessen aber kaum mehr heilbaren Begleitwirkungen erfolgt.

Ich gestehe. daß keine dieser beiden Alternativen sonderlich attraktiv ist. Die erste löst zwangsläufig das Protestgeschrei der Erfinder, der Industrie oder der Forschungsunternehmen aus und gefährdet überdies das Prinzip der Durchsichtigkeit demokratischer Entscheidungsprozesse; bei der zweiten überantwortet man eine Frage unter Umständen so sehr dem Strudel öffentlicher Emotionen, daß die Entscheidung nicht nur gefährlich verzögert, sondern am Ende überhaupt unmöglich wird.

Gewiß verlangt der demokratische Prozeß soviel Öffentlichkeit wie möglich. Aber muß man deshalb schon jedes gefühlsgeladene, nicht selten irrationale Geschrei berücksichtigen?

Natürlich ist damit nichts anderes empfohlen als jener banale Mittelweg, den wir immer dann am entschlossensten betreten, wenn wir nicht mehr weiter wissen. Die Frage ist, ob es jenseits solcher simplistischen Ratschläge eine reale Chance gibt, die alltäglichen Probleme des Fortschritts auf vernunftgemäße Weise zu behandeln.

An dieser einen Frage hängen zwei andere, beide sind prinzipieller Natur. Die eine lautet, wie man die Entscheidung über technologische Abläufe möglichst rational organisieren kann; die andere, darin eingeschlossen, wie rational man überhaupt verfahren kann. Die Optimisten unter uns erliegen

häufig einigen irrtümlichen Annahmen. Beispielsweise gehen sie davon aus, daß alle Aspekte des technologischen Prozesses vorausgesehen, seine negativen Wirkungen ziemlich genau berechnet und die Einwände intelligibel zum Ausdruck gebracht werden können. Das ist aber nicht so. Genauso irrig ist die Ansicht, daß die demokratischen Organe die Bedeutung einer Neuerung korrekt beurteilen können.

Es gibt darüber hinaus zahlreiche weitere ungerechtfertigte Annahmen, darunter nicht zuletzt die, daß alle Werte, die das Leben menschlich machen, in Geldwert quantifiziert werden können. Doch wenn wir auch den Fehler vermeiden wollen, die Möglichkeiten rationaler Entscheidungsprozesse zu überschätzen, so ist doch auch offensichtlich, daß darin die einzige Chance liegt, das Dilemma, in dem wir uns jetzt behaupten müssen, abzumildern.

Ich spreche hier nicht von den kleinen, hochspezialisierten Arbeitsgruppen für die Bestimmung des technologischen Prozesses im ganzen. Das ist offenkundig wichtig. Vielmehr beziehe ich mich jetzt auf die allmähliche, konsequente Erziehung der Öffentlichkeit in Fragen der alltäglichen Technologie. Die Zeit ist da, in der jede Stadt ihre eigenen technologischen Aufgaben hat, die sie durch Mitsprache aller in besonderen Gremien und Bürgerversammlungen lösen muß. Ein mangelndes oder unterentwickeltes Verständnis dafür wäre verhängnisvoll.

Natürlich sind solche Probleme nicht neu. Zu allen Zeiten und an allen Orten hat man auch im kleinen die Richtung bestimmen müssen, die man dem Fortschritt geben wollte. Nur ist heute der Anspruch, den diese Fragen stellen, ungleich höher, sie verlangen die Fähigkeit zu interdisziplinären Visionen.

Dies »ist so pathetisch formuliert, wie die Situation es verlangt. Einfacher gesagt geht es um die Einsicht, daß diese Urteilsverfahren die umfassendsten Kenntnisse bei möglichst vielen voraussetzen, sofern das Urteil selber von Nutzen sein »soll. Unser Spielraum für Irrtümer und Lethargien wird von Tag zu Tag kleiner.

Gewiß bin ich mir bewußt, daß die Empfehlungen zur Disziplin, zu einem veränderten Wachstumsbegriff oder zu rationalerem Verhalten immer noch viel zu nahe jenem trivialen Mittelweg liegen, den die Verlegenheit weist. Was, in der Tat, beginnt eine Demokratie, wenn sie erkennt, daß die Technologie dem ihr innewohnenden Gesetz nicht folgen kann, ohne die Werte und Institutionen eben dieser Demokratie zu zerstören?

Ich habe keine rasch befriedigende Antwort bereit. Auch bin ich nicht gelassen genug, um darauf zu vertrauen. daß das Problem sich von selber lösen werde. In den vielen Jahren, in denen ich sowohl der Regierung als auch der Wissenschaft eng verbunden war, fand ich immer wieder meinen schon frühzeitig wach gewordenen Argwohn bestätigt, Demokratie sei unter heutigen Bedingungen keineswegs mehr automatisch mit dem Fortschritt vereinbar.

Ich kann nicht einmal genau sagen, warum das so ist; aber teilweise hat es wohl mit der Tatsache zu tun, daß die Demokratie unter dem Gesichtspunkt der Effizienz ein unzulängliches System ist; ja, man kann sich kaum ein politisches System ausmalen, das kostspieliger und umständlicher wäre als eine wahre Demokratie; denn sie opfert die Leistung einem höheren Gut.

Dagegen dominiert in der Technologie nahezu ausschließlich der Gedanke des Erfolgs. Wenn sie daher mut dem demokratischen System zusammenarbeitet, wird sie es stets in gewissem Widerspruch zu ihrem innersten Wesen tun. Das heißt aber auch: Wenn die Interessen beider Systeme kolbidieren, wird sich am Ende das auf dem Leistungsprinzip basierende System durchsetzen; es sei denn, die Demokratie bildet Methoden aus, effizient zu agieren, ohne auf die heimliche Verachtung des Erfolgsprinzips zu verzichten und Disziplin zu entwickeln, ohne »die Freiheit preiszugeben.

Bis kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war zumindest die amerikanische Vorstellungswelt von nahezu unbegrenztem Vertrauen in beides, in Wissenschaft und Demokratie. geprägt. Nur Europa hatte Krisen durchgemacht, die den Zweifel an dem einen wie dem anderen zum Ausdruck brachten.

Inzwischen ist auch Amerika skeptischer geworden, und vielleicht ist jetzt, nach Weltkriegen, Faschismen und irrationalen Aufruhrbewegungen, die alle in Ausweglosigkeit und Resignation endeten, zum erstenmal der Zeitpunkt gekommen, Vernunft nicht nach der Art der Plattheit anzuwenden, sondern auf dem Hintergrund von Zweifeln und bitteren Erfahrungen. Dann könnten wir uns, noch eine Zeitlang zumindest, in den Vorgärten von Eden aufhalten.

Andernfalls werden wir das Feld jenen Pragmatikern überlassen müssen, die nur das simple Überleben im Auge haben und schon jetzt nicht mehr begreifen, wofür das Überleben eigentlich lohnt, wenn die Welt zu einer überfüllten Öde geworden ist, in der alles erstickt, was mehr ist als die Sicherung bloßer animalischer Dauer. Darin liegt eine große Gefahr.

Emilio Daddario
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