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»Den Bequemlichkeitsspeck loswerden«

aus DER SPIEGEL 3/1977

SPIEGEL: Bei den Sozialdemokraten wächst der Unmut darüber, daß die Freidemokraten den größeren Regierungspartner in den Koalitionsverhandlungen allzusehr in die Ecke gedrängt haben. Muß das nicht die Koalition strapazieren?

VERHEUGEN: Ich habe nicht den Eindruck, daß Bundeskanzler Helmut Schmidt wichtige Zugeständnisse gegen seinen Willen abgerungen worden sind. Wenn er in einzelnen Punkten seiner Regierungserklärung Probleme hat, so reflektiert das die innerparteilichen Schwierigkeiten der Sozialdemokraten, die sich aus deren Marxismus-Debatte ergeben.

SPIEGEL: Sollte sich die FDP nicht besonders zurückhalten, um dem Kanzler noch größere Auseinandersetzungen zu ersparen?

VERHEUGEN: Man darf in einer Koalition seinen Partner nicht überfordern. Dessen Handlungsfähigkeit liegt im Interesse der FDP. Erst zwei stabile Partner ergeben eine stabile Regierung.

SPIEGEL: Ist Ihre Partei, die im Bundestag von den 496 Abgeordneten nur 39 stellt, nicht in Gefahr, einem Höhenrausch zu erliegen?

VERHEUGEN: So gut war unser Wahlergebnis wirklich nicht. In unserer Partei wird durchaus selbstkritisch über das Problem nachgedacht. Und auch Hans-Dietrich Genscher hat deutlich gemacht, daß keine Partei Grund hat, auf die andere mit Fingern zu zeigen. Daß wir eine Menge liberaler Politik durchgesetzt haben, soll auch uns nicht zu Übermut verleiten.

SPIEGEL: Es gibt also so etwas wie ein selbstkritisches Unbehagen in Ihrer Partei?

VERHEUGEN: Wir sind ja nicht kalte Machttechniker, denen es nur darauf ankommt, dabeizusein. Das große Gewicht an Macht, das uns zufällt, haben wir wohl erkannt, aber auch die Verantwortung. Wir versuchen, diesen Einfluß durch die Qualität unserer Politik zu legitimieren, und wir haben uns ja selbst eine gewisse Enthaltsamkeit verordnet. Denn die Waffe, die der kleine Partner in einer solchen Koalition eigentlich hat, die benutzen wir nicht. Wir drohen ja nicht mit Koalitionswechsel.

SPIEGEL: Kann die Diskrepanz zwischen parlamentarischer Stärke und wirklicher Macht nicht eines Tages doch dazu führen, daß die Wähler sagen: Die übertreiben, das ist zuviel?

VERHEUGEN: Die Gefahr wäre dann da, wenn wir unsere Position bis zum Letzten ausreizen würden. Aber: Wie sollte heute eigentlich ohne die FDP regiert werden? In unserem Land ist zur Zeit doch nur sozialliberale Politik mehrheitsfähig. Sozialistische Politik ist ebensowenig mehrheitsfähig wie konservative.

SPIEGEL: Im Augenblick ist der Eindruck sehr stark, daß es der FDP schwerfällt, sich ein programmatisches Profil zu geben.

VERHEUGEN: Ich habe auch die Sorge, daß unter der Regierungsbeteiligung, die eine relativ kleine Partei wie die FDP ganz besonders beansprucht, die urliberale Aufgabe leiden könnte, neue Denkanstöße zu geben und unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Wir haben in der Programmarbeit ein paar Jahre schlicht verpennt.

SPIEGEL: Hat die FDP sich nicht schon zu sehr aufs Regieren spezialisiert? Muß sie nicht deswegen vor allem Geschlossenheit statt Diskussionsfreudigkeit zeigen?

VERHEUGEN: Jede Partei, die lange regiert, ist in der Gefahr, geistig abzuschlaffen. Deshalb machen wir ja in diesem Jahr eine große programmatische Anstrengung, auch um den Bequemlichkeitsspeck, den wir vielleicht angesetzt haben, wieder loszuwerden.

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