Den Alterskassen ein Baby schenken?
Was keiner möchte, droht unterdes auch nicht mehr früh. Trotz Umweltschmutz, trotz Gift in süßen Schoppen - vor allem alte Leute werden immer älter, scheiden zunehmend später erst dahin.
In den 70er und frühen 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts, als Wilhelm Busch gerade Ruhm erworben hatte, konnten 65jährige Männer im Durchschnitt nur mit neuneinhalb weiteren Lebensjahren rechnen; bei gleichaltrigen Frauen war damals die Lebenserwartung mit knapp zehn zusätzlichen Jahren nur geringfügig höher.
Seither gewannen alte Deutsche Erhebliches an Überlebensfrist hinzu. Besonders in der jüngeren und jüngsten Zeit hat sich der Anstieg der Lebenserwartung alter Leute stark beschleunigt - wobei die Zunahme an Lebensquantität anders als in früheren Jahrzehnten nicht mehr geschlechtsneutral verlief (siehe Graphik Seite 74). Die Frauen legten weitaus mehr an zusätzlichen Jahren zu, erwiesen sich - zumindest was die Überlebenskraft betrifft - zunehmend dem Ondit entgegen als die viel stärkere Hälfte.
Heute haben 65jährige Deutsche, weiblichen Geschlechts, im Durchschnitt noch weitere 17 Jahre auf Erden vor sich. Männer gleichen Alters können - obwohl auch sie speziell im jüngst vergangenen Jahrzehnt an Daseinsfrist gewannen - dagegen erst auf gut 13 fernere Jahre hoffen.
Daß die Lebenserwartung bei beiderlei Geschlechtern auch künftig noch wächst, gilt angesichts des Trends, der in den vergangenen Jahren beobachtet wurde, als sehr wahrscheinlich. Die Rentenversicherer gehen jedenfalls in der neuesten Vorausschätzung ihrer künftigen Lasten davon aus, daß die Alten in der nächsten Zeit noch mehr an Lebenszeit gewinnen: Sie unterstellen das »aus Vorsichtsgründen« (Horst-Wolf Müller, Versicherungsmathematiker und Direktor der Finanzabteilung beim Verband Deutscher Rentenversicherungsträger).
Die zunehmend längere Existenz der alten Deutschen bringt die Rentenkassen allein schon in Verdrückung, bedroht sie mit jener Sorte roter Zahlen, die in der Fachsprache der Versicherer mißgünstig »Sterblichkeitsverluste« heißen, obwohl sie nicht durch Tod, vielmehr durch längeres Leben hervorgerufen werden.
Denn eine steigende Lebenserwartung gerade der älteren Bürger verlängert die sogenannten Rentenlaufzeiten und verteuert damit im Trend die Lasten, die bei einer umlagefinanzierten Alterssicherung von den Jungen getragen werden müssen; bei der privaten Assekuranz sind die Prämien im Vorwege mit hohen Sicherheitszuschlägen für eine eventuelle Lebensverlängerung kalkuliert, da diese Unternehmen das, was ihre Rentner später bei verringerter Sterblichkeit zusätzlich kosten, nicht ihren dann noch aktiven Beitragszahlern anlasten dürfen.
In Deutschland haben sich die Rentenlaufzeiten allerdings bislang weit mehr verlängert, als durch die steigende Lebenserwartung erklärbar wäre. Grund: Die Politiker haben leichtfertig und ohne Not das Pensionierungsalter immer weiter herabgesetzt - zuallererst ausgerechnet bei den Frauen, deren Renten sich ohnehin wegen der stark steigenden Lebenserwartung sehr verteuerten.
Beschlossen wurde das Frühpensionierungsrecht für Frauen bereits im Rahmen der großen Rentenreform von 1957. Schon damals ist den Frauen die Möglichkeit eingeräumt worden, eine Altersrente bereits vom 60. statt vom 65. Lebensjahr an zu beziehen. Eine Kürzung der nun eher und damit auch länger zu beziehenden Rente um die sogenannten versicherungsmathematischen Abschläge wurde nicht vorgesehen.
Dabei sind solche Abschläge nach seriösen Versicherungsprinzipien - schon um der Gerechtigkeit willen - immer erforderlich, wenn den Mitgliedern einiger Gruppen oder allen Bürgern die Möglichkeit eröffnet wird, sich auf eigenen Wunsch vorzeitig pensionieren zu lassen.
Denn nur solche Abschläge machen ein Frühpensionierungsrecht belastungsneutral, bewirken, daß weder dem vorzeitigen Rentenbezieher noch der Versichertengemeinschaft unangemessene Vorteile oder Zusatzkosten entstehen. Bemessen werden müssen die (dauerhaften) Abschläge dabei so, daß damit die voraussichtlichen Aufwendungen kompensiert
werden, die der Altersversicherung durch den längeren Rentenbezug und die kürzere Beitragsdauer von Frühpensionären im Durchschnitt entstehen.
Als 1957 das Frühpensionierungsrecht für Frauen entstand, das zunächst von der Regierung nicht vorgesehen war, dann aber vom Bundesrat angeregt und vom zuständigen Parlamentsausschuß eiligst durchgesetzt wurde, war von zusätzlichen Aufwendungen, die dadurch hervorgerufen werden könnten, keine Rede. Die kuriose Begründung: Bei erwerbstätigen Frauen gebe es »eine frühzeitige Abnutzung der Kräfte«, denn nur sie, nicht etwa auch manche Männer (etwa Witwer mit Kindern), seien unabhängig vom Familienstand einer »Doppelbelastung« durch Beruf und Haushalt ausgesetzt - allerdings »nur dann, wenn sie in einer pflichtversicherten Tätigkeit stehen« (so der Bericht des Bundestagsausschusses für Sozialpolitik).
Die dahinter stehende Vermutung wird freilich nicht durch die Fakten gedeckt: die Vermutung, die 1983 noch einmal vom Rat der Europäischen Gemeinschaft mangels anderer Verifikationsmöglichkeit per Abstimmung bekräftigt und zu einer »Richtlinie« erhoben wurde - daß nämlich die Lebenserwartung der weiblichen Erwerbspersonen »nicht dem allgemeinen Durchschnitt entspricht«, vielmehr niedriger sei.
Eine Untersuchung, die von den Versicherungsmathematikern des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger vorgelegt wurde, ergab jedenfalls das Gegenteil. Danach haben selbst jene älteren Frauen, die zuvor mehr als 40 Jahre erwerbstätig waren, in allen Altersgruppen zwischen 65 und 90 noch erheblich mehr Lebensjahre vor sich als gleichaltrige Männer, die genausolang geschafft haben.
Und: Bei diesen langjährig berufstätigen Frauen ist die Lebenserwartung sogar noch »geringfügig höher«, als im Durchschnitt bei allen älteren Deutschen weiblichen Geschlechts beobachtet wurde. Die Volksmund-Weisheit, daß Arbeit nicht schände, ist nun auch statistisch bewiesen.
Das Frühpensionierungsrecht für Frauen erwies sich - der Annahme der Politiker entgegen - mithin als außerordentlich teuer. Allein in der Angestelltenversicherung haben sich die durchschnittlichen Laufzeiten der Renten, die an weibliche Versicherte gehen, zwischen 1957 und 1984 um 65 Prozent verlängert.
Daß im Vorwege die Lasten neuer Rentenrechte sehr klein eingeschätzt oder überhaupt vernachlässigt und dann bedenkenlos auf die jeweilige und künftige Generation der Beitragszahler abgewälzt werden, das ist im Lauf der 60er und 70er Jahre in der Rentenpolitik zur Tradition avanciert. So ist auch das Rentenalter für Männer allein zu Lasten der Versichertengemeinschaft herabgedrückt worden: durch Einführung der sogenannten flexiblen Altersgrenzen, die wiederum ohne die eigentlich gebotenen versicherungsmathematischen Abschläge bei der Rente offeriert wurden.
Die Rentenreform von 1972 - wie alle leichtfertigen sozialpolitischen Gesetze einstimmig vom Bundestag beschlossen - brachte den Männern, die bis dahin bis zum 65. Lebensjahr schaffen mußten, das Recht auf eine vorgezogene Pensionierung mit 63 ohne Rentenabschlag. Entgegen der Schätzung der Parlamentarier machten davon nicht lediglich 60 Prozent und dies erst nach einer langen Eingewöhnungsphase, sondern binnen kürzester Frist fast alle Berechtigten Gebrauch (und gingen dann in vielen Fällen einer Tätigkeit in der Schattenwirtschaft nach).
Bald darauf wurde zudem die Pensionierung schon mit 60 Jahren ohne versicherungsmathematische Abschläge ermöglicht. Offiziell sollte das Ende 1978 beschlossene Frühpensionierungsrecht von 1980 an für Schwerbehinderte gelten. Und nur die Hälfte der bis dahin relativ kleinen Zahl an Schwerbehinderten wurde - so hatten die Rentenpolitiker vermutet - davon Gebrauch machen.
Da aber zugleich der Erwerb eines Behindertenpasses erheblich erleichtert worden war, hinterließ das neue Rentenrecht in der Versehrtenstatistik so dicke Spuren wie früher nur Seuchen und größere Kriege. 1981, nur zwei Jahre nach der Einführung des neuen Pensionsrechts, besaß schon fast jeder zweite unter den 60 bis 62jährigen männlichen Deutschen einen Behindertenpaß und damit das Recht auf Frühpensionierung. In allen Altersklassen zusammen gab es plötzlich 4,7 Millionen Schwerbehinderte, gut viermal mehr als fünf Jahre zuvor, und fast siebenmal soviel, wie der Zweite Weltkrieg an allerdings echten Schwerbeschädigten hinterlassen hatte.
Daß ein frühzeitiger Rentenbezug ohne jeden Abschlag bei der Pension ermöglicht wurde - das vor allem hat die Rentenversicherung in die Krise gebracht.
Über die Einführung der flexiblen Altersgrenzen schrieben die Juristen Johann Zweng und Reinhard Scheerer in ihrem Kommentar zum Rentenversicherungsrecht, sie müsse »wohl als das verhängnisvollste Wahlgeschenk auf dem Gebiet der Sozialversicherung« bezeichnet werden.
Wäre wie in der schwedischen Sozialversicherung bei Inanspruchnahme der flexiblen Altersgrenze ein versicherungsmathematischer Abschlag von der Rente vorgesehen worden - so Zweng und Scheerer weiter-, »dann hätte sich daraus tatsächlich eine Erweiterung des persönlichen Freiheitsraums, eine Erweiterung der Gestaltungsmöglichkeit für den Versicherten ergeben«.
Denn nur »dann hätte der Versicherte Vor- und Nachteile eines früheren Rentenbezugs gegeneinander abwägen können und müssen, um nach dieser Abwägung seine persönliche Entscheidung zu treffen«. So aber sei der monetär meßbare Vorteil eines vorzeitigen Rentenbezuges so überwältigend, »daß jeder Versicherte, der rechnen kann, schon aus wirtschaftlichen Überlegungen das flexible Altersruhegeld beantragen muß«.
Wie hoch der Vorteil genau ist, den Frühpensionäre ergattern können, haben Versicherungsmathematiker kalkuliert. Wer mit 60 Jahren auf das Altenteil geht, zieht danach aus der Rentenversicherung einen um 16,8 Prozent höheren jährlichen Ertrag als der Bürger, der bis 65 schafft und Steuern und Beiträge zahlt und dann zur Strafe auch noch wesentlich kürzere Zeit Rente bezieht.
Jene Altersrentenart, die erst mit dem 65. Lebensjahr bezogen wird und im Sprachgebrauch der Sozialpolitiker immer noch die »normale« heißt, ist heute längst nicht mehr die Norm. Die Männer des Geburtsjahrgangs 1907 waren die letzten, die zu mehr als 70 Prozent mit 65 oder gar später auf Altersrente gingen.
Aus dem Geburtsjahrgang 1919 waren es nur noch knapp 13 Prozent (siehe Graphik Seite 76). Dafür hatten 58 von 100 ihren Dienst schon vor dem 63. Lebensjahr quittiert und waren vom Beitragszahler zum Rentenempfänger konvertiert.
Einer besteuerten und mit Rentenversicherungsabgaben belasteten Tätigkeit bis zum 65. Lebensjahr oder gar darüber hinaus gehen mittlerweile fast nur noch jene nach, die nicht so lange in der Rentenversicherung waren, daß sie von den flexiblen Altersrenten Gebrauch machen können. Von den 40339 männlichen Deutschen, die sich 1984 erst mit 65 oder gar mehr Jahren pensionieren ließen, hatten 70 Prozent weniger, meist sehr viel weniger als 35 Versicherungsjahre vorzuweisen - oft, weil sie ihr Erwerbsleben zunächst als Selbständige begonnen hatten, dann gescheitert und erst relativ spät in eine abhängige, damit auch pflichtversicherte Stellung geraten waren. Mindestens 35 Versicherungsjahre aber sind Voraussetzung für die Inanspruchnahme der flexiblen Altersgrenze.
Wer die Voraussetzung erfüllt, geht in der Regel so früh wie möglich in Pension, schon des Rentenbonus wegen, der dabei winkt. Denn Bürger können - anders als Politiker - gut rechnen. Sie sind zudem mitnichten so edel-hilfsbedürftig-blöde, wie sich das Bonner Sopos immer denken. Sie wissen vielmehr ihren Vorteil mit viel Pfiffigkeit zu nutzen. Beweis: Von den 213750 Männern des Geburtsjahrgangs 1923, die 1984 Kunden bei der Rentenversicherung waren, befand sich damals schon die absolute Mehrheit auf der Nehmerseite: 64 Prozent waren bereits Rentiers; nur ein gutes Drittel der damals 61jährigen zählte noch zu den Pflichtzahlern.
Die ständige Verjüngung der Pensionäre hat vor allem anderen die Rentenkosten in die Höhe getrieben und macht sie auf Dauer untragbar - um so mehr, als die steigende Lebenserwartung grade der älteren Bürger ohnehin die sogenannten Rentenlaufzeiten verlängert und damit im Trend die Altenlast verteuert hatte. Dadurch daß die Pensionierung mit 60 bei beiden Geschlechtern immer mehr zum Normalfall wird, muß bei männlichen Rentnern heute mit einer durchschnittlichen Rentenlaufzeit von 16,6 Jahren gerechnet werden, bei den besonders zählebigen weiblichen Pensionären sogar mit einer Zahl-Zeit von 21 Jahren; und die Tendenz ist weiterhin steigend.
Zur steten Verjüngung der Pensionäre und der damit verbundenen Vermehrung der Rentnerzahlen kam noch hinzu, daß die Renten schon in der Reform von 1957 dynamisiert worden waren, und zwar nicht etwa auf eine wohlbedachte, sondern auf eine allzu üppige Art. Ludwig Erhard hatte wohl auch deshalb vom »Gift der Dynamisierung« gesprochen.
Denn damals ist jene sogenannte Bruttoanpassung der Renten verordnet worden, die nun schon seit geraumer Zeit wachsende Finanzprobleme und zunehmende Ungerechtigkeiten schafft. Sie erbrachte den Alten nämlich nicht nur - was vielleicht auf Dauer verkraftbar gewesen wäre - einen Anstieg der Renten im Gleichschritt mit dem Lebensstandard der tätigen Arbeitnehmer.
Da die Renten an das Wachstum der Brutto-, nicht der Nettolöhne gekoppelt wurden, ergab sich zunehmend eine eigenartige, nicht sonderlich gerechte Verteilung der Wohlstandszunahme. Zwar wurde das wuchernde Rentenwachstum seit 1957 durch sieben Sanierungsversuche ein wenig gebremst. Dennoch profitierten die Rentner von der Steigerung des Sozialprodukts, zu der sie nichts mehr beitrugen, in wesentlich höherem Maße als jene, die den verteilbaren Wohlstandszuwachs mit ihren Händen und Hirnen erst möglich machten.
Von 1957, also vom Stand nach der damaligen Rentenreform, die den Alten den ersten dicken Schluck - 43 Prozent Erhöhung auf einen Schlag - brachte, bis 1985 ist die durchschnittliche Rente nach Berechnungen des Kölner Versicherungsmathematikers Georg Heubeck um stolze 533 Prozent gestiegen. Da Renten faktisch nicht besteuert werden, wuchs das Nettoeinkommen der Pensionäre um den gleichen Satz und damit um fast 50 Prozentpunkte mehr als der durchschnittliche Nettoverdienst der Arbeitnehmer. Denn die erhielten von dem Bruttolohnzuschlag, den die Rentner netto kassierten, infolge steigender Sozialabgaben und höherer Steuern immer weniger ausbezahlt.
Fast noch verhängnisvoller als die allzu reichlich bemessene Dynamisierung
wirkt sich unterdes aus, was bei der 57er Reform nebenher, sozusagen als kleine Aufmerksamkeit verteilt und später immer weiter ausgebaut worden war.
Schon damals sind neue Rentenansprüche verteilt worden, vor allem an Bürger, die nur für eine relativ kurze Zeit Beiträge geleistet hatten. Denn damals bereits war die Vorschrift über die sogenannte Halbdeckung gestrichen worden, wonach eine Rente nur erhalten konnte, wer mindestens für die Hälfte der Zeit zwischen Versicherungseintritt und Pensionsbeginn auch Beiträge entrichtet hatte. Anderweitig wohlversorgte Rentiers, wie ehemalige Selbständige oder pensionierte Beamte, die ihr Berufsleben einmal als versicherungspflichtige Arbeitnehmer begonnen hatten, können sich seither noch ein zusätzliches Schnapsgeld aus der Sozialversicherung holen.
Schon damals ist die Rentenversicherung mit Kosten und Risiken beladen worden, die eigentlich mit Alterssicherung gar nichts zu tun haben. Bereits von 1954 an konnten 60jährige Angestellte, die mindestens ein Jahr »ununterbrochen arbeitslos« (Gesetzestext) waren, eine vorzeitige Rente erhalten. 1957 wurde diese Regelung auch in die Arbeiterrentenversicherung eingeführt. Seither muß die Rentenversicherung »zu einem nicht unbeträchtlichen Teil das Arbeitsmarktrisiko für die Versicherten« abdecken, wie Helmut Kaltenbach, Direktor der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA), bekrittelt und die Frage anfügt, »warum nicht die damit verbundenen Kosten bei der Bundesanstalt für Arbeit ausgewiesen werden«.
Im Laufe der Jahrzehnte sind den Alterskassen freilich immer mehr artfremde Aufgaben aufgebürdet worden: etwa die Aufgabe, die niedrigen Barverdienste, die manche Bürger während ihres Erwerbslebens - oft wegen nur halbtägiger Tätigkeit - bezogen, nachträglich durch eine »Rente nach Mindesteinkommen« zu korrigieren. Immer mehr Bürger, die nicht ausreichend lange und nicht ausreichend hohe Beiträge entrichtet hatten, erhielten ein Rentengeschenk.
Als besonders fatal und kostenträchtig erwies sich dabei jene sogenannte Öffnung der Rentenversicherung, die 1972 im Rahmen der damaligen Reform mitbeschlossen worden war und jedem Bundesbürger auf Antrag die Möglichkeit bot, Beiträge für die Jahre 1956 bis 1973 zu günstigen Konditionen nachzuentrichten. Der Schweizer Versicherungsmathematiker Peter Thullen urteilte über diese preiswerte Öffnung der sozialen Alterskassen für Unternehmer und alle anderen zuvor nicht Versicherungspflichtigen, sie habe »einen weiteren verhängnisvollen Einbruch« bei den Rentenfinanzen gebracht, dessen Tiefe noch gar nicht abzuschätzen sei.
Denn: »Von diesem Geschenk, Rentenrechte zum Minitarif zu erwerben«, hätten - so Thullen - »Millionen« Gebrauch gemacht, »hauptsächlich Personen mittleren oder höheren Alters mit Familienanhang oder solche mit bereits geminderter Gesundheit, deren Versicherung wesentlich teurer als die der obligatorischen meist jungen Neuzugänge zu stehen kommt«.
Es gibt heute schon überall in der Republik wohlhabende Selbständige im Ruhestand die neben ihren sonstigen Alterseinkünften eine damals günstig angekaufte Sozialrente beziehen. Sie erzählen meist gern, daß die seinerzeit ermöglichte billige Beitragsnachentrichtung zur sozialen Alterskasse das beste Investment ihres Lebens gewesen sei. Selten schwingt Dankbarkeit gegenüber den Sozialpolitikern dabei mit, meist eher Spott.
Eigenhändig angerichtet haben die Sozialpolitiker in ihrem rauschhaften Reformeifer auch diesen Mißstand:
Sie haben viele jener Mini-Renten erst kreiert, die dann hinterher von ihnen selber und anderen Elendsfahndern als Beweis für die immer wieder vorgetragene Hypothese gewertet wurden, »viele Rentner, vor allem viele Rentnerinnen« seien hierzulande »arm«, da sie nur »eine unzureichende Rente« erhielten. Und das diente dann als Begründung für immer weitere Zuwendungen an Rentner, zu Lasten der Alterskassen.
Dabei darf Altersarmut - wenn sie denn existiert - ohnehin niemals zu Lasten der Rentenversicherung beseitigt werden. Zuschüsse an nachweislich bedürftige alte wie junge Bürger müssen vielmehr aus dem allgemeinen Steueraufkommen bezahlt werden. Denn die Steuersätze sind progressiv, belasten die Wohlhabenden also stärker; nur eine solche Finanzierung der Hilfe für Bürger in Not garantiert mithin, daß wirklich eine Umverteilung zwischen Arm und Reich stattfindet.
Die Beitragssätze zur Rentenversicherung aber sind für alle Einkommensklassen gleich hoch, und die Verdienste werden damit auch nur bis zur sogenannten Beitragsbemessungsgrenze belastet - was durchaus korrekt ist bei einem Altersversorgungssystem, das die spätere Rentenhöhe am zuvor bezogenen Lohn bemißt und dabei Maximalgrenzen für das durch die Renten zu ersetzende Erwerbseinkommen festgelegt hat. Für Umverteilungszwecke jedoch ist die Rentenversicherung damit ungeeignet.
Denn jede- Nothilfe für tatsächlich oder auch nur vermeintlich arme Rentner, die den Alterskassen aufgebürdet wird, belastet überproportional die unteren Einkommensschichten. Nach allen herkömmlichen Vorstellungen gelten
Umverteilungsaktionen mit einem derartigen Ergebnis nicht gerade als sonderlich gerecht.
Erschwerend kommt noch hinzu, daß Mini-Renten, auf die Sozialpolitiker gern anklagend hinweisen, kein Indiz dafür sind, daß ihre Bezieher in Armut leben. So gingen die Mini-Renten, die nach einem Spruch des Bundessozialgerichts (BSG) aus dem Jahr 1976 entstanden, keineswegs nur an bedürftige Personen.
Die Sozialrichter hatten damals ein neues Rentenrecht erfunden für alle, die früher einmal mindestens fünf, aber weniger als fünfzehn Jahre einer pflichtversicherten Tätigkeit nachgegangen waren und damit nach dem bis Ende 1984 gültigen Gesetzesstand eigentlich keinen Anspruch auf eine soziale Altersrente erworben hatten. Beschenkt wurden damit vor allem pensionierte Beamte, im Ruhestand lebende Selbständige und ältere Hausfrauen, die in ihrer Jugendzeit einmal kurzfristig in abhängiger Stellung waren.
Dieser Personenkreis erhielt nun aufgrund von Richterspruch gegen Vorlage eines ärztlichen Attestes über irgendwelche Kleinstbeschwernisse zwar keine Alters-, wohl aber eine Erwerbsunfähigkeitsrente. Sie wurde selbst dann gewährt, wenn der Antragsteller vor seinem Rentenbegehr nicht erwerbstätig war, auch keinem Erwerb mehr nachgehen wollte und ohnedies schon gut versorgt wurde mit Pensionen aus anderer Quelle oder durch reichliches Vermögenseinkommen.
Denn die Bundessozialrichter hatten dekretiert: Jeder nicht mehr Erwerbstätige, der früher irgendwann einmal fünf Jahre rentenversicherungspflichtig war und nun eine kleinere gesundheitliche Einschränkung vorweisen könne, die ihn aber immer noch zu Halbtagsarbeit befähigen würde, sei automatisch erwerbsunfähig, mithin rentenberechtigt, wenn ihm der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen« sei (BSG-Urteil vom 10. 12. 1976). Praktisch verschlossen sei der Arbeitsmarkt aber immer dann, wenn es »dem Rentenversicherungsträger im Zusammenwirken mit dem... zuständigen Arbeitsamt« nicht gelinge, dem Rentenantragsteller binnen eines Jahres einen Halbtagsjob in der Nähe seiner Wohnung zu beschaffen.
Daß dies vor allem bei Hausfrauen, die jahre-, oft jahrzehntelang nicht mehr berufstätig waren, in der Regel mißlang, daß sie ohne Furcht, auf einen Job vermittelt zu werden, behaupten konnten, erwerbswillig wenn auch dank Arzt-Attest nur halbtags einsatzfähig zu sein - das sprach sich in Windeseile herum. In den Jahren zwischen 1980 und 1984 haben 560000 Frauen, die zuvor gar nicht erwerbstätig waren, eine Erwerbsunfähigkeitsrente beantragt und erhalten. Damit gingen 70 Prozent aller an Frauen gezahlten Erwerbsunfähigkeitsrenten an zuvor nicht, zumindest nicht versicherungspflichtig Tätige.
Seit Anfang 1985 dürfen nun allerdings Erwerbsunfähigkeitsrenten nur noch solche Bürger beziehen, die wenigstens in den vorangegangenen fünf Jahren auch mindestens 36 Monate lang erwerbstätig waren. Dafür erhalten nun aber nicht nur jene, die mindestens 15 Jahre geklebt hatten, sondern auch alle, die irgendwann einmal lediglich fünf Jahre rentenversicherungspflichtig beschäftigt waren, eine Altersrente mit 65 Jahren. Das wird die Zahl der Rentner noch einmal erhöhen.
Das alles, die stete Verjüngung der Pensionäre, die allzu reichliche Dynamisierung der Renten, die Tatsache, daß immer weitere Rentenansprüche für zuvor nicht berechtigte Personengruppen erfunden wurden, stiftete in der Gesamtwirtschaft erhebliche Schäden; Schäden, die nun wiederum auf die Rentenversicherung zurückschlagen.
Denn finanziert werden konnte das alles nur durch ein zunehmend unsolides Finanzgebaren der Rentenversicherung und durch starke Steigerung des Beitragssatzes.
In den ersten Nachkriegsjahren hatte die Rentenversicherung noch beachtliche Überschüsse gebildet und damit »die Kapitalbildung... gestärkt« (so der Bundesbankvizepräsident Helmut Schlesinger). Seit geraumer Zeit aber haben die Alterskassen überhaupt keine zusätzlichen Rücklagen mehr gebildet, sondern das Gegenteil getan, nämlich früher angelegte Reserven verzehrt.
Zugleich drückten die steigenden Beitragssätze zur sozialen Alterskasse sowie die zunächst noch sicher erscheinende Aussicht auf eine hohe Sozialrente das zusätzliche private Alterssparen nieder. Beides zusammen, das Entsparen der Rentenversicherung und ihr negativer Einfluß auf das private Alterssparen, habe in der Bundesrepublik tendenziell - so Bundesbankier Schlesinger - das »Angebot an wirklich langfristig verfügbarem Geldkapital« verringert, »auf das es im Hinblick auf viele nur langfristig zu planende Investitionsvorhaben in der Volkswirtschaft ankommt«. Die Rentenpolitik hat also mit dazu beigetragen, daß langfristiges Investitionskapital knapp und teuer wurde.
Das wiederum hat den bösen Effekt noch verstärkt, den die eifrigen Pensionsverteiler von Bonn ohnehin durch die kräftige Heraufsetzung der hälftig vom Arbeitgeber zu zahlenden Beiträge
zu den Alterskassen und die damit verbundene Zunahme der sogenannten Lohnnebenkosten hervorgerufen hatten. Denn damit wurden die ohnehin durch eine zu expansive Lohnpolitik hochgetriebenen Arbeitskosten noch weiter über den gleichzeitig erreichbaren Leistungszuwachs hinaufgedrückt. Kräftig ansteigende Arbeitskosten bei gleichzeitig verknapptem Kapital aber wirken doppelt schädlich für die Beschäftigung.
Auch die stete Herabsetzung des Pensionsalters hat den populären Vorurteilen entgegen nichts Segensreiches am Arbeitsmarkt bewirkt. Selbstverständlich wurden dadurch, daß ältere Arbeitnehmer früher auf Rente gingen, weniger jüngere als andernfalls entlassen. Nur, damit war in puncto Beschäftigung nichts gebessert, ökonomisch nichts gewonnen.
Die Zahl der Unbeschäftigten wurde um keinen einzigen Kopf kleiner, als sie ohne die Herabsetzung des Rentenalters gewesen wäre. Das Ganze hatte nur optisch einen guten Effekt: Ein Teil der Masse, die sonst unter dem stigmatisierten Stichwort »Arbeitslose« hätte ausgewiesen werden müssen, wurde nun unter dem harmlosen Titel »Rentner« gebucht.
Der Etikettenwechsel, die retuschierte Realität, mag den Technikern der politischen Reklame nützlich erscheinen - ökonomisch ist damit, auch für den Arbeitsmarkt, nur Schaden entstanden: Mit der immer früheren Verrentung von Bürgern wurde sozusagen ein Anreiz zu einer expansiven Lohnpolitik geschaffen, die auf Dauer für die Beschäftigung immer gefährlich ist. Denn damit konnten die Gewerkschaften die Illusion hegen und verbreiten, daß solch eine Lohnpolitik folgenlos bliebe.
Zu der Beschäftigungsmisere, die von den Rentenpolitikern auch wegen der damit verbundenen Einnahmeausfälle der Alterskassen immer lauthals beklagt wird, haben sie selber ein gerüttelt Maß beigetragen.
Noch dauerhafter freilich sind diese Schäden: Mit ihren leichtfertigen Reformen, die durch weitherzige Sprüche der Richter noch opulenter gerieten, haben die Gesetzesmacher die Zahl der Rentner vorsätzlich immer weiter vermehrt, die Zahl der Beitragsentrichter aber vermindert. Statt die Rentenversicherung gegen das Risiko abzusichern, daß allzu vielen Rentnern zuwenig Beitragszahler gegenüberstehen, wurde der Eintritt des Risikofalles aktiv betrieben.
Heute entfallen auf 100 Pflichtversicherte bereits 56 Rentenfälle, fast 60 Prozent mehr als 1958. Nur ein Teil dieser gestiegenen und weiter steigenden Belastung ist auch auf jenen Faktor zurückzuführen, den die Politiker immer alleine zu nennen pflegen - nämlich darauf, daß sich »das Zahlenverhältnis zwischen den Generationen verschiebt« (Arbeits- und Sozialminister Norbert Blüm).
Zwar hat sich das Zahlenverhältnis zwischen Alten und Jungen kräftig verschoben, aber doch nicht so dramatisch, wie die tatsächliche Rentenlast zunahm. Würden auch heute noch nur die über 65jährigen als »alt« und nicht mehr erwerbsfähig gezählt, sähe das Zahlenverhältnis zwischen den Generationen jetzt so aus: Auf hundert Einwohner von 20 bis 64 Jahren kämen 24 über 65jährige - das sind immerhin sechs mehr als 1958. Aber der so bemessene Anteil der Alten ist damit nur um ein gutes Drittel und nicht um fast 60 Prozent wie die tatsächliche Rentnerlast gestiegen.
Auch in Zukunft, im Jahr 2000 und danach, wäre die Altenlast nicht so schwer, wenn die Sozialpolitiker in den vergangenen Jahren weniger aktiv gewesen wären.
Bis zur Jahrtausendwende - das ist jetzt schon fast sicher, da alle bereits leben, die dann im erwerbsfähigen oder im Rentenalter sind - wird sich der Anteil der über 65jährigen an der erwachsenen Bevölkerung noch gar nicht dramatisch erhöhen. Bis dahin wird die Zahl der über 65jährigen, die jeweils hundert 20- bis 64jährigen gegenüberstehen, auf 27 und damit gegenüber dem Stand von 1985 um rund 13 Prozent steigen. Die Zahl der Rentenfälle, die, von jeweils hundert Pflichtversicherten bezahlt werden müssen, aber wächst bei unverändertem Rentenrecht um gut 23 Prozent (siehe Graphik Seite 78).
Wie die Lasten sich im allerdings gar nicht mehr fernen 21. Jahrhundert entwickeln werden, ist weit unbestimmter. Zwar weilen alle, die bis 2035/40 Altersrentner werden wollen, schon auf Erden. Aber ein Großteil ihrer potentiellen Finanziers ist jetzt noch ungeboren und wird vielleicht auch nie das trübe Licht der Welt erblicken.
Falls die Deutschen weiterhin so wenig fruchtbar bleiben wie in der jüngsten Vergangenheit, müßten 100 Beitragszahler bei unverändertem Sozialrecht in der Spitze, die im Jahr 2035 erreicht wird 127 Rentenfälle versorgen. Die Zahl der »Mitesser je Schaffer«, wie der Saarbrücker Ökonom Wolfgang Stützel die von ihm so benannte »Alimentationsquote« definierte, würde mithin unerträglich hoch.
Der Finanzdirektor des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger Horst-Wolf Müller, der diese neueste Vorausschätzung vorlegte, hat auch einmal durchgerechnet, was geschähe, wenn die Fruchtbarkeit der Bundesbürger innerhalb des nächsten Jahrzehnts wieder nachhaltig und dann auch auf Dauer anstiege - und zwar so, daß die jeweilige Müttergeneration nicht mehr nur zu 60 Prozent wie jetzt, sondern zu 80 Prozent durch neugeborene Mädchen ersetzt würde. Sein Fazit: »Auch unter der Annahme eines Anstiegs der Geburtenhäufigkeiten« ergäbe sich »noch ein erheblicher Anstieg« der Alterslast. Sie wüchse auch dann noch bis nach 2030 auf »das 1,7fache des Wertes, der für 1985 errechnet wurde« - jedenfalls bei unverändertem Rentenrecht.
Eine Analyse zur Lage der Alterskassen, die 1984 von Gert Wagner, einem Mitarbeiter des Sonderforschungsbereichs »Mikroanalytische Grundlagen der Gesellschaftspolitik« vorgelegt wurde, ergab freilich: Die Rentenversicherung sei mit gleichbleibenden Leistungsversprechen noch nicht einmal dann auf Dauer zu sichern, wenn die Reproduktion der Deutschen wieder so stark anstiege, daß die gegenwärtige Bevölkerungszahl gehalten werden könnte.
Die Berechnungen, die der Sonderforscher zur »intergenerationalen Durchhaltbarkeit der gesetzlichen Rentenversicherung« angestellt hatte, schlossen mit dem Ergebnis: »Das gegenwärtige Beitrags- und Leistungsrecht wäre nur durchhaltbar, wenn die Bevölkerung wächst«, sogar ein »kräftiges Bevölkerungswachstum« sei dazu nötig.
Das Dilemma, in dem sich Deutschlands Sozialpolitiker nun finden, gilt als notorisch für alle staatlichen Rentensysteme mit Zwangsmitgliedschaft und jenem Finanzkonzept, das Umlageverfahren heißt. In fast allen Ländern des industrialisierten Westens sind die staatlichen Altersversorgungswerke in die Problemzone geraten. Es gibt längst eine »Weltkrise in der sozialen Sicherheit« - so die Diagnose einer internationalen Forschergruppe, die von der französischen Fondation Nationale d' Economie Politique und dem amerikanischen Institute for Contemporary Studies zusammengebracht wurde.
Denn überall - ausgenommen Japan - hatten die Politiker nach dem Zweiten Weltkrieg die reine Umlage als Finanzkonzept der staatlichen Rentensysteme eingeführt. Überall sind die Politiker den Versuchungen, die ein solches Finanzierungsverfahren in guten Zeiten bietet, erlegen - wenn auch kaum irgendwo in dem Maße wie die Deutschen.
Überall sinken nun seit geraumer Zeit schon die Geburtenraten - wenn auch nirgendwo so stark wie in Deutschland.
Überall offerieren die Fachleute nur schmerzhafte Kuren: Heraufsetzung des Pensionsalters, die Einführung versicherungsmathematischer Abschläge bei vorzeitigem Altersrentenbezug, eine verminderte Dynamisierung der Renten, Reduzierung der Rentenansprüche bei möglichst gleichzeitiger Senkung der Beiträge für die jetzt noch Erwerbstätigen, damit sie mehr privat durch Kapitaldeckung vorsorgen können.
Überall gilt, was der französische Sozialwissenschaftler Jean Jacques Rosa über die nötigen Korrekturen an den Rentensystemen schrieb: »Je eher die Reformen in Angriff genommen werden, um so leichter können die Rentensysteme über demographisch bedingte Altenberge hinweggebracht werden. Je länger man zuwartet, um so schwerer wird die Bürde der Reform, sowohl ökonomisch als auch politisch.«
Und allgemein wahr ist gewiß auch, was Rosa hinzugefügt hatte: An dem, was mit den staatlichen Zwangsversicherungssystemen geschehe, werde in exemplarischer Weise getestet, ob die Politiker eines Landes »die Fähigkeit dazu besitzen, eine vernünftige Rechtsordnung zu schaffen und aufrechtzuerhalten«.
In Amerika ist schon im Jahre 1983 auf Antrag und mit Zustimmung beider Kongreßparteien per Gesetz festgelegt worden, daß das Pensionsalter für die 1938 und danach Geborenen stufenweise bis auf 67 heraufgesetzt wird. Dazu ist jetzt schon festgelegt und angekündigt worden, daß diese Erwerbstätigen mit bis zu 30 Prozent Abschlag bei der Pension rechnen müssen, wenn sie auf eine Frühverrentung spekulieren.
Die englische Regierung hat im Herbst vergangenen Jahres ein detailliertes Programm vorgelegt, das die auch in Großbritannien steigende Alterslast für die jetzt Jungen und die künftigen Generationen erträglicher machen soll. Wichtigste Programmpunkte: ein allmähliches Abschmelzen des Rentenniveaus, das bislang von dem allerdings noch relativ jungen staatlichen Zusatzrentensystem »Serps« (state earnings-related pensions system) neben einer sehr bescheidenen Grundrente geboten wird. Und: Anreize zu privater Zusatzversorgung, ja sogar die Möglichkeit, aus den staatlichen Alterskassen heraus zu optieren und sich statt dessen bei der privaten Assekuranz zu versichern.
Die Japaner haben ohnehin geringere Probleme, obwohl sich ihre Altersstruktur fast genauso schnell und fast genauso dramatisch wie die der Deutschen entwickelt (siehe Graphik Seite 76). Da das staatliche Rentensystem in Japan, genannt Kosei-Nenkin-Hoken, zwar keineswegs voll, aber immerhin teilweise durch Kapital gedeckt ist, verfügt es über »ein kräftiges Schutzkissen gegen die zerstörerischen demographischen Bedingungen unseres sozialen Sicherungssystems« - so der japanische Sozialwissenschaftler Noriyuki Takayama.
In Westdeutschland, das mehr als alle anderen Staaten durch Geburtenschwund betroffen und dessen Rentensystem zuallererst von Pleite bedroht ist, wären frühzeitige Korrekturen am allernötigsten gewesen. Bislang jedoch geschah nicht viel, und was geschah, ist nicht geeignet, die Alterseinkünfte dauerhaft sicher zu machen und die Rentenversicherung vor der Vertrauenskrise zu bewahren, in die sie nun immer mehr hineinschlittert.
Die Mutterschaftsprämien, auf deren Erfolg die Bonner nun vor allem hoffen und setzen, werden die Sünden der Rentenpolitiker jedenfalls kaum korrigieren können. Im Gegenteil: Sie fügen den vielen unsoliden Ungerechtigkeiten, die von Sozialpolitikern in Sachen Altersversorgung begangen worden sind, noch eine weitere hinzu.
Jene, die ohnehin schon historische Höchstsummen an die Rentenversicherung abführen und damit ihre eigene Pension bereits zu über 100 Prozent selbst finanzieren müssen, werden nun noch einmal im Namen der Alterssicherung zur Kasse gebeten. Sie müssen nun auch noch mit höheren Steuern als sonst nötig wären die Prämien für das Hervorlocken künftiger Beitragszahler aufbringen.
Und da ist noch etwas: Alexander Rüstow hatte während einer Diskussion um bevölkerungspolitische Maßnahmen in den 5Oer Jahren einmal gesagt, Eltern, die dem Staat gegen Bares ein Baby schenkten, täten ihm leid - »und noch mehr die Kinder solcher Eltern«.
Dem ist wirklich nichts hinzuzufügen.
Ende
Das Geld ist rar, die Kurse sinken, Dagegen steigt der Preis der
Schinken. Fast jeden Morgen klagt die Mutter: Ach, Herr, wie teuer
ist die Butter! Ja, selbst der Vater wird gerührt, Wenn er sein
kleines Brötchen schmiert. Und doch, trotz dieser Seelenleiden, Will
keiner gern von hinnen scheiden. Wilhelm Busch
[Grafiktext]
Langlebige Frauen Die Lebenserwartung der 65jährigen Deutschen in Jahren; bis 1934 Deutsches Reich, von 1960 Bundesgebiet Die Rentner werden jünger Rentenbeginn der männlichen Rentenempfänger in Prozent der jeweiligen Geburtsjahrgänge Ähnliche Zukunft Zahl der Beitragszahler pro Rentner in Japan und in der Bundesrepublik Die Republik der Alten Veränderung der Bevölkerungsstruktur in der Bundesrepublik »Rentenfallquotient« »Altersquotient 65«
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