»Den Finger in die Wunden«
SPIEGEL: Herr Herzog, sind Sie beunruhigt? In der FDP wachsen die Zweifel, ob die Liberalen weiter mit der Union gemeinsame Sache machen und Sie zum Bundespräsidenten wählen sollen.
Herzog: Ich sehe das Risiko. Die Wahl am 23. Mai - das habe ich von Anfang an gewußt - ist nicht gewonnen. Nichts ist sicher, es wird interessant. Die FDP ist eine selbständige Partei. Ihre Wahlmänner in der Bundesversammlung müssen sich genau überlegen, wen sie wählen. Natürlich wäre es mir sehr lieb, wenn die Liberalen mich wählten. Ich werde aber nicht gewissermaßen unterschwellig auf Stimmeneinkauf gehen.
SPIEGEL: Sie sind als Präsident des Verfassungsgerichts ein mächtiger Mann. Warum wollen Sie Bundespräsident werden?
Herzog: Ich habe mich nicht beworben. Ich hätte es aber für Feigheit gehalten, wegen des Risikos, nicht gewählt zu werden, die Kandidatur nicht anzunehmen. _(Das Gespräch führten die Redakteure Dirk ) _(Koch und Rolf Lamprecht. ) Das Amt des Bundespräsidenten ist ungeheuer wichtig - und es ist auch reizvoll, weil es nicht definiert ist.
Was ein Finanzminister macht, weiß jeder. Aber es gibt daneben Ämter, die von ihrem Träger gestaltet werden müssen, bei denen man sich - übertrieben gesagt - stets überlegen muß: Was mache ich nächste Woche? Das reizt mich, gerade in einer Zeit, in der in der Bevölkerung und in den Parteien die Flügel im Weltanschaulichen wie bei den wirtschaftlichen Interessen immer mehr auseinanderdriften. Ich will das Einende betonen.
SPIEGEL: Was befähigt Sie dazu? Helmut Kohl hat über Sie bemerkt: Der ist faul. CSU-Ministerpräsident Edmund Stoiber hält Sie für unberechenbar liberal. Der Sozialdemokrat Günter Verheugen sagt, Sie seien ein verkappter Reaktionär.
Herzog: Das mit der Faulheit stimmt nicht. Ich kann meine Arbeit organisieren, ich bringe einen Aktenberg schneller vom Tisch als mancher andere. Das gibt mir die Möglichkeit, auch mal eine dicke Zigarre zu rauchen und zu überlegen.
Ich bin auch nicht unberechenbar. In einer so beweglichen Gesellschaft wie der unseren sehe ich gelegentlich neue Fragen und Entwicklungen früher als andere und bin dann damit etwas früher als andere auf dem Markt. Deswegen gelte ich als unberechenbar. Das muß ich auf mich nehmen. Ich kann mit Kästchen - liberal, konservativ - relativ wenig anfangen.
SPIEGEL: Der frühere italienische Staatspräsident Sandro Pertini sei für Sie ein Vorbild, haben Sie gesagt. Er ging mit den Politikern nicht zimperlich um.
Herzog: An Pertini hat mich immer fasziniert - das gebe ich zu, und das ist ja auch nichts Schlimmes -, daß er Probleme brennglasartig zusammengefaßt hat und dann gelegentlich ein Donnerwetter über die verantwortlichen Politiker ergehen ließ.
SPIEGEL: Pertini war Liebling der Bürger und ein Ärgernis für die Parteipolitiker. So wollen Sie werden?
Herzog: Nein, ich will niemandes Liebling sein.
SPIEGEL: Auch nicht der der Bürger?
Herzog: Nein. Populismus liegt mir fern.
SPIEGEL: Ein Kernsatz Pertinis war: »Ich werde nicht zulassen, daß die Politiker dem Ansehen des Staates schaden.« Könnte der Satz auch von Ihnen stammen?
Herzog: Er könnte auch von mir stammen, wobei ich bezweifle, daß ein einzelner dieses wirklich verhindern kann. Er kann nur immer wieder den Finger in die Wunden legen. Abgeordneten- und Minister-Besoldung, Konkurrenz von verschiedenen Pensions- oder Gehaltsansprüchen: Da müssen endlich zumindest klare gesetzliche Regelungen her. Darum muß sich jeder, auch der Bundespräsident, kümmern. Die Diskussionen darüber hängen ja mit den völlig unklaren Regelungen zusammen. Wobei ich jetzt offenlasse, ob die aus gesetzgeberischem Unvermögen oder aus der Absicht entstanden sind, irgend etwas zu kaschieren.
SPIEGEL: Vermuten Sie Komplizenschaft?
Herzog: Nicht unbedingt. Es kann einfach um die Frage gehen, ob sich Beamte gegen ihren Minister oder Ministerpräsidenten stellen. Ich erlebe das hier fast bei jeder Reisekostenabrechnung. Da muß man aufpassen, daß einem nicht aus lauter Entgegenkommen mehr zugesprochen wird, als einem bei vorsichtiger Interpretation der einschlägigen Vorschriften zusteht. Es muß Gesetze geben, die bis auf die letzte Stelle hinter dem Komma klar sind.
SPIEGEL: Klare Aussagen, was der Bundespräsident darf, stammen von einem Grundgesetz-Kommentator namens Roman Herzog. Halten Sie an Ihrer Auffassung fest, daß der Bundespräsident alle Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen hat und die Unterschrift verweigern kann?
Herzog: Daran halte ich fest. Auch deswegen, weil der Bundespräsident Bestandteil der exekutiven Gewalt ist. Er darf nach Artikel 20 Absatz 3 Grundgesetz nichts tun, was er für verfassungswidrig hält. Er muß allerdings den Verfassungsverstoß für evident halten, wenn er die Unterschrift verweigert, und er darf nicht seine eigenen verfassungsrechtlichen Neigungen zu Tode reiten.
SPIEGEL: Die Regierung muß also stets die Risiken bedenken, die einer Unterschriftsverweigerung des Präsidenten folgen?
Herzog: So ist es. Sie kann den Präsidenten zwar in Karlsruhe verklagen. Aber ob ihr das politisch gut bekommt, ist sehr die Frage.
SPIEGEL: Sie rütteln jetzt schon am Käfig, den das Grundgesetz um die Kompetenz des Bundespräsidenten gezogen hat?
Herzog: Wenn man Kompetenzen hat - und dazu gehört für mich das materielle Prüfungsrecht des Bundespräsidenten -, dann kann man sich der Wahrnehmung dieser Kompetenzen auch nicht entziehen.
SPIEGEL: Sind das jetzt schon Warnungen an eine neue Regierung nach einem Wechsel in Bonn? Wollen Sie konservativer Leuchtturm in brausender rot-grüner See sein?
Herzog: Hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Fragen gibt es zwischen den großen politischen Lagern keine so bedeutenden Unterschiede. Die Verfassung läßt dem Gesetzgeber viel Spielraum. Den muß man ihm lassen. Aber dort, wo eben die Verfassung ausdrücklich etwas verbietet, kann auch der Bundespräsident nichts anderes, als bei seiner Überzeugung zu bleiben.
SPIEGEL: Auch der Bundespräsident hat Spielräume. Er darf Täter begnadigen, die von der Justiz des Bundes verurteilt worden sind. Richard von Weizsäcker hat eine Gnaden-Initiative zugunsten von RAF-Tätern gestartet. Wollen Sie da anknüpfen?
Herzog: Ich sehe keine Gründe, hier von vornherein zu sagen: Ich mache so etwas nicht. Im übrigen hat Richard von Weizsäcker in der Frage, wenn ich das sagen darf, auch mit mir gesprochen.
SPIEGEL: Geht es etwas konkreter?
Herzog: Nein. Es ging um die seinerzeitigen Fälle.
SPIEGEL: Die Position des Bundespräsidenten ist am stärksten, wenn die Regierung schwach ist, wenn es etwa um einen Minderheitskanzler geht. Sie sagen, der Präsident müsse dann vor die Öffentlichkeit gehen, er brauche »mit nichts hinter dem Berge zu halten«. Was heißt das?
Herzog: Meine Kritik am Grundgesetz ist, daß der Bundespräsident, wenn es keinen Mehrheitskanzler gibt, die Entscheidung hat, ob er den Bundestag auflösen und Neuwahlen ausschreiben lassen will oder ob er einen Minderheitskanzler ernennt. Mich stört dabei, daß der Bundespräsident in diesem Fall immer auf den Kandidaten mit der relativ größten Mehrheit festgelegt sein soll. Ich denke an die Situation vom Januar 1933.
SPIEGEL: Das klingt dramatisch.
Herzog: Überhaupt nicht! Der damalige Reichspräsident hätte - wenn wir unser heutiges Grundgesetz zugrunde legen - den Reichstag auflösen können, was in der damaligen Situation sicher nicht sehr viel gebracht hätte. Die Alternative wäre gewesen, er hätte Hitler als Reichskanzler zuerst akzeptieren und dann vorschlagen müssen. Und dieses halte ich für einen Mangel in den Vorschriften des Grundgesetzes über schwierige Regierungsbildungen.
SPIEGEL: Der Reichspräsident von Hindenburg wäre - vorausgesetzt, daß das Grundgesetz gültig gewesen wäre - Ihrer Meinung nach durchaus in der Lage gewesen, Hitler nicht als Kanzler vorzuschlagen? Der Bundespräsident sollte seine Kompetenz so weit ausdehnen?
Herzog: Wenn es darum geht, einen extremistischen Kanzler zu verhindern, dann ja. Allerdings nur in diesem Fall, das ist klar. Das Grundgesetz sagt eindeutig, daß das Parlament den Kanzler bestimmt, und es verlangt vom Bundespräsidenten, zuvor einen Kanzler vorzuschlagen. Es geht also nicht darum, ob dem Bundespräsidenten eine Koalition angenehm ist oder nicht.
SPIEGEL: Wenn es nach einer Bundestagswahl Stimmengleichheit, also ein Patt gibt, darf der Bundespräsident nach Ihrer Ansicht von sich aus eine ihm genehme Persönlichkeit vorschlagen, wenn die Kontrahenten sich nicht einigen können - der Bundespräsident als Kanzler-Macher?
Herzog: Nicht als Kanzler-Macher. Wer Kanzler wird, bestimmt das Parlament. Ich beziehe mich auf eine entsprechende Situation unter Präsident Heinrich Lübke. Der hat 1961 bei der Regierungsbildung gesagt: Ich werde einen Personalvorschlag unterbreiten, falls die Koalitionsverhandlungen noch ewig weitergehen sollten. Ich halte das, was Lübke damals angedroht hat, für machbar. Wenn die Fraktionen keinen Mehrheitskanzler vorschlagen können, muß der Präsident das Wahlverfahren nach einer ausreichenden Frist in Bewegung setzen.
SPIEGEL: Und wenn bei unklaren Verhältnissen Neuwahlen der beste Ausweg wären, sollte sich der Bundestag selbst auflösen dürfen?
Herzog: Es sollte mit großen Vorsichtsmaßregeln - also nicht mit einfacher Mehrheit, sondern es müßte schon eine sehr breite Mehrheit geben - eine Selbstauflösung des Bundestags ermöglicht werden.
SPIEGEL: Sie haben sich trotz Bedenken für die Volkswahl des Bundespräsidenten ausgesprochen - mit der Maßgabe, dann auch seine Rechte zu erweitern. Woran denken Sie?
Herzog: Ich habe keine bestimmten Vorstellungen. Ich bin sehr skeptisch gegenüber der Diskussion, den Bundespräsidenten um jeden Preis vom Volk wählen zu lassen. Da müßte dann schon über ein gemischtes parlamentarisch-präsidiales System - wie es etwa die Franzosen oder die Amerikaner haben - gesprochen werden. Mit Randverzierungen ginge das nicht.
SPIEGEL: Als Bundespräsident könnten Sie es bald mit einem SPD-Kanzler zu tun haben. Was halten Sie von Rudolf Scharping?
Herzog: Ich halte ihn für einen interessanten Mann. Ich kenne ihn seit über 20 Jahren. Im Augenblick habe ich nicht zu entscheiden, wer von den in Frage kommenden Leuten der bessere ist. Aber ich habe zu Rudolf Scharping ein gutes Verhältnis.
SPIEGEL: Stimmen Sie Günter Verheugen zu, die Bundespräsidentenwahl ''94 sei keine Vorentscheidung über eine künftige Koalition?
Herzog: Ja. Es werden wahrscheinlich einzelne Wahlmänner oder Wahlfrauen die Parteigrenzen in beiden Richtungen überschreiten. Auch deshalb erwarte ich von der Präsidentenwahl kein Signal für die Regierungsbildung im Herbst.
SPIEGEL: Sie verbitten es sich, von Republikanern und PDS-Abgeordneten gewählt zu werden. Sie wollen so Johannes Rau das Leben schwermachen, der etwas Ähnliches nicht versprechen kann, weil er für seine Wahl wahrscheinlich PDS-Stimmen braucht.
Herzog: Ich habe auf Herrn Rau überhaupt nie abgezielt.
SPIEGEL: Das sollen wir glauben?
Herzog: Es ist Ihr gutes Recht, es nicht zu glauben. Ich möchte klare Verhältnisse, meine Wahl weder Rechts- noch Linksradikalen zu verdanken haben.
SPIEGEL: Es ist Ihnen egal, falls Rau die Wahl annimmt, obwohl die Stimmen der PDS für ihn ausschlaggebend wären?
Herzog: Ich würde das für einen Fehler halten.
SPIEGEL: Wenn sich eindeutig herausstellen sollte, daß Sie am 23. Mai im dritten Wahlgang nur mit Stimmen der Republikaner zum Bundespräsidenten gewählt worden sind, wollen Sie die Wahl nicht annehmen. Die Bundestagspräsidentin müßte ein zweites Mal die Bundesversammlung einberufen. Würden Sie dann erneut als Kandidat antreten?
Herzog: Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich dann noch mal zur Verfügung stünde.
SPIEGEL: Herr Herzog, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Y
Das Gespräch führten die Redakteure Dirk Koch und Rolf Lamprecht.