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»Denken mit dem eigenen Gehirn«

aus DER SPIEGEL 30/1976

Der junge Mann hockt im Rinnstein und schlägt mit dem Fuß den Takt zur Musik aus seinem Transistorradio. Zu karibischem Marimbaklang schmeichelt eine Männerstimme auf spanisch: »De Cuba traigo un cantar« -- »Aus Kuba bringe ich ein Lied ... ein Lied von einem neuen Leben und einem schöneren Traum«.

Die Verheißung vom neuen Leben trifft auf eine triste Wirklichkeit. Denn rund um den jungen Mann mit dem Radio türmten sich Kleiderbündel, Pappkartons« Kisten, notdürftig mit Bindfäden verschnürte Koffer -- die armselige Habe von ein paar Dutzend Afrikanern, die seit Stunden vor dem Büro der angolanischen Flüchtlingshilfsorganisation zu Luanda ausharren. Sie warten darauf, mit Lastwagen in eine neue Bleibe transportiert zu werden, Vertriebene jenes bitteren Bürgerkriegs. der Angolas erste Schritte in die Unabhängigkeit begleitet hat.

Soldaten aus Kuba vor allem haben der heute regierenden angolanischen Unabhängigkeitsbewegung MPLA geholfen, diesen Krieg zu gewinnen -- gegen die rivalisierenden Organisationen FNLA und Unita. die durch Südafrika, Zaire, die USA und ein zusammengewürfeltes weißes Söldnerheer unterstützt wurden.

Offiziell ist der Krieg seit über einem Vierteljahr zu Ende, doch die Helfer aus Kuba sind noch da. Denn die Wunden, die der Krieg schlug -- und die Verstümmelungen, die 500 Jahre Kolonialherrschaft hinterließen -, lähmen Afrikas jüngste Nation noch immer so sehr, daß sie ohne fremde Hilfe wohl kaum zu leben vermöchte.

Als zum Beispiel Ende Februar die geschlagene Unita aus ihrer Provinzhauptstadt Huambo (früher: Nova Lisboa) abzog, gab es dort außer einer Rot-Kreuz-Mission nur einen einzigen angolanischen Arzt. Heute garantiert ein kubanisches Ärzteteam der Bevölkerung kostenlose medizinische Versorgung. Und obwohl nach dem Exodus der Portugiesen nur eine Handvoll angolanischer Mediziner im Land verblieben, gibt es jetzt ungefähr wieder so viel Ärzte wie während der Kolonialzeit, also etwa 200 bis 300 -- die meisten von ihnen Kubaner.

Auch auf andere Weise versuchen Castros Abgesandte, die Lebensadern des riesigen Landes -- Angola ist fünfmal so groß wie die Bundesrepublik -- wieder in Gang zu bringen: Brückenbauingenieure aus Kuba sollen die Brücken reparieren, die während des Krieges gesprengt wurden -- mehr als hundert insgesamt.

Ein Jahr etwa, so schätzt der Brückenbauer Ricardo García aus Kuba, wird er in Angola zu tun haben, »aber wenn es nötig ist, bleibe ich länger, denn ich fühle mich wohl hier« -- Garcias Vorfahren stammen aus Afrika.

Garcia kam nicht als Soldat, sondern erst, nachdem der Bürgerkrieg schon beendet war. Wie viele der kubanischen Militärs Angola tatsächlich verlassen haben, seit Fidel Castro im Mai einen Truppenrückzug von 200 Mann pro Woche ankündigte, ist in Luanda in Zahlen nicht zu erfahren, ebensowenig, wie viele kubanische Militärs lediglich demobilisiert wurden und wie viele Zivilisten, wie Garcia, erst kürzlich in die Volksrepublik einreisten.

Zahlen nannte selbst Castro nicht, als er vergangenen Monat in Havanna über hundert Heimkehrer jener Sondereinheit begrüßte, die im November als erste reguläre Truppe nach Angola geschickt worden war. »Wir werden den Umfang unseres militärischen Personals verringern und die Anzahl der Zivilisten erhöhen«, verkündete er kryptisch, »aber die Anzahl der Zivilisten wird viel geringer sein als die Gesamtzahl der Kämpfer, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in Angola waren.«

Dennoch steht für den angolanischen Journalisten Sebastiao Coelho fest, daß »Kubas Opfer für Angola ein wirkliches Opfer« ist: Auf einigen Schlüsselsektoren, so schätzt Coelho. habe Kuba »praktisch die Hälfte seiner eigenen Kader« nach Angola geschickt.

So unterwiesen zum Beispiel kubanische Fachleute, nachdem sämtliche Techniker des Fernsehsenders von Luanda sich nach Portugal abgesetzt hatten. Angolaner erstmals in TV-Technik -- inzwischen sendet die TV Angola immerhin jeden Abend, wenn auch nur ungefähr eine Stunde lang.

Kubanische Vorarbeiter schaffen in Industrieunternehmen wie der Textilfabrik Textangol, aber auch im Hafen von Luanda. Kubanische Fischerei-Spezialisten sollen die von den Portugiesen zurückgelassene Fischfangflotte in der Bucht von Luanda wieder flottmachen, kubanische Automechaniker die auf etwa ein Fünftel des ursprünglichen Bestandes zusammengeschrumpfte Lastwagen-Armada wieder zum Rollen bringen. Castros Ausbilder drillen die Streitkräfte ("Fapla") der jungen Volksrepublik. trainieren den neugeschaffenen Sicherheitsdienst und legen Hand an bei der Reform des Gefängniswesens.

Und mit der gleichen Verve, mit der ei Máximo Lider Fidel alljährlich seine Insel in die »Schlacht der Zuckerernte« führt, stürzt die MPLA-Regierung sich, assistiert von Castros Agronomen, in die »Erste Ernte des Volkes": »Jetzt«, so machte die Tageszeitung »Jornal de Angola« mobil, »gilt es, auch noch die Kaffeeschlacht. die Zuckerschlacht. die Erdölschlacht und die Diamantenschlacht zu schlagen.«

Der Kaffee, der vor allem in den drei Provinzen Kuanza-Sul, Kuanza-Norte und Uige angebaut wird, bringt weit weniger Devisen ein als Erdöl (80 Prozent der Devisen) und Diamanten, doch beschäftigt die Kaffeeproduktion erheblich mehr Arbeitskräfte. »Wir können sagen«, so Premierminister Lopo do Nascimento, »wenn es mit dem Kaffee in diesen drei Provinzen gutgeht. dann geht fast alles andere auch gut. Wenn der Kaffee in der Krise steckt, wird alles in Mitleidenschaft gezogen«

Die Kaffeekrise aber ist, allen Anstrengungen zum Trotz. beinah schon abzusehen: Die meisten jener rund 2500 weißen Siedler, die während der Kolonialzeit drei Viertel der gesamten Kaffeeproduktion besorgten, sind geflohen, haben ihre Pflanzungen im Stich gelassen -- »und kein Mensch hat uns je gezeigt«, so der Premier. »wie die geleitet werden müssen«.

Zudem bleiben in diesem Jahr viele der traditionellen Wanderarbeiter aus dem Süden fort, die zum Stamm der Ovimbundus gehören und großenteils mit der geschlagenen Unita sympathisierten. Um die für die Ernte benötigten 170 000 Arbeiter zusammenzubekommen, schafft die Regierung Arbeitslose und Häftlinge zum Zwangseinsatz in die Kaffeeplantagen -- wegen der schlechten Transportverbindungen nur unter Schwierigkeiten.

»Wir müssen uns kopfüber da hineinstürzen«, erkannte der Premier, »und die Fehler begehen, die nun mal nicht zu vermeiden sind, und danach mussen wir die Bilanz unserer Irrtümer ziehen und versuchen, es das nächste Mal besser zu machen.«

Diese Portion Pragmatismus prägt allgemein, trotz aller sozialistischen Bekenntnisse, die Politik der Partisanen von einst: Wenn auch Kuba und die anderen sozialistischen Länder die bevorzugten Partner sind, so schürft doch die US-Firma Gulf Oil in Cabinda wie einst nach Öl, bildet das amerikanische Luftfahrtunternehmen Boeing angolanisches Flugpersonal aus.

Die mit südafrikanischer Beteiligung im Lande arbeitende Diamang subventioniert der angolanische Staat gar mit monatlich annähernd vier Millionen Mark, um die 10 000 Arbeitsplätze zu erhalten. Den Straßenbau will die MPLA-Regierung mit italienischer Hilfe vorantreiben, und mit der bundesdeutschen Firma Telefunken verhandelte sie über den Aufbau des Telephon- und Telexnetzes.

Ebenso pragmatisch arrangierte sich bislang die MPLA mit jener Macht, die eine der stärksten Stützen des alten Kolonialregimes war -- mit der Kirche:

Radio Ecclesia, der katholische Rundfunksender von Luanda, überträgt noch immer jeden Sonntag die heilige Messe. Doch neben Chorälen sendet er nun auch. die Internationale und nennt sich »die Stimme der Kirche im Dienste des Volkes«.

Durchaus im Sinn der Regierung betreibt der Kirchenfunk Aufklärungskampagnen -- etwa gegen die Trunksucht, die seit der Unabhängigkeit zugenommen hat. »Gestern sagte man, die Leute betrinken sich, um die Ungerechtigkeit der Kolonialherrschaft zu vergessen«, mahnte unlängst Radio Ecclesia. »Aber heute? Unabhängigkeit bedeutet zwar Freiheit, aber nicht Freiheit im Alkoholmißbrauch.«

Die vielfältigen Gefahren der neuen Freiheit, auch in den eigenen Reihen, leugnen verantwortliche MPLA-Führer nicht. So gab Verteidigungsminister lko Carreira zu, daß innerhalb der Streitkräfte ein »gewisser Hang zum Anarchismus« sich breitgemacht habe. Denn viele der jungen Soldaten in der Fapla sind Halbwüchsige aus den Slums, die während des Krieges gegen Unita und FNLA für die MPLA gekämpft hatten, ohne jemals vorher irgendeine Art von Disziplin oder Schulung erfahren zu haben.

Folglich kommt es gelegentlich zu Übergriffen gegen Zivilisten, aber auch zu Rivalitäten gegenüber der Ordnungsmacht Polizei: Als vor einiger Zeit auf einer belebten Straßenkreuzung in Luanda ein weiblicher Verkehrspolizist einem Militärfahrzeug das Haltesignal gab, sprang ein Fapla-Mann aus dem Wagen, ohrfeigte die Polizistin, schrie »Eine Frau will mir befehlen?!« und brauste davon.

Gefährlicher könnten jene ersten Keime eines schwarzen Rassismus werden, die hier und da aufbrachen -- etwa auf einer Kaffeefarm in Kalulu. wo schwarze Arbeiter ihre Vorarbeiter verjagten, weil die Mischlinge waren.

In der MPLA selbst, zu deren Führungsschicht viele Mischlinge zählen, tritt angeblich der schwarze Innenminister Nito Alves für einen schwarzen, radikalen Nationalismus ein -- verbunden mit einer möglichst engen Anlehnung an die Sowjet-Union.

Staatspräsident Agostinho Neto jedoch, selbst mit einer weißen Portugiesin verheiratet, verficht mit Leidenschaft und Entschiedenheit jenes Ideal einer vielrassigen Gesellschaft, das die MPLA im Gegensatz zu FNLA und Unita von Anfang an propagierte.

»Wer schwarz ist, muß nicht unbedingt ein Revolutionär sein«, wies Neto die Black-Power-Apostel in die Schranken. Wer weiß sei, müsse deshalb nicht gleich ein Imperialist sein, wer Mischling sei, kein Opportunist. »Die Macht des Volkes«, steht an Häuserwänden, »ist nicht die Macht der Schwarzen, sondern der Unterdrückten.«

Auch die Kubaner, selbst ein Volk gemischter Rasse, machen offenbar all ihren Einfluß geltend, um schwarzen Radikalismus rechtzeitig zu kappen -- doch wie weit ihr Einfluß tatsächlich reicht, ist schwer abzuschätzen. Beim Prozeßt gegen die weißen Söldner im vergangenen Monat sollen die kubanischen Genossen, so berichtete ein hoher MPLA-Funktionär dem SPIEGEL, gegen die Todesstrafe gewesen sein. Dennoch wurden vier der Angeklagten exekutiert.

Daß sie ihre eigenen Entscheidungen treffen und ihren eigenen Weg gehen will -- trotz aller äußeren Abhängigkeit -, beteuert die MPLA-Führung immer wieder.« Es ist vollkommen unsinnig anzunehmen«, so Neto, »daß wir uns unsere Politik von außen diktieren lassen.«

Hintersinnig druckte kürzlich das »Jornal de Angola« eine Castro-Rede aus dem Jahre 1966 ab, in der es unter anderem heißt: »Wer »nicht anderer Leute Irrtümer begehen will, muß in der Lage sein, mit seinem eigenen Gehirn zu denken«, und: »Wir respektieren die Denkweise der anderen: Soll jeder seinen Sozialismus oder seinen Kommunismus so aufbauen, wie es ihm am besten erscheint.«

Ob es der MPLA gelingen wird, tatsächlich ihren eigenen Weg zu finden, wird erst die Zukunft beweisen, Die Wahlen für die »Stadtviertel-Versammlungen« in Luanda vergangenen Monat jedenfalls zeigten den eigenen Stil der MPLA:

Bei einer der Kandidatenvorstellungen im Arbeiterviertel Bairro do Operario präsentierte ein MPLA-Funktionär den versammelten Anwohnern jeden der Kandidaten mit der stereotypen Schlußfrage: »Habt ihr etwas gegen diesen Kandidaten einzuwenden, hat er mit unseren Feinden zusammengearbeitet?«

Worauf alle Anwesenden mit großer Begeisterung »nein« schrien -- bis ein anderer MPLA-Funktionär einwandte: »Genosse, ich glaube, so wie wir das machen, ist das nicht richtig. Viele Leute hier kennen doch die Kandidaten kaum, woher sollen sie also wissen, ob sie etwas einzuwenden haben?«

»Das stimmt«, riefen nun die Versammelten -- und man einigte sich darauf, daß jeder, der interessiert sei, noch bis zum Tag vor der Wahl bei der Wahlkommission Auskünfte über die künftigen Volksvertreter einholen und Einspruch erheben könne.

Doch noch hat die MPLA nicht das ganze Land hinter sich, noch haben die Gegner von gestern, Unita und FNLA. nicht aufgegeben:

Am vorletzten Wochenende traf in Lissabon ein Kurier mit einem persönlichen Schreiben des Unita-Führers Jonas Savimbi aus der Region Cangumbe, westlich der angolanischen Stadt Luso, ein. Darin behauptete der Guerillachef, seine Partisanen hätten allein im Mai sieben Hinterhalte gelegt, drei Überfälle auf Städte verübt, zwei Züge entgleisen lassen und Minen gelegt. Sie zählten 37 Tote der MPLA und ihrer kubanischen Waffenbrüder.

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