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Briefe

Den aufrechten Gang wagen
aus DER SPIEGEL 52/1983

Den aufrechten Gang wagen

Fast 30 000mal erhielt in diesem Jahr der SPIEGEL Post von seinen Lesern. Einige lassen wöchentlich von sich hören, so der Oberstudienrat Hans Wittek, 49, verheiratet, zwei Kinder, parteilos. Wittek studierte Deutsch, Englisch und Geschichte und bereitet derzeit eine Leistungsstufe am Gymnasium in Leutkirch auf das Abitur vor. Klassen-Pflichtlektüre: Goethes »Faust« und »Der Untertan« von Heinrich Mann. - Hier eine Auswahl von Witteks Leserbriefen (ungekürzt) im Jahr 1983. *

(Nr. 1/1983: Werner Meyer-Larsen beschreibt den weiteren Ausbau zu einem technisch perfekten Überwachungsstaat, obwohl in der Bundesrepublik, auf die Bevölkerung bezogen, bereits doppelt so viele Polizisten arbeiten wie in Holland)

Ein Polizist pro deliktsfähigen Einwohner wäre nach den Wünschen unionschristlicher »Rechtsstaat«-Hüter wohl die ideale Polizeidichte.

Schon jetzt hinreichend allerdings sichert dieser Staat Atomkraftwerke gegen ihre Gegner, nicht aber diese vor jenen.

(Nr. 2/1983: SPIEGEL-Essay von Rudolf Augstein: »Hobbes und wir")

Augstein rühmt an Machiavelli, der habe »ein für allemal das antichristliche und amoralische Wesen aller Fürsten und auch aller demokratischen Staatsgewalt dargetan«.

Wenn Machiavelli damit recht hat - und ich glaube, das ist der Fall -, dann sind beispielsweise die staatsgewalthabenden Unions-»Christen« hierzulande sowenig christlich wie die DDR-Oberen demokratisch. Mögen die »Christdemokraten« hier scheinheilig entrüstet dagegen noch so sehr giften und geifern!

(Nr. 3/1983: Spekulation mit Altbauten vertreibt Mieter aus ihren Wohnungen. Das neue Mietrecht wird Wahlkampfthema)

Wahrhaft soziales und humanes Wohnen kann es im Kapitalismus gar nicht geben. Denn Kapitalisten haben nichts als Profit im Sinn. Wo es aber einzig um Profit geht, wird alles Soziale und Humane erstickt. Das Prädikat »human« verdiente die Wohnungspolitik hierzulande nur, wenn sie wirklich sozial, christlich, liberal und demokratisch wäre. Sie ist jedoch von all dem das Gegenteil, also inhuman.

»Sozialen Wohnungsbau« leisten sich profitverbiesterte Kapitalisten höchstens als Sadismus in vielstöckigem Beton. Darin können sich die Menschen weder aus- noch einleben. Darin können sie nur eingehen. Kein Wunder daher, daß manche Mieter kaputtmachen, was sie kaputtmacht. Ein System, in dem »sanieren« (= heilen) faktisch bedeutet, daß jeder dritte Mieter seine Wohnung verlassen muß, ist völlig absurd und pervers.

(Nr. 4/1983; SPIEGEL-Gespräch mit Verteidigungsminister Manfred Wörner über Abrüstung, Nato-Strategie und Bundeswehr)

Als Motto für die Traditionspflege in der Bundeswehr empfehle ich dem erbauungsschwülstigen Phrasendrescher Wörner dies: Lieber Zopf ohne Kopf als Kopf mit Zopf.

(Nr. 4/1983: Papst Johannes Paul II. veröffentlicht das neugefaßte kirchliche Gesetzbuch »Codex luris Canonici«, das für 784 Millionen Katholiken Gültigkeit haben soll)

Dieses »neue« Kirchenrecht zeigt einmal mehr: die römisch-katholische Amtskirche ist heillos reaktionär und steinhart autoritär. Darum sagt sie weiterhin nein zur »Fleischeslust« und zur Lust überhaupt, nein zur künstlichen Empfängnisverhütung, nein zum Schwangerschaftsabbruch, nein zur Homosexualität, nein zur Priesterehe, nein zur Emanzipation der Frau, nein zur Aufklärung, nein zu ihrer inneren Demokratisierung.

In unserer Zeit ist das geistesgeschichtlich gesehen nicht nur antiquiert, sondern großenteils schon fossil.

(Nr. 7/1983: SPIEGEL-Report über das Wahlkampfthema Waldsterben: Auch die CDU erklärt den Kampf gegen den Säureregen nun zur »wichtigsten Aufgabe der Menschheit")

Es genügt nicht, durch Alarmschlagen am Selbstverständnis moderner Industriegesellschaften nur zu rütteln. Man muß es radikal in Frage stellen, um es zu entwurzeln. Abstrakt ausgedrückt heißt das: umdenken. Auf solches Umdenken in den Köpfen der »da oben« dürfen wir freilich nicht warten, zwingen müssen wir dazu durch Massenproteste von unten, wie es die Friedensbewegung gegen die Betreiber des Rüstungswahnsinns tut.

(Nr. 7/1983, SPIEGEL-Serie: »Hitlers Machtergreifung 1933 - Deutschlands Weg in die Diktatur« (VII))

Die umfassende gesellschaftliche und geistige Gleichschaltung der Deutschen nach 1933 gelang den Nazis auch deshalb so schnell und nahezu völlig widerstandslos, weil das gebildete Bürgertum, die Kirchenführer, die Beamten, die Richter, die Professoren, die Studenten, die Journalisten großenteils antidemokratisch und antisemitisch, also profaschistisch gesinnt waren.

Ihre »Bildung«, die sie sich gern selbst bescheinigten, hinderte sie nicht daran, der Nazi-Propaganda zu erliegen. Denn sie waren bereit oder taten zumindest nichts dagegen, sich von Hitler »geistig« so sehr führen zu lassen, daß ihnen Hören und Sehen verging.

Schwerlich wären derart viele deutsche Michel »dem Führer« gefolgt, wenn zwischen ihm und ihnen keine Wahlverwandtschaft bestanden hätte. Nur darum konnte er ihnen »aus dem Herzen« sprechen.

(Nr. 8/1983: Die Sozialdemokraten entwickeln eine Wahlstrategie, mit der sie die Alternativen gewinnen wollen)

Die Grünen und Alternativen müßten freilich von allen guten Geistern verlassen sein, wenn sie der SPD auf deren neuesten »Integrations«-Leim a la Vogel kröchen.

Nein, es kann keine sozialdemokratischgrün-alternative Mehrheit links von der Mitte gegen rechts geben, solange die SPD nicht (wieder?) links, das heißt vernünftig im besten aufklärerischen Sinn, denkt und handelt. Doch da sieht's sehr trist aus. Scheitern dürften alle Bemühungen um eine linke Mehrheit vor allem daran, daß es hierzulande von jeher zu wenig Linke gibt, die ihren »aufrechten Gang« (Ernst Bloch) unter keinen Umständen verleugnen.

Diesen aufrechten Gang wagen die meisten SPD-»Linken« nur in Schönwetterzeiten für demokratischen Sozialismus, also selten. Bisher taten sie das letztmals 1968 bis 1972: während der frühen Kanzlerschaft Willy Brandts.

Inzwischen sind fast alle damaligen SPD"Linken« nach rechts umgekippt, wähnend, derart lägen sie richtig. Erhöben sie sich wieder, geschähe dies aus purem Opportunismus.

(Nr. 9/1983: Nach Umfragen haben die Grünen die Chance, ins Parlament einzurücken. Die Etablierten reagieren erschreckt und sprechen von der Unregierbarkeit der Republik)

»Geistig-moralische Erneuerung« a la Kohl und Gesinnungsgenossen heißt: Gesellschaftskritik raus, Untertanenmentalität rein.

Diese heillos Vorgestrigen schreckt es offenbar nicht, daß auch Heinrich Himmler, verantwortlich für den Mord an zehn Millionen Menschen, Tüchtigkeit, Pflichterfüllung, Disziplin, Gehorsam, Sparsamkeit, strenge Ordnung sehr schätzte. Eine wahrlich makabre deutsche »Kontinuität« gleicher Sekundärtugenden im Kaiserreich, in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und in der CDU/CSU!

Als gut gilt der Altes schon deshalb, weil's alt ist. Leider kriecht der Mehrheitsdeutsche solchem kulturell fortschrittsfeindlichen Spießertum nach wie vor gierig auf den Leim. Das ist ein spezifisch deutsches Erbübel.

(Nr. 10/1983: »Die Mehrheit steht rechts« überschreibt Rudolf Augstein seinen Kommentar nach der Wahl)

Ja, Bundeskanzler Kohl lügt, wenn er tönt, er sei für »Frieden schaffen mit immer weniger Waffen«. Glaubwürdig wäre solches Frieden-schaffen-Wollen nur, wenn es auch die Möglichkeit »ohne Waffen« einschlösse. Denn das Vorhaben »immer weniger« zielt, ernsthaft betrieben, auf Null.

Diese Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982 ist »eine gefährliche Illusion«. Also ist die Parole »Frieden schaffen mit immer weniger Waffen« aus seinem Munde ein einziger Bluff!

Dem Prinzip Lüge in der Politik krochen hierzulande rechte Mehrheiten freilich schon früher auf den Leim.

(Nr. 11/1983: Auch in Baden-Württemberg werden Pädagogen gemaßregelt, die sich für Frieden und Abrüstung einsetzen)

Das also meinen Unionspolitiker mit der schulpolitischen »Tendenzwende": linke Gesellschaftskritik raus, Untertanenmentalität rein. Dabei stört es, in dem Fall, die baden-württembergische Landesregierung offenbar nicht, was in ihrer Verfassung, Artikel 12, steht: »Die Jugend

ist ... zur Friedensliebe ... und zu freiheitlicher demokratischer Gesinnung zu erziehen.« Unter Erziehung zur »Friedensliebe« verstehen regierende Unionschristen anscheinend primär Stimmungsmache für die Bundeswehr.

Kritik hassen sie wie den Teufel. Wer gänzlich Kritikloses will, lese Kochbücher.

(Nr. 8/1983: Die gegenseitige Raketendrohung von USA und UdSSR wird zum Wahlkampfthema. Reagans Falken halten einen Atomkrieg für gewinnbar. SPIEGEL-Autor Bittorf beschreibt in einer Serie diese letzte gefährliche Drohung)

Schlimmer als das Gleichgewicht des Schreckens ist der Schrecken des eskalierenden Gleichgewichts.

Schon 1959 gab es genügend Atomwaffen, um das absurde Ziel des kollektiven Selbstmords der Menschheit zu erreichen. Dennoch wurde seither das atomare Drohpotential bis zu vielfacher Overkill-Kapazität gesteigert. 1981 lagerten in den Arsenalen der Atommächte 54 000 taktische und strategische Atomwaffen mit der Zerstörungskraft von einer Million Hiroschima-Bomben. Das ist doch der absolute (Verfolgungs-)Wahnsinn.

Die westliche Drohung mit dem Atomkrieg bedeutet: im angeblichen Interesse der Bewahrung des »Friedens in Freiheit« uns dieser Freiheit völlig zu berauben und die Erde in ein ausfluchtloses Konzentrationslager zu verwandeln. Da darf nicht mehr Anpassung, da muß Widerstand sein, massenhaft, weltweit!

(Nr. 13/1983: Die Diskussion über die Volkszählung hat begonnen. Der SPIEGEL führt darüber ein Gespräch mit Innenminister Zimmermann)

Schneidig sagt der Bundesinnenminister, er trage am Volkszählungsgesetz die »politische Mitverantwortung«; der fühle er sich »verpflichtet«. Soso.

Was meinen Politiker, wenn sie »Verantwortung« sagen? Macht! Die ermöglicht es ihnen, unterm Deckmantel des Gemeinwohls das eigene Partei-Interesse zu mästen. Wie tragen Politiker »Verantwortung«? Meist zur Schau oder als Tarnanzug oder, wenn es die Staatsräson angeblich erfordert, bedenkenlos zu Grabe.

Aus dem Munde zumal dieses Bundesinnenministers klingt das Wort Verantwortung wie ein fauler Witz.

(Nr. 14/1983: Das CDU-Mitglied Franz Alt unterstützt in einem »Report«-Beitrag den gewaltfreien Widerstand gegen die Nachrüstung)

Die Zornausbrüche reaktionärer Unionspolitiker und ihrer maßgebenden Erfüllungsgehilfen im Fernsehen zeigen, was mit »geistig-moralischer Erneuerung« nach CDU/CSU-Art auf dem Mediengebiet gemeint ist: unbequeme Kritik(er) raus, dafür teils Hofberichterstattung, teils Hetze gegen den Sowjet-Kommunismus rein, jedenfalls in Magazin-Sendungen. Davon soll heuchlerisches Geschrei nach Ausgewogenheit ablenken.

(Nr. 17/1983: Schon die Autoren des Neuen Testaments haben Personen und Absichten Jesu verfälscht - behauptet ein Soziologe)

Vorm »Sadomasochismus« (Mayer) des neutestamentlichen Gottes ekelte es schon Nietzsche: _____« Gott gab seinen Sohn zur Vergebung der Sünden, als » _____« Opfer. Wie war es mit einem Male zu Ende mit dem » _____« Evangelium! Das Schuldopfer, und zwar in seiner » _____« widerlichsten, barbarischsten Form, das Opfer des » _____« Unschuldigen für die Sünden der Schuldigen! Welches » _____« schauderhafte Heidentum! ("Der Antichrist«, Nr. 41, » _____« Hervorhebung von Nietzsche.) »

(Nr. 18/1983: Drei deutsche Frauen - zwei Schauspielerinnen und eine Feministin - beschreiben ihren Weg zum Guru Bhagwan)

Was jene kultur- und selbstbestimmungsmüden Bundesdeutschen, die in Bhagwans Lehren ihr Heil wähnen, als geistig-sexuelle »Befreiung« empfinden, halte ich für Entselbstungs-Masochismus. Der vollzieht sich in drei Phasen: gehorsam, zugehörig, hörig. Hörig haben alle Gurus ihre Anbeter(innen) am liebsten. Denn nur Hörige sind ganz »selbstlos«, das heißt völlig fremdbestimmt. Arme Irre!

(Nr. 19/1983: Amerikanische Bischöfe sagen nein zur Atomrüstung. Der SPIEGEL führt ein Gespräch mit Joseph Kardinal Ratzinger, dem Präfekten der Glaubenskongregation)

Ratzinger beruft sich auf ein Papstwort, wonach die Abschreckung »als Übergang zur Rüstungsverminderung einstweilen noch tolerabel« sei. Stört es Ratzinger gar nicht, daß dieser »Übergang« nun schon dreißig Jahre dauert?

Heute verschlingt das absolut irrsinnige Overkill-Wettrüsten weltweit in jeder Minute eine Million Dollar. Und das soll »noch tolerabel« sein? In der Dritten Welt sterben täglich über 40 000 Säuglinge und Kleinkinder. Jährlich sind es 17 Millionen. Sie sterben nicht durch Kriege und Katastrophen, sondern an Hygienemangel-bedingten Krankheiten und an Unterernährung. Diesen Kindern könnte mit einem geringen Teil des Geldes für die Rüstung das Leben gerettet werden. Doch das geschieht nicht.

Zu diesem Verbrechen am geborenen Leben sagt Ratzinger kein Wort. Die Abtreibung jedoch verdammt er. Wie vereinbart er solche doppelte Moral mit seinem christlichen Gewissen?

(Nr. 22/1983: CDU-Parteitag in Köln. Kohl findet sich stark wie nie, meint SPIEGEL-Reporter Leinemann)

Kohl ergeht sich in Kraftbildung mangels Einbildungskraft. Diese Impotenz der Phantasie wirkt obszön. Sie gefällt sich in Gravität. Die nennt Schiller falsche Würde und schreibt über sie unter anderem, sie »sucht ihre lächerliche Größe in Unterjochung und, wo dies nicht angehen will, in Verbergung derselben«.

Leider-tötet Lächerlichkeit auf der politischen Bühne nicht. Darum können sich die Inhaber höchster Staatsämter, ohne die sie - siehe Kiesinger, Filbinger und ähnliche - meist Nullen sind, öffentlich auch weiterhin so lächerlich wichtigtuerisch gebärden.

(Nr. 24/1983: In Orlando hat Ronald Reagan vor dem Kongreß der Erweckungsprediger erklärt, das Sowjetreich sei ein »Reich des Bösen«, dessen man sich »mit aller Macht« erwehren müsse)

Beten und Bomben gegen Bomben ohne Beten: Das ist Präsident Reagans »Friedens«-Politik. Und die seiner Vasallen hierzulande.

(Nr. 25/1983: CDU-Generalsekretär Geißler biegt in seinen Reden Begriffe und Werte nach Gutdünken zurecht)

Wenn der Unions-»Christ« Geißler im Bundestag sagt, der Pazifismus habe »Auschwitz erst möglich gemacht«, speit er nicht Gift und Galle, sondern Jauche.

(Nr. 26/1983: Der Papst besucht Polen. Rudolf Augstein überschreibt seinen Kommentar: Von der Vision zur Division)

Goethe zu Soret am 11. März 1832: _____« Fragt man mich aber, ob ich geneigt sei, mich vor » _____« einem Daumenknochen des Apostels Petri oder Pauli zu » _____« bücken, so sage ich: verschont mich und bleibt mir mit » _____« euren Absurditäten vom Leibe! » _____« Den Geist dämpfet nicht! sagt der Apostel. » _____« Es gibt gar viel Dummes in den Satzungen der Kirche. » _____« Aber sie will herrschen, und da muß sie eine bornierte » _____« Masse haben, die sich duckt und die geneigt ist, sich » _____« beherrschen zu lassen. Die hohe reichdotierte » _____« Geistlichkeit fürchtet nichts mehr als die Aufklärung der » _____« untern Massen. »

Auch darum soll man den Glauben des einfachen Volkes erschüttern.

(Nr. 26/1983: Kann Bundeskanzler Kohl sein Versprechen halten, allen Jugendlichen eine Lehrstelle zu beschaffen, ist die Titel-Frage. Zur gleichen Zeit wird eine Studie veröffentlicht, nach der die Deutschen mehr und mehr die Lust an der Arbeit verlieren)

Werden endlich sogar die Deutschen faul? Hoffentlich! Denn es gibt nichts Menschenwürdigeres als Faulheit, das heißt nicht arbeiten zu müssen, wenn man nicht arbeiten will. Nichtstun, gar süßes, ist keine Schande, wohl aber hochbezahlte, gesellschaftlich unnütze Schein-Arbeit.

Wird Arbeit um Geld nicht (mehr) als »Segen« oder »Sinn« des Lebens empfunden, sondern als Ausbeutung, Stumpfsinn, Trott, Frustration, Qual, Strafe, dann gewinnt Müßiggang an Wert, entsteht aus der Herabsetzung der Arbeitsmoral eine neue Tugend: Glück.

Die alten Arbeits-»Tugenden« Fleiß, Disziplin, Opferbereitschaft, Pflichterfüllung und ähnliche haben uns genug Unglück beschert.

(Nr. 33/1983: Die munteren Aufschwung-Parolen der neuen Regierung erweisen sich bisher nur als Vision)

Kohl wurde Kanzler, weil er den »Aufschwung« versprach. Der sieht am Beispiel Firmenzusammenbrüche bis jetzt so aus:

Im ersten Halbjahr 1983 machten 6236 Unternehmen Pleite. Diese Zahl liegt um 9,9 Prozent höher als die des gleichen Vorjahreszeitraums. Zweifellos ein Aufschwung - im Minusbereich.

Trotzdem dürften die zunehmenden Konkurse der jetzigen Bundesregierung ins Konzept passen. Denn die Konzentration des Kapitals in den Händen weniger, eine hohe Arbeitslosenrate und

damit garantiert niedrige Tarifabschlüsse sind notwendig für den Aufschwung a la Kohl: einen Aufschwung der Profite.

(Nr. 35/1983: SPIEGEL-Redakteur Hartmut Palmer berichtet über die »10 000 Friedenstage« der Union, eine Kampagne gegen die »sogenannte« Friedensbewegung)

Der CDU-Generalsekretär Geißler schändet unsere Sprache, indem er Begriffe verfälscht. Mit der Kampagne »10 000 Friedenstage« will er erreichen, daß die Bundesbürger »Frieden« als Hinnahme der Atomrüstung verstehen.

Bodenlos zynisch ist es auch, den Zustand, auf einem atomaren Pulverfaß zu sitzen, das jederzeit explodieren kann, »Frieden in Freiheit« zu nennen.

Aber »verantwortliche« Unions-»Christen« wie Geißler halten sich eben lieber an Atombomben als an die Bergpredigt, deren wichtigste Forderung, gewaltlos (!) Frieden zu schaffen, sie als wehrkraftzersetzend abtun.

(Nr. 40/1983: SPIEGEL-Titel »Kohl: Die lange Schonzeit ist zu Ende")

Der überlangen SPIEGEL-Schreibe kurzer Sinn heißt: Nach dem Effektschauspieler Schmidt haben wir nun den Defektschauspieler Kohl.

(Nr. 41/1983: Unter dem Christdemokraten Wörner betreiben konservative Offiziere die Rückkehr zu den angeblich ewigen soldatischen Tugenden)

Zur »Besonderheit des Soldatenberufes« (Verteidigungsminister Wörner) sei dies angemerkt: »Es ist ein unbegreiflicher Wahnsinn des Menschlichen Geistes, wie der Soldat ein Ehrentitel werden konnte« (Johann Gottfried Seume, 1763 bis 1810).

Ob der Verteidigungsminister Wörner Carl von Clausewitz (1780 bis 1831) deshalb so sehr schätzt, weil der in seinem Buch »Vom Kriege« Sinn, Zweck, Gestalt, Techniken und anderes der professionellen Menschenvernichtung derart beschreibt, als sei die eine hohe sittliche Kunst?

(Nr. 42/1983: Der »heiße Herbst« hat begonnen. Drei Millionen Bundesbürger beteiligen sich an den Friedensaktionen)

Nach dem Demokratieverständnis ist die parlamentarische Demokratie offenbar eine »Demokratie« der Parlamentariermehrheit. Diese schmäht daher jede gegen sie gerichtete außerparlamentarische Bewegung als antidemokratisch, besonders die Friedensbewegung, obwohl hinter ihr, zumindest in der Frage der geplanten Stationierung neuer amerikanischer Massenvernichtungswaffen, die Bevölkerungsmehrheit steht. Angesichts dieser Mehrheitsverhältnisse wirkt es absurd, wenn die Bundesregierung darauf pocht, sie handle »repräsentativ demokratisch«.

(Nr. 45/1983: Grüne sind zu Gast beim DDR-Staatsratsvorsitzenden Honecker, und der DDR-Schriftsteller Stefan Heym hält Vorträge in der Bundesrepublik. Er hält die ewige Zweiteilung Deutschlands für einen unmarxistischen Gedanken)

»Einigkeit und Recht und Freiheit« für die beiden deutschen Staaten? Recht und Freiheit - ja. Aber wozu Einigkeit? Die macht, als gemeinsames Nationalgefühl, nicht stark, sondern arg. Außerdem: Fehlt uns Deutschen, ob hüben oder drüben, wirklich die »nationale Identität«? Leider nicht. Wir haben von ihr noch zuviel. Wenn sie sich doch endlich auflöste in einer internationalen Identität! Das wäre schön. Dann könnten wir auf alle nationalen Identitäten pfeifen. Dann wären alle eiternden Wunden in und zwischen Nationen endlich geheilt.

(Nr. 48/1983: In der Flick-Affäre wird Anklage erhoben. Hans Magnus Enzensberger schreibt über die Parteispenden-Affäre)

Sogar der Teufel wäre ein Optimist, wenn er glaubte, er könne hohe Parteipolitiker noch niederträchtiger, fieser, korrupter, verlogener und gewissenloser machen, als sie sind. Wer da, wie Hans Magnus Enzensberger, versucht, sie mit Ironie und Satire lächerlich zu machen, wirft Perlen vor die Säue.

(Nr. 49/1983: Ist die Menschheit noch zu retten? Konrad Lorenz, der 80jährige Patriarch der Verhaltensforschung, stellt in seinem neuen Buch keine günstige Prognose)

Auch der Kulturphilosoph Arthur Koestler hielt die Spezies Mensch für krank und nannte sie einen »Irrläufer der Evolution«. Doch im Gegensatz zu Konrad Lorenz sah er eine geeignete Therapie, den rettenden Ausweg nicht in der Erziehung der Jugend zum Guten, Schönen, Harmonischen und dergleichen, sondern in - erst noch herzustellenden - biochemischen Präparaten, also in Pillen, Drogen, Medikamenten. Die würden, glaubte er, »einen ausgeglicheneren Geistes- und Seelenzustand fördern und gegen den Gesang der Sirenen, das Geschrei von Demagogen und die Versprechungen eines falschen Messias immun machen«. Darin erblickte er »die einzige Alternative zur Verzweiflung«.

Freundliche Grüße

H. Wittek

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