ASTRONOMIE / AMATEURE Den Sternen treu
(s. Titel)
Ernst Pfannenschmidt hatte die Geschichte mit dem Mars und dem Daily-Express-Reporter der Mabel Narjes erzählt. Die ist, weil sie auf dem Fahrrad einen Reitstock bei sich führt, als exzentrischste Frau Einbecks verschrien und darf jede Woche für drei DM Gesamthonorar für das Einbecker Lokalblatt schreiben.
Die überparteiliche »Welt« empfand Mabel Narjes' Lokalbericht ziemlich wortgetreu nach. Damit war der Grundstein zu Pfannenschmidts Einbecker Lokalruhm gelegt.
Bis dahin hatten die 19000 Seelen des niedersächsischen Kleinstädtchens nicht recht gewußt, was sie von dem jungen, hageren »Pfanne« halten sollten, der auf Aeußerlichkeiten so wenig Wert legt und in umgeschneiderter Wehrmachtsbluse, leicht ausgebeulter Hose, kleinem Wollmützchen und nicht immer rasiert zur stadtbekannten Erscheinung geworden war.
Nun erfuhren sie, durch einen Umweg über New Mexico und den Daily Expreß, was den Liebhaber-Astronomen Deutschlands und Europas schon seit Jahren bekannt war daß der junge Pfanne in Einbeck für die deutschen Amateur-Planetenforscher offiziell und für die des Kontinentes inoffiziell die Zentrale ist.
Pfanne selbst will von seinem neuen Ruhm nichts wissen. Ebensowenig wie seine Frau von den türklingelnden Bekannten ("Ach, wir haben ja gar nicht gewußt ..."). Er bezeichnet sich lieber als »Amateur-Astronom, wie alle anderen auch, die mit mir zusammenarbeiten«.
Das sind immerhin ein paar Hundert, seit er 1937 die Nase zum ersten Male in den Weltraum steckte. Es war ein junger Physiklehrer aus Cambridge, der den 15jährigen Deutschen Ernst Pfannenschmidt auf der New Yorker High School für die Astronomie gewann. Als der Vertrag des Vaters als Empfangschef im New Yorker Waldorf-Astoria-Hotel ablief und die Familie 1939 nach Hamburg zurückkehrte, lagen die Astronomie-Bücher im Reisegepäck des jungen Pfannenschmidt. Er blieb den Sternen treu.
Während er tagsüber als Volontär bei Blohm & Voß arbeitete - er wollte Schiffbau-Ingenieur werden - saß er abends im Hörsaal der Hamburger TH.
Bald war er an dem Punkt angelangt, den alle Sternfreunde erreichen: Der Wunsch nach einem eigenen Instrument wurde immer größer; für die praktische Astronomie ist es unerläßlich.
Wie die meisten Amateure konnte er sich kein fertiges Gerät kaufen. Sein Taschengeld reichte gerade noch für ungefaßte Linsen. Die setzte er in mühevoller Arbeit und nach langem Probieren in selbstgefertigte Rohre. Bald hatte er die ersten kleinen Linsenfernrohre (Refraktoren) fertig, einen Zwei- und einen Dreizöller. Das war der Anfang.
Jeder Amateur sucht sich ein Beobachtungsfeld aus, daß er systematisch unter die Linse nimmt. Pfanne entschied sich für etwas Naheliegendes. Er wählte die Planeten.
Nacht für Nacht zog der 18jährige mit seinen Instrumenten in den Hamburger Stadtpark, wegen der besseren Beobachtungsmöglichkeiten.
Zu dieser Zeit erlebte Hamburg die ersten nächtlichen Fliegerangriffe. Die Engländer suchten sich hauptsächlich Punktziele aus. Die Bevölkerung glaubte, daß Agenten ihnen diese Ziele durch Funk- oder Lichtsignale anzeigten.
Darum erschien es den Nachbarn auch bald verdächtig, daß der amerikanisch erzogene Pfanne sich über die Verdunklung freute und trotz Fliegeralarm nachts mit seinem Fernrohr und einem großen Dreibein in den Stadtpark stiefelte. Die Polizei wurde verständigt.
Als Pfannenschmidt eines Nachts spät mit seinen Geräten beladen aus dem Stadtpark nach Hause kam, wurde er von zwei bewaffneten Polizisten, einem SS-Mann und dem Luftschutzwart verhaftet. Nach handfester Behandlung, einigen Verhören und Nachforschungen stand schließlich für die Obrigkeit fest, daß Sternenfreund Pfannenschmidt kein feindlicher Agent war. Er bekam Erlaubnis, weiter zu beobachten. In der nächsten Nacht durften sich die beiden Polizisten, der SS-Mann und der Luftschutzwart durch Pfannes Kieker die Mars-Opposition betrachten.
Als Pfannenschmidt zur Kriegsmarine eingezogen wurde, schleppte er einen Teil seiner Instrumente und Bücher in einer großen Kiste mit. Als Funker an Bord eines Schnellbootes fand er noch immer Zeit, in den Fachbüchern zu büffeln und nach den Sternen zu sehen.
Bei den ersten Feindeinsätzen gab es dann Situationen, in denen Funker Pfanne seine astronomischen Kenntnisse praktisch anwenden konnte. So kam es vor, daß Funk und Kompaß durch Beschuß ausgefallen waren, der Horizont im Dunst verschwand und der Himmel fast vollständig bedeckt war. Eine derartige Wetterlage machte es für die Nautiker unmöglich, durch Anwendung des normalen Sextanten den Schiffsort zu ermitteln. Dann wurde Funker Pfannenschmidt auf die Brücke gerufen.
Er wartete, bis die Wolkendecke aufriß. Es brauchte nur ein einziger Stern sichtbar zu sein, den er identifizieren konnte. Den »schoß« er mit einem Libellensextanten an und bestimmte mit Hilfe seiner astronomischen Unterlagen nach zweistündiger Berechnung den genauen Schiffsstandort. Die Seeleute waren beeindruckt.
Nach Kriegsende managte sich Pfannenschmidt als Dolmetscher durch die POW-Läger nach Hause, zu seinen Eltern nach Einbeck. Es erging ihm, wie anderen Heimkehrern auch. Selbst seine astronomische Liebhaberei mußte er noch einmal von vorn aufbauen.
Als Dolmetscher fand er schnell Unterschlupf bei Military Government. Die alten Verbindungen waren auch bald wieder aufgefrischt.
Nur die Herstellung neuer Instrumente bereitete ihm Schwierigkeiten. Zur Planetenbeobachtung wollte er sich als erstes ein Spiegelfernrohr bauen. Wie die meisten Amateure, die sich ihre Instrumente selber bauen, war auch Pfannenschmidt notgedrungen ein guter Optiker und auf Spiegel-Optiken spezialisiert.
Aber es gab keine Materialien. Es gab kein Glas, keine Schleif- und Poliermittel. Auf dem schwarzen Markt organisierte Pfannenschmidt Fußbodenglas. Dann begann die nervenbeanspruchende Gedulds- und Fingerspitzenarbeit, die schon tausend andere Amateure vor ihm geleistet hatten. Durch methodisches Aufeinanderreihen zweier gleichgroßer, planparalleler Glasscheiben schliff Pfannenschmidt in wochenlanger Arbeit einen Konkav-Spiegel, fünf Zoll im Durchmesser. Als Unterlage benutzte er die Tortenplatte seiner Frau.
Tortenplatten haben sich in amateurastronomischen Kreisen für derartige Zwecke bestens bewährt. Aber je nach persönlicher Fähigkeit und Ueberzeugung schleifen die Liebhaber ihre Spiegel auch auf Grammophontellern, auf Fässern, Benzintonnen, auf dem Küchentisch oder einem umgestülpten, mit Zement gefüllten Blumentopf. Wieder andere bauen sich Schleifmaschinen. Der verstorbene amerikanische Spiegel-Amateur Ritchie aus Arizona benutzte zum Antrieb seiner selbstgebastelten Schleifmaschine ein Schaf von seiner Farm
Die optische Industrie schätzt die Fähigkeiten, die sich die Amateure durch jahrelange Präzisionsarbeit im eigenen Heim erwerben. Die optischen Erzeugnisse fähiger Amateure stehen den Produkten der feinoptischen Industrie nicht nach. Oftmals übertreffen die Amateure die Industrie sogar. Deswegen greift die Industrie auf sie nicht selten als letzte Reserve zurück und oft waren und sind die besten Optiker Amateure
Als während des letzten Krieges in den USA Spezial-Prismen für die Rüstungsproduktion benötigt wurden, konnte die Industrie den Auftrag nicht erfüllen. Die Amateure, die in den Staaten in den Amateur Telescope Makers organisiert sind, leisteten Hilfestellung. Ueber 28000 sogenannte Amici-Prismen wurden von ihnen mit der Hand geschliffen.
Die Konkav-Spiegel für ein Spiegel-Fernrohr (Reflektor) müssen auf einige Bruchteile einer Lichtwellenlänge, also einige zehntausendstel Millimeter genau sein. Abend für Abend saß Pfanne vor der Tortenplatte, schliff und prüfte mit einer Taschenlampe, einer Rasierklinge und einem Bleistift. Alte Gardinenstangen fanden als Okularhülsen neue Verwendung. Mit chinesischer Geduld entstand so sein erstes Spiegelfernrohr.
Mit dem 150 Pfund schweren Gerät und Dreibein konnte Pfanne, wenn das Wetter für Beobachtungen günstig war (in Mitteleuropa durchschnittlich 90 Tage im Jahr) zwanzig Minuten zu Fuß auf den Kirschberg ziehen Dort hatten er und seine Frau - Pfannenschmidt hatte inzwischen die schlesische Vertriebenentochter Magda geheiratet - für 10 DM im Jahr eine 300 qm große Parzelle gepachtet. Frau Magda baute darauf die Mohrrüben und den Kohl. In einer Ecke hatte Ehemann Ernst seinen abgetrennten Platz für das Fernrohr.
Was er nachts durch sein Spiegel-Fernrohr in 350facher Vergrößerung in einer halben Stunde am Himmel sah benötigte tagelange Auswertung. Er kam auf die Idee, seine Beobachtungsergebnisse regelmäßig den anderen Amateur-Astronomen zugänglich zu machen. Bald erschien sein eigenes hektographiertes monatliches Nachrichtenblatt: »Mitteilungen für Planetenbeobachter«. Pfanne tippte es selbst, auch die Illustrationen zeichnete er.
200 Exemplare verschickte er jeden Monat an die aktiven Beobachter, »die Jungens, die auch wirklich was tun«. 30 Pfennig Druckunkosten mußten die Amateure dafür an Pfanne überweisen. Für Magdas Haushaltskasse blieb davon nichts übrig.
Pfannenschmidts »Mitteilungen« machten ihn bekannt. Die deutschen Planetenbeobachter, auch die der russischen Zone, begannen, sich zwanglos unter Pfannenschmidts Leitung zu organisieren. Als 1947 die Planetensektion*) des neugegründeten »Bundes der Sternfreunde« aufgestellt wurde, bot der Direktor der Münchner Sternwarte, Prof. E. Schönberg, Pfanne in Einbeck die Leitung der Abteilung an. Pfannenschmidt, 25 Jahre alt, willigte ein. Sein möbliertes Zimmer (25 qm) in der Grimsehlstraße 18, wurde die Zentrale der 200 deutschen Planeten-Amateure.
Auch im Ausland sind die Amateure ebenso wie die berufsmäßigen Sternforscher organisiert. Die Verbindungen hatte Pfannenschmidt schon vorher gefestigt. Besonders mit dem Leiter des amerikanischen Gegenstückes zu seiner Planetensektion, Prof. Walter H. Haas von der Universität New Mexico, Leiter der Vereinigung der Mond- und Planetenbeobachter (ALPO), freundete er sich bald an. Auch Haas gab ein eigenes Blatt heraus, den »Strolling Astronomer«.
Die internationale Zusammenarbeit der Planetenforscher zwischen Albuquerque, New Mexico, und Pfannes möbliertem Zimmer in Einbeck hatte begonnen. Fachleute schalteten sich ein. Pfannenschmidt fand auch mehr Zeit, sich der Astronomie zu widmen: Mit der Währungsreform wurde der gelernte Schiffbautechniker arbeitslos. Er braucht jetzt nur noch alle 14 Tage donnerstags seine 52 DM Unterstützung vom Arbeitsamt abzuholen.
Während Frau Magda die Milch auf einem primitiven Herd kocht, die beiden Kleinen lärmen oder trocken gelegt werden müssen, sitzt Pfanne in seiner Ecke der 25 qm und erledigt auf einer geliehenen Schreibmaschine die fünf bis zehn Briefe, die ihm der Einbecker Postbote jeden Tag in die Grimsehlstraße trägt.
Pfannenschmidts Adresse ist den Forschern in Brasilien ebenso bekannt wie denen in Indien, Amerika oder Südafrika. Ueber Einbeck tauschen sie ihre neuesten Beobachtungsergebnisse aus. So kommt trotz Schlechtwetterperioden, die den einzelnen Sternforschern eine lückenlose Beobachtung unmöglich machen, über Pfanne eine Kontinuität in den Aufzeichnungen zustande. Für die Lenkung der Arbeitsmethode ist Pfanne auch verantwortlich.
Wenn er in sternklaren Nächten um 2 Uhr morgens aufsteht und gegen 5 Uhr durchfroren zurückkommt, hat seine Frau dafür so viel Verständnis, »wie man es
*) Die astronomischen Gesellschaften sind in folgende Sektionen unterteilt: Planeten, Sonne, Kometen, Neue Sterne (Novae) und veränderliche Sterne (Sterne mit veränderlicher Lichtintensität). eben von einer Frau erwarten kann«. Die Einbecker wurden seine regelmäßige Nachttätigkeit nicht gewahr; mit einer Ausnahme gehen sie regelmäßig um 9 Uhr abends schlafen.
Die Ausnahme ist 19 Jahre alt, heißt Adolf Lütke und ist von Pfannenschmidt für die Astronomie begeistert worden. Oft hilft er beim Bau neuer Instrumente. Pfanne hat es inzwischen zu einer stattlichen Anzahl gebracht: einem 6 Zoll-Linsenfernrohr, einem 5 Zoll-Spiegelfernrohr und zwei fotografischen Fernrohren (Astrographen). Bis auf die fotografischen Optiken alles selbst gebastelt. Vorkriegswert: 6000 bis 8000 Mark.
Adolf Lütke geht auch mit auf den Kirschberg und hilft bei den Beobachtungen, den Notizen, Zeichnungen und Fotos für Pfannenschmidts selbstgestellten Arbeitsplan. Dazu gehört die generelle Ueberwachung der Planeten. Ein Planeten-»Tagebuch« wird geführt, Veränderungen der Oberflächen werden festgestellt. Ferner folgende Probleme:
* Umdrehungszeit und Achsenlage der Venus (beides noch immer unbekannt). Höhe der Venusatmosphäre und deren optische Eigenschaften. (Daraus kann unter Umständen auf die physikalische Beschaffenheit der Venusatmosphäre geschlossen werden.)
* Beobachtungen der jahreszeitlichen Veränderungen auf der Marsoberfläche und Mars-Meteorologie.
* Jupiter und Saturn: Beobachtung der Bewegungsverhältnisse in der Atmosphäre, Umdrehungszeiten sowie Beschaffenheit der Saturnringe.
Für einen Planeten hat Pfannenschmidt eine besondere Schwäche. »Ich bin einfach in Mars verliebt«, gesteht er. Mars war es auch, der seinen Namen durch die englische Presse gehen ließ.
Am 16. Januar hatte der japanische Astronom Tsuneo Saheki aus Osaka eine riesige Wolkenbildung von 1500 km Länge und 100 km Höhe auf dem Mars beobachtet. Die Meldung löste in der amerikanischen Presse die tollsten Vermutungen aus. Die Dunstwolke wurde von Nichtfachleuten als Atomexplosion gedeutet und neue Kombinationen über Lebewesen auf dem Mars kursierten.
Prof. Haas war anderer Ansicht. Er erklärte die Erscheinung als riesige Zirruswolke aus Eiskristallen.
Der Londoner »Daily Express« wollte mehr wissen und kabelte nach New Mexico. Haas verwies an Ernst Pfannenschmidt, Einbeck, Germany. Als der Berliner »Daily-Express«-Reporter, Mr. Selkirk-Panton, nach mancherlei Irrwegen schließlich bis in Pfannes Sofaecke vorgedrungen war und die Verblüffung über seine visuellen Eindrücke überwunden hatte, konnte auch Ernst Pfannenschmidt ihm an Hand von Zeichnungen und Beobachtungsergebnissen nur bestätigen, daß es sich um eine für den Mars nicht ungewöhnliche Erscheinung handelte.
An seiner finanziellen Lage änderte das kurze Gastspiel als interviewte und zitierte Autorität nichts. Nachdem er mit Adolf Lütke in wochenlanger Arbeit Stampfbeton als Fundament für sein geplantes Privatobservatorium in den Boden seiner Parzelle getrieben hat, fehlen ihm noch immer die 100 DM für die abrollbare Schutzhütte.
Wenn Ernst Pfannenschmidt nicht bald eine Stellung gefunden hat - er hofft in der optischen Industrie unterzukommen, denn in der Astronomie sieht es selbst für Fachleute finster aus - , wird er auch nicht nach Bonn fahren können. Dort wollen sich die einzelnen Sektionen des »Bundes der Sternfreunde« in wenigen Wochen endgültig zusammenschließen.