»Depression ist Wut, Wut gegen sich selbst«
Im großen und ganzen waren die fast 300 Bundesbürger, die sich in der letzten Woche das Leben genommen haben, ordentliche Leute.
Die Männer galten als korrekt und loyal, fleißig im Beruf, gelobt wegen ihrer nimmermüden Art, Pflicht und Verantwortung zu tragen. Den Frauen wird nachgesagt, sie seien anhänglich und sauber gewesen, der Kirche und den Konventionen treu ergeben.
Anders war es bei den Kindern: Sie trieb sichtbares Versagen -- in der Schule und nach den Normen der Erwachsenen -- erst in die Depression, dann in den Tod.
Unter den Selbstmördern wurden, wie jede Woche, mehr Männer als Frauen gezählt, mehr Großstädter als Landleute, mehr Protestanten als Katholiken, unverhältnismäßig viele Akademiker, Arbeitslose und Berliner.
Nur 1946, in schwerer Nachkriegszeit, haben sieh mehr Deutsche umgebracht als gegenwärtig.
Dabei werden derzeit schon neun von zehn bewußtlosen Selbstmord-Patienten gerettet, jedenfalls fürs erste. Notarztwagen und Intensivstationen holen auch Halbtote wieder ins Leben zurück -- und in die Gemütskrankheit. Denn die steigende Zahl der Selbstmörder signalisiert wie ein Indikator die stete, offenbar nicht einzudämmende Ausbreitung eines lebensgefährlichen Leidens -- der Depression.
Was der Wurmbefall im Altertum und im Mittelalter die apokalyptischen Seuchen, Pocken, Pest und Cholera, waren, das ist jetzt, sagt der Landarzt und Medizinhistoriker Paul Lüth, die traurige Verstimmung -- »Depression ist die Krankheit der Epoche«.
Zwei, womöglich gar drei Millionen Bundesbürger leiden an behandlungsbedürftigen Depressionen. Angesichts dieser riesigen Heerschar kranker Seelen erscheint das verlorene Häuflein der 13 920 Selbstmörder (1977) als relativ kleine Gruppe. Denn vom Tod durch eigene Hand bedroht ist jeder Depressive. Der Suizid ist das eigentliche Risiko der Depression -- und gleichzeitig ihre radikale Lösung: der Tod als Arzt.
Für den Einsamen, der »in gänzlicher Verlassenheit, im Bewußtsein des Nichts«, wie der Philosoph und gelernte Psychiater Karl Jaspers formulierte, unfähig ist, den »Kampf mit sich und der Welt fortzuführen«, sei es ein »tröstlicher Gedanke«, sich das Leben nehmen zu können. Jaspers: »Dem Einsamen ist der freiwillige Untergang wie eine Heimkehr zu sich selbst.«
Nur: Kaum ein Selbstmörder nimmt sich, wie es Jaspers vorschwebte, das Leben »ohne Trotz, in Ruhe und Reife«. Die meisten gehen in den Tod, gepeinigt von der Depression, die der Baseler Suizidforscher Professor Paul Kielholz die »qualvollste aller Krankheiten« nennt.
Wer »den Freitod wählt«, der ist meist weder frei noch hat er die Wahl. Gewöhnlich ist er ein geschundenes Opfer seiner verhängnisvollen Gemütskrankheit, sich selbst im Todeswunsch ein Fremder.
Depressionen sind inzwischen zehnmal so häufig wie die gefürchtete Schizophrenie, das klassische »Irresein«. Doch man sieht die bösartige Krankheit dem Patienten kaum an -- und so werden vier von fünf Depressionen nicht einmal vom Arzt diagnostiziert. Die traurige Verstimmung tarnt sich unter tausend Masken.
Vor allem aber: Selbst der Betroffene erkennt oft nicht, was ihm widerfährt. Todtraurig, vielleicht schon sterbenskrank, hält er vor sich und den anderen mit letzter Kraft die Fassade aufrecht. Von solchen Depressiven heißt es in den Todesanzeigen, sie seien »unerwartet von uns gegangen«.
Mindestens 150 Millionen Menschen, so hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) unlängst gemeldet. sind an Depression erkrankt. Und wer noch nicht depressiv ist, der muß befürchten, es irgendwann zu werden. Für den deutschen Durchschnittsbürger haben die Medizinstatistiker ein Risiko von rund 20 Prozent errechnet -- jeder fünfte wird einen depressiven Schub erleben, jeder fünfzigste daran sterben. Damit ist die geheimnisvolle Gemütskrankheit häufiger und gefährlicher als Tuberkulose, Syphilis und Rauschgiftsucht zusammen.
Dem bösen Ende, oft weit vor der Zeit, geht schweres Leid voraus. Die Krankheit Depression ist mit der Metapher »traurige Verstimmung« nur unzureichend beschrieben. Wer schwermütig wird, der verliert nicht nur Energie, Interesse und Lebensfreude. Seiner depressiven Grundstimmung -- als »traurig-ängstlich«, »mürrisch-reizbar« oder »apathisch« qualifiziert -- pfropfen sich stets weitere Symptome auf, allesamt schwer zu ertragen.
Da ist die »Denkhemmung« mit ihrer Einfallsarmut, dem langsamen Kreisen der Gedanken um die immer gleichen depressiven Inhalte. Die Fähigkeit zur Assoziation ist beeinträchtigt, ein Gefühl der inneren Leere macht sich breit. Zu Angst und Unruhe, manchmal sogar einem »Gefühl der Gefühllosigkeit«, tritt die gefürchtete Unfähigkeit, neue Ziele auch nur ins Auge zu fassen. Wie unter Zwang denken 70 Prozent der Depressiven immer wieder an den Suizid. Das hält der Kopf kaum aus.
Zudem zieht ein gemütskranker Kopf stets auch den Körper in Mitleidenschaft. Meist werden die Bewegungen langsam und kraftlos, der schlaffe Leib ist vornübergebeugt, die Stimme leise und monoton.
Aber es gibt, fast ebenso häufig, auch eine »depressive Agitiertheit«. Dann treiben motorische Unruhe und ein leerer Beschäftigungsdrang den Kranken umher, sich und anderen zur Qual.
Viele Patienten verschwenden ihren letzten Rest an Energie darauf, den depressiven Zustand vor der Umgebung zu verbergen. Schwermut gilt als Schande, als komplettes Versagen. Um wenigstens hin und wieder aus tiefster Psycho-Not ein Signal zu setzen, »larviert« der Kranke. Dutzende funktioneller Beschwerden und Störungen werden zur Fassade, wobei das »traurige Herabgestimmtsein« (so der Mainzer Psychiatrie-Professor Johann Glatzel) »weitgehend fehlt oder wenigstens nicht auf den ersten Blick erkennbar ist« -- auch dem Kranken nicht.
Kaum ein Symptom, das der Depression nicht als Maske dienen könnte: Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Kopfschmerzen, Ischias, Herzklopfen, Atemnot, Durchfall oder Verstopfung, Ausfluß, Impotenz, Frigidität -- die Liste ist lang. Für den Seelenarzt Glatzel sind die funktionellen Beschwerden, in deren Verkleidung die Depression auftritt, »theoretisch« sogar »unendlich vielfältig«.
Wer an einer larvierten Depression leidet, der klagt seinem Arzt neben den körperlichen Beschwerden meist spontan Reizbarkeit, Arbeitsunlust, Schlafstörungen, Müdigkeit und Appetitverlust. Er verschweigt, jedenfalls zunächst, Schuldgefühle und Hoffnungslosigkeit, seinen Selbsthaß, das Weinen und die Selbstmordideen. So wird, sagt Landarzt Lüth, »immer die diagnostische Mühle der Organpathologie in Betrieb gesetzt«.
Rickeracke mit Geknacke wird geröntgt, bestrahlt, durchleuchtet, werden Blut und Urin analysiert, das Innerste nach außen gekehrt. Die larvierte Depression bleibt unsichtbar. Mangels geeigneter biochemischer Tests kommt man ihr nur »per exclusionem«, durch Ausschluß aller anderen Leiden, auf die Spur. Lüth: »Für den herkömmlich ausgebildeten, also psychologisch wie psychiatrisch ungeschulten Arzt, gleich welcher Fachgruppe, bietet die Depression erhebliche Irritationen.«
Für die Psychiater freilich auch. Noch immer sind die Seelenkundler uneins, wie man die Depression überhaupt einteilen solle. Der Basler Ordinarius Kielholz, Präsident des »Internationalen Komitees für Prophylaxe und Therapie der Depression«, plädiert für eine Dreiteilung, die indes durch eine facettenreiche Ziselierung den vielen Unterformen gerecht werden soll:
* Körperlich begründbare Depressionen sind danach entweder »organisch«, durch hirnstrukturelle Veränderungen bedingt oder der Ausdruck körperlicher Krankheiten, etwa einer Kreislaufschwäche ("symptomatisch"). Sie stellen sich jedoch auch in der Entziehungsphase bei Alkoholikern ein oder sind die Folge der Dauerverordnung von reserpinhaltigen Blutdrucksenkern, Nebennierenrindenpräparaten ("Kortikoiden") oder der Antibabypille -- solche Traurigkeit nennt man »pharmakogene Depression«.
* Die »endogenen« Depressionen kommen hingegen »von innen heraus«, wobei der Gehirnstoffwechsel gestört ist. Es soll sich um »vererbbare Leiden mit großer Durchschlagskraft« (Kielholz) handeln, deren Erbgang indes noch unbekannt ist. Sofern das Gemütsleiden ("Psychose") phasenhaft ("zyklisch") zwischen der depressiven Stimmung des »Zu-Tode-betrübt« und einem »himmelhoch-jauchzenden« Glücksgefühl pendelt, spricht man von »manisch-depressivem Irresein
* »Psychogene« Depressionen heißt der große Rest: Hierzu zählen erstens die »neurotische« Depression, bedingt durch verdrängte seelische Konflikte in der frühen Kindheit und durch ein aktuelles Psycho-Drama ausgelöst; zweitens die »Erschöpfungs«-Depression, das traurige Ergebnis einer lang anhaltenden körperlichen und seelischen Überlastung; drittens schließlich die »reaktive« Depression, provoziert durch ein schmerzliches Ereignis, etwa den Tod des einzigen Kindes.
Weil in der Seelenheilkunde nahezu jeder Professor an einem eigenen Lehrgebäude, seiner »Schule«, bastelt, wird die Kielholzsche Dreiteilung von den anderen Experten bestenfalls als Gerüst akzeptiert. Dachkammern im Lehrgebäude baut jeder Psychiater nach eigenem Gutdünken aus.
So schärft etwa der Münchner Nervenarzt Professor Heinz Dietrich seinen Studenten als »letzte Hilfe fürs Examen« die »anankastische Depression« ein, Stichwort: »Furcht vor filiziden Impulsen (Aichmophobie)«. Nicht einmal mit Hilfe des berühmten »Klinischen Wörterbuchs« von Pschyrembel kommt der Prüfungskandidat dahinter, welcher Trübsinn damit wohl gemeint sein könnte -- die zwanghafte Angst endogen depressiver Frauen nämlich, die eigenen Kinder zu töten.
Während der »biologischen Krisenzeiten« -- dazu rechnen die Mediziner Pubertät, Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett, aber auch Wechseljahre und Menstruation -- sind Depressionen ohnehin häufiger. So klagt jede zweite Frau in den Tagen vor der Blutung über eine »reizbar-depressive Verstimmung«, oft kombiniert mit Spannungsgefühlen, Rückenschmerzen, Kopfdruck, großem Durst und Wassereinlagerung im Zellgewebe. Solchen Frauen, selbst den raffiniert geschminkten, sieht man die Verstimmung im Gesicht an.
Diese psychische Störung, von den Frauenzeitschriften gern »der Grauschleier« genannt, lichtet sich meist von allein. Das hängt, lehrt Psychiater Professor Paul Kielholz, mit den Hormonen zusammen -- womöglich hat die Frau während der depressiven Stunden zuwenig Gelbkörperhormon, womöglich falsch gemischte Wirkstoffe der Hirnanhangdrüse oder zuviel Ostrogen im Blut.
Sonst aber verbergen die Psychiater hinter der Nebelwand komplizierter Kunstwörter offenbar ein gut Teil Ratlosigkeit. Sehr mühsam, so scheint es, tastet sich die Seelenheilkunde von den größeren zu den kleineren Irrtümern vor.
So ist erst seit kurzem unumstritten, daß jegliche Depression »larviert« auftreten kann, ein Umstand, der bis vor ein paar Jahren kaum einem Gelehrten aufgefallen war. Nun aber sichten alle Experten den »Panoramawandel« der Depression, die chamäleonhafte Natur der Schwermut.
Statt der melancholischen Psycho-Symptome »produzierten« die Depressiven immer häufiger solche Körperstörungen wie Kopfschmerzen oder Reklemmungsgefühle, und das auf Dauer. »Dieser Wandel im Erscheinungsbild der Depression«, erläuterte das Fachblatt »Medical Tribune« seinen Lesern, sei »wohl vor allem auf die Gegebenheiten unserer heutigen Lebensführung zurückzuführen«. Nur welcher Gegebenheiten? Und warum schaden diese nicht jedermann in gleicher Weise?
Die Fraktion der eher naturwissenschaftlich orientierten Psycho-Forscher klagt -- auf der Suche nach Antworten -- darüber, daß nicht einmal verläßliche Zahlen über Art und Ausmaß der rätselvollen Epidemie vorliegen. Psychiater Kielholz: »Trauen Sie keiner Statistik, die Sie nicht selbst gefälscht haben!«
Wer die Erkenntnis von den Psychoanalytikern erwartet, wird wie eh und je einem schillernden Potpourri von Meinungen konfrontiert. Treue Jünger Sigmund Freuds« ganz offiziell »Orthodoxe« genannt, schwören auf den Wiener Altmeister und seine Deutung. Der Entdecker des Unbewußten war selbst mehrmals von larvierten Depressionen heimgesucht worden. Seiner Braut Martha hatte der schöne Sigismund Freud schon 1884 das Rauschgift Kokain als Aufheller empfohlen. Er selbst kokste einige Jahre lang, um seiner Schwermut Flügel zu machen.
Was es mit den Depressionen wirklich auf sich habe, fand der Traumdeuter jedoch erst 30 Jahre später heraus, während des Ersten Weltkriegs. Danach hat jeder Melancholiker in seinen frühen Lebensjahren einen Verlust erlitten, auf den er so reagiert, als habe er nicht sein Liebesobjekt, sondern sich selbst verloren.
Wiederholt sich irgendwann im Leben eine Situation, die dieser frühkindlichen Enttäuschung ähnelt, gleitet das Zentrum des Bewußtseins, das »Ich«, in tiefe Melancholie. Freud dunkel: »Der Schatten des Objekts fällt auf das Ich.«
Heutzutage kann man sich die Trübsal jedoch auch einfacher, womöglich zutreffender ausdeuten lassen. So vertritt Martha Eicke-Spengler, Psychoanalytikerin in Zürich, die Ansicht, es gebe eine Menge Leute -- »depressiv Disponierte« -, die nur über eingeschränkte Anpassungsfähigkeiten an belastende Lebensumstände verfügten.
Solche Menschen erlebten jede Enttäuschung und jeden Konflikt als »Frustration«, schlimmer noch: »als Verlust«. Die krankhafte Reaktion auf diesen Verlust sei die Depression, die normale hingegen »Trauerarbeit«. Nur Trauer, nicht Depression löse die seelische Bindung zum ohnehin verlorenen Objekt, schütze mithin die geistige Gesundheit.
Die Mehrheit der Ärzte steht solchen psychoanalytischen Gedankenspielen eher reserviert gegenüber. Auch in Wien hat Freud kaum eine Chance. Dort lehrt der Neurologe Professor Walther Birkmayer, genannt »Nervenpapst«, von keinem Zweifel angekränkelt: »Die gestörte Persönlichkeit resultiert aus dem gestörten menschlichen Chemiehaushalt.«
Beweis: Im Hirnstamm verstorbener Depressiver fand Chefarzt Birkmayer die »biogenen Amine« auffällig vermindert.
Winzige Balancestörungen in der Chemie des Hirnstamms.
Mit dem Fachwort »biogene Amine« wird eine Vielzahl von Eiweißkörpern benannt, die das chemische Substrat jeglicher Nervenaktivität sind. Biogene Amine entstehen in winzigen Mengen -- dem tausendsten Teil eines Milliardstel Gramms -, wenn der bioelektrische Reiz an einem Nervenzellende ankommt und von dort, der »Schaltstelle«, zum nächsten Nerv weitergeleitet werden soll.
Beim Depressiven, sagt Birkmayer, klappt das alles nicht richtig. Im Hirnstamm, der das Instinktverhalten und die »Befindlichkeit« steuert, also weitgehend für die »Anpassungsleistungen« verantwortlich ist, fehle es an biogenen Ammen. Es sei diese »Balancestörung, die ganz offensichtlich die Depression auslöst«.
Die unbestrittene Balancestörung im fein ausgepegelten Haushalt der biogenen Amine muß aber nicht die Ursache der endogenen Depression, sie kann ebensogut deren Folge sein.
So ist die für Alkoholiker typische »höchst eigenartige Mischung von Euphorie und Depression, von Angst und scheinbar forschem Draufgängertum«, die der Innsbrucker Psychiatrie-Professor Heinz Prokop bei allen seinen Langzeittrinkern beobachtet hat, mit einem nachgewiesenen Mangel an biogenen Aminen im ganzen Gehirn kombiniert. Nur: Das Amine-Defizit entsteht erst durch die chronische Alkoholvergiftung, es ist nicht der Auslöser des großen Durstes.
Unzweifelhaft jedoch ist: Einem Gehirn, dem die Amine fehlen, geht bald auch der Frohsinn verloren. Alkoholabhängige Patienten sind gewöhnlich ebenso ängstlich, verstimmt und unzufrieden wie die Depressiven. Trinkern und Traurigen kommt der rechte Tag-Nacht-Rhythmus abhanden. In den ersten Stunden des Tages beutelt der Mangel an Ammen die Kranken ganz besonders: Sie fühlen sich zerschlagen und reizbar. Ihr »Morgentief« drückt die seelische Stimmung auf den Nullpunkt und verstärkt alle Beschwerden, auch die körperlichen.
Schwermut gehäuft beim Typ des »fröhlichen Dicken«.
Whisky-Trinker Winston Churchill, der außerdem noch lange Perioden tiefer Depression durchlebte, blieb deshalb, wenn möglich, bis Mittag im Bett. Der schwerblütige Ernest Hemingway half sich mit Bourbon oder Rum und erschoß sich erst, als diese Medizin nicht mehr wirkte, morgens um 7.30 Uhr. Marilyn Monroe starb an einer Überdosis Tabletten -- wie Kurt Tucholsky, der sich im schwedischen Exil mit einer Überdosis Veronal das Leben nahm, das er »bis zum Sterben satt« hatte.
»Krankhaft vermehrte Säfte« hatte schon der Ärztevater Hippokrates als Ursache der Depression angeschuldigt. Der alte Grieche wußte freilich noch
* Selbstmörderin nach einem Sturz aus dem sechsten Stockwerk. Bei der Sterbenden: ihre Mutter.
nichts von den Ammen, sondern hatte die »schwarze Galle« im Blick. Nahezu 2000 Jahre lang galt den Ärzten als erwiesen, daß dieser ganz besondere Saft ein melancholisches Temperament mache, angeblich die »ungünstigste der vier Gemütslagen«.
Zuviel von dem dunklen Stoff bewirkte »Schwarzgalligkeit«, krankhafte Melancholie. Alle großen Männer in Politik, Dichtung und Kunst, so erklärten die Doktoren, seien Melancholiker, wegen der schwarzen Galle. In Wirklichkeit gibt es die gar nicht; sie ist ein Hirngespinst ihrer Entdecker.
Dagegen ist die hippokratische Beobachtung, daß schwermütige Menschen häufig einen »pyknischen« Körperbau zeigen -- gedrungene Figur, breites Gesicht, kurzer Hals und dicker Bauch -- durch neuere Untersuchungen bestätigt. In der Tübinger Universitäts-Nervenklinik fand Konstitutionsforscher Ernst Kretschmer, daß 64 Prozent seiner endogen depressiven Patienten zu den Pyknikern zählen -- einem Erscheinungstyp, der gewöhnlich als »fröhlicher Dicker« auftritt.
In früheren Zeiten warf man die gemütlichen Pykniker, wenn sie in Schwermut fielen, je nach deutschem Landstrich entweder auf den Scheiterhaufen, ins Verlies oder in ein Wasserbad.
Richtige Ärzte gaben sich mit der Behandlung von Gemütskrankheiten jahrhundertelang gar nicht erst ab. Das war Sache des Priesters, später auch der Philosophen. Noch Immanuel Kant, ein ängstlicher Hypochonder, verteidigte die althergebrachte Kompetenz.
Erst die Entdeckung wirksamer Arzneistoffe zu Beginn dieses Jahrhunderts wendete das Blatt. Nun hatten die Mediziner etwas zu tun: Unruhigen ("agitierten") Depressiven flößten sie als Schlafmittel Barbiturate ein, apathischen Patienten wurden die neu entwickelten Muntermacher verordnet. Mit dem Blutdruck sollte auch die Stimmung steigen; eine Hoffnung, die oft trog.
Gefahr einer Hochdruckkrise durch Mao-Hemmer und Bier.
Echte »Psychopharmaka« sind erst seit Mitte der fünfziger Jahre im Handel. Diese Drogen beeinflussen unmittelbar den Stoffwechsel des Gehirns und balancieren die biogenen Amine aus. Auf welche Weise dies gelingt, ist noch immer umstritten.
Einig sind sich die Neuropharmakologen nur darüber, daß der behandelnde Arzt eine beträchtliche Verantwortung trägt. Er sollte, durch Erfahrungen geschult, die verschiedenen antidepressiven Substanzen möglichst so dosieren, daß die ohnehin unvermeidlichen Nebenwirkungen erträglich bleiben -- selbst dann hat es der Kranke noch schwer genug.
* In dem Film »Einer flog übers Kuckucksnest«.
»Also nicht einfach dreimal täglich dieselbe Dosis«, mahnt Depressionsforscher Kielholz seine ärztlichen Kollegen. Alle, wirklich »alle Antidepressiva rufen Symptome wie Trockenheit des Mundes, Schwitzen, Herzjagen, Sehstörungen und ein feinschlägiges Zittern der Hände« hervor. Diese unvermeidlichen Nebenwirkungen sind laut Kielholz, der auf diesem Gebiet als der Größte gilt, »an sich harmlos und verschwinden meist nach kurzer Zeit«.
Schon gefährlicher sind die möglichen Nebenwirkungen auf das blutbildende System, die Funktionen von Leber und Bauchspeicheldrüse, die elektrische Erregungsleitung in einem schwachen Herzen, den grünen Star, die vergrößerte Prostata. Kielholz: »Vorsicht! Vorsicht!« In jedem Fall müsse der Doktor seinen Patienten auf die »Nebeneffekte« aufmerksam machen und ihm einschärfen, daß Antidepressiva das Reaktionsvermögen, zum Beispiel beim Autofahren, herabsetzen und dazu auch noch die Alkoholverträglichkeit mindern.
Bestimmte Psychodrogen, die sogenannten Monoaminooxidase-Hemmer ("Mao«-Hemmer), sind gar absolut unverträglich mit tyraminhaltigen Nahrungsmitteln, etwa Käse und Joghurt. Wer auf seinen Mao-Hemmer Bier schüttet, der muß mit einer schweren Hochdruckkrise rechnen. Kein Wunder, daß viele. Depressive ihre Pillen nach der ersten Bekanntschaft lieber in den Spülstein werfen.
»Zuverlässigkeit und Intelligenz« fordern die Mediziner von solchen Patienten, die sie mit Lithiumsalzen behandeln. Diese »garantieren offenbar in einem recht hohen Prozentsatz der Fälle einen vorsorglichen Schutz« (Glatzel) -- vorausgesetzt, die Präparate werden regelmäßig geschluckt und Herz und Nieren sind ganz gesund. Denn Lithium kann bös an die Nieren gehen.
Von dem bedrohlichsten Risiko medikamentöser Depressionsbehandlung ahnen die Kranken freilich nichts -- das hat der Doktor ganz allein in seiner Hand. Er muß unter den mehr als 300 verschiedenen Präparaten und ihren verschiedenen Wirkungen -- zum Beispiel angstlösend, schlaffördernd, antriebssteigernd oder stimmungsaufhellend -- wählen.
Verschreibt er etwa einem ängstlich-unruhigen Kranken ein hemmunglösendes Medikament, das auch noch den Antrieb steigert. so werden damit, warnt die »Medical Tribune«, »genau jene Schranken durchbrochen, die den Patienten bisher an der Ausführung des Suizids hinderten«.
Wenn der Doktor aber sicherheitshalber immer nur dämpft, verurteilt er seinen Patienten zu einem Leben auf Sparflamme, erstickt er die möglicherweise wiederkehrende Lebensfreude in einer chemischen Zwangsjacke.
Weil bei rund 20 Prozent der Depressiven die angewandten Arzneimittel ausschließlich unerwünschte Nebenwirkungen haben und nicht die Spur stimmungsaufhellend wirken, liebäugeln manche Nervenärzte bereits wieder mit dem »Elektroschock«.
»Das Leben ist doch halb so schlimm!«
Diese Krampftherapie, bei der dem Patienten unter 80 Volt Spannung stehende Plattenelektroden etwa fünf Sekunden lang auf die Schläfen gepreßt werden, ist derzeit wegen ihrer barbarischen Art in Deutschland nicht mehr üblich. Während des Stromstoßes bäumt sich der Kranke hoch wie auf einem elektrischen Stuhl, verliert die Besinnung, bricht sich auch mal einen Knochen . »Günstige« US-Erfahrungen, so rühmt der Münchner Psychiatrie-Ordinarius Hanns Hippius, 53, bewiesen jedoch, daß der Elektroschock »keineswegs überflüssig geworden« sei.
Von solchen Methoden wollen die jüngeren Depressionsbekämpfer, darunter immer mehr Diplompsychologen und Sozialarbeiter, meist nichts wissen. Auch die Telephonseelsorger schwören nur auf die rettende Kraft des Wortes.
Organisiert in 52 Stationen versuchen 3685 Mitarbeiter, die Lebensmüden fernmündlich aufzumuntern. Geboten werden, rund um die Uhr, ein offenes Ohr und guter Rat, der nur 20 Pfennig kostet. Alles andere ist Nichtärzten ohnehin verboten.
Im letzten Jahr haben mehr als 440 000 Bundesbürger angerufen, davon angeblich rund 100 000 mit Selbstmordideen. Bis 1980, so haben die Lebensmüdenbetreuer hochgerechnet, wird ihre Klientel auf eine Million anwachsen.
Vom Postminister wird deshalb erwartet, daß er den Psycho-Nothelfern wie der Feuerwehr auch eine bundeseinheitliche Rufnummer gewährt -- der Forderung, sie vom Zeittakt zu verschonen, hat Minister Gscheidle schon stattgegeben. Ob das irgendeinem Depressiven wirklich helfen wird, ist fraglich. Zuverlässig verhindern läßt sich ein Selbstmord per Telephon jedenfalls nicht.
Zwischen den Aktivitäten der Telephonseelsorger, die das eigene Licht meist hoch auf den Scheffel stellen, und der Zahl der Selbstmörder in einer betreuten Region gibt es keinen Zusammenhang. Nirgendwo hat eine neu eröffnete Filiale die Suizidhäufigkeit zu senken vermocht. Und dort, wo es (noch) keine Lebensmüdenbetreuer gibt, liegt die Selbstmordfrequenz keineswegs höher als in den Ballungsgebieten der Telephonseelsorge.
Dabei mühen sich die Laienhelfer, meist Hausfrauen, durchaus redlich. Ehe sie an die Muschel dürfen, lernen sie, daß man einem Depressiven nicht mit Charlie-Chaplin-Sprüchen kommen soll. Charlie, in »Lichter der Großstadt«, zum Selbstmörder, der sich schon einen Mühlstein um den Hals gebunden hat: »Morgen singen die Vögel wieder!« Der Mann will trotzdem ins Wasser gehen. Charlie: »Das Leben ist doch halb so schlimm!« Dann fallen sie beide rein.
Schon gar nicht darf man einen Depressiven auffordern, »sich zusammenzureißen«, »sich nicht gehen zu lassen« oder »Haltung zu bewahren«. Eben weil der Trübsinnige »infolge der Depression gehemmt, willensgeschwächt, entschlußunfähig und hoffnungslos« ist (Kielholz) kann er die Umweltsituation nicht meistern. Jeglicher Appell kann die Verzweiflung verstärken und damit das Risiko des Suizids.
Ehrgeizige Ordnungsfanatiker sind besonders gefährdet.
Mit Psychotherapie, zumal der Freudschen Analyse, ist auch nichts gewonnen. Zwar schätzen viele Depressive das Ritual einer solchen Behandlung, weil es ihnen Schutz gewährt, doch führt dies nur zur Gefahr einer unendlichen Analyse. Die erfolglosen Seelenzergliederer behaupten deshalb gern, daß die Schwermütigen sich nicht auf die Couch legen, um gesund zu werden, sondern nur, um ihre Neurosen zu vervollkommnen.
»Allzuoft«, sagt der Göttinger Medizinpsychologe Hermann Pohlmeier, leiden Psychotherapeuten außerdem unter der »Angst, einen Patienten durch Selbstmord zu verlieren«. So was schade dem »guten Ruf« und könne auch »rechtliche Folgen« haben. Für den Wiener Professor Birkmayer ist der Ruf seiner psychotherapeutischen Kollegen freilich längst ruiniert. Birkmayer: »Wenn jemand glaubt, daß durch Psychotherapie eine Depression geheilt werden könne, gehört er selber in psychotherapeutische Behandlung.«
Die Hilflosigkeit der Heilkunst gegenüber den Depressionen hat dazu geführt, daß ärztliches Nichtstun schon als ordentliche Therapie gelobt wird. Professor Kielholz aus Basel empfiehlt als psychotherapeutischer Weisheit letzten Schluß: »Der Arzt muß ganz einfach neben dem Depressiven stehen, in den Augen des Kranken ruhig und sicher und einsatzbereit.«
Was soll er sonst auch tun? Die Depressionen überfordern ja nicht nur den gewöhnlichen Weißkittel, sondern die ganze Medizin -- das Leiden ist ein paar Nummern zu groß für die Heilkunst, mag sie sich nun des Wortes oder der Chemie bedienen.
Schwermut kommt aus Quellen, die auch ein tüchtiger Arzt nicht verstopfen kann. »Wir sind eine Gesellschaft notorisch unglücklicher Menschen«, lehrt der Psychoanalytiker Erich Fromm, »einsam, von Ängsten gequält, deprimiert, destruktiv und abhängig.« Genauer: Wir sind eine solche Gesellschaft geworden.
Anderswo sind Depressionen auch heute noch rare Krankheiten. In Italien sind sie nur halb so häufig, die Selbstmordrate beträgt ein Drittel der bundesdeutschen. In vielen afrikanischen oder asiatischen Sprachen gibt es für »Depression« nicht einmal ein Wort. Auch den frühen Christen galt Traurigkeit als Sünde, Niedergeschlagenheit als spirituelle Verwirrung. Das Evangelium -- wörtlich: Frohe Botschaft -- versprach den Gläubigen inneren Frieden und ermunterte zur Lebensfreude.
Depression als Krankheit zum Tode ist offenbar, wie die ganz unterschiedlichen Erkrankungsziffern vermuten lassen, vornehmlich ein soziokulturelles Phänomen. »Was für eine Depression Sie auch haben mögen«, tröstete der Psychiater Raphael Lenné in einem empfehlenswerten Buch seine Leser, »Ihre Umwelt ist mit dafür verantwortlich"*. Die makabre Pointe: Wer eine Depression bekommt, der hat in gesunden Tagen meist kräftig daran mitge-
* Raphael Lenné: »Zeitkrankheit Depression. Die Überwindung von Niedergeschlagenheit, Angst und Traurigkeit«. Mosaik Verlag, München; 192 Seiten: 22 Mark.
wirkt, seine Umwelt lebensfeindlich zu formen.
Von der Schwermut nämlich sind keineswegs alle Menschen in gleicher Weise bedroht. Besonders gefährdet sind jene, denen Leistung und Ordnung über alles gehen. Depressive sind meist ehrgeizig und gewissenhaft. Im Beruf stellen sie höchste Anforderungen an sich selbst und andere und sind bereit, ihren ganzen Lebensrhythmus dem Takt der Maschine anzupassen.
Sie arbeiten nicht, um zu leben; sie leben, um zu arbeiten. Führen und Folgen, Befehlen und Gehorchen sind die Leitlinien ihrer Pädagogik. Der depressive Charakter wünscht sich einen starken Staat und schätzt jede stabilisierende Konvention. Im Zweifel gehen ihm Sicherheit vor Freiheit und Leistung allemal vor Lebensfreude. Das konservative Ärztemagazin »Selecta": »Je mehr Leistung gefordert wird, um so deutlicher wird jedoch die Tendenz zu depressiven Psychosen.«
Der depressive Charakter, schreibt Lenné, spiegele also genau die »Eigenschaften wider, die den »Musterdeutschen« des Wirtschaftswunders auszeichnen« -- und je mehr Menschen diese Eigenschaften verinnerlicht haben, desto mehr enden irgendwann tieftraurig, zu Tode verzweifelt.
Denn naturgemäß ist der Leistungsanspruch mit einer tiefen Angst vor dem Versagen gekoppelt. In persönlichen oder allgemeinen Krisenzeiten ist der Depressive deshalb oft hoffnungslos überfordert. Wenn er krank, alt, impotent oder arbeitslos wird, nimmt er sich, Ordnung muß sein, das Leben. Jede Gesellschaft hat die Krankheiten, die sie verursacht -- und jene, die sie verdient. So gesehen sind die meisten Depressionen und die 38 Selbstmorde pro Tag (Bundesdurchschnitt) der Preis für die Segnungen der westdeutschen Leistungsgesellschaft.
Da sie offenkundig den ganzen Mann fordert, vielen Frauen aber noch ein Schlupfloch läßt, sterben doppelt so viele Männer wie Frauen an der Depression. Das starke Geschlecht wird härter gebeutelt, ist vor allem von der »raschen Änderung in der psychosozialen Umwelt« rückhaltloser betroffen.
Die Weltgesundheitsorganisation definierte fliesen gesellschaftlichen Faktor als »akute oder länger dauernde Streßsituation, familiäre Desintegration, Vereinsamung und Isolierung in der Masse«. Das sei die Hauptursache der Depression.
Sie trifft Menschen, die es im Leben zu etwas gebracht haben oder dies wenigstens versuchen, häufiger und mit größerer Wucht. Dem protestantischen Abteilungsleiter -- erst entlassen, dann geschieden -- bleibt wenig mehr als der Suff oder die Schwermut. Ein katholischer Straßenbauarbeiter kann so tief nicht fallen. Trinken tut er ohnehin, und zu Hause warten die dicke Frau und der Nebenerwerb. Lenné: »Die ärmeren Schichten sind weniger depressionsanfällig als die wohlhabenden.«
Auch im hohen Alter und bei chronischer Krankheit sind die besseren Leute übler dran. Angesichts ihrer lebenslang verinnerlichten Normen haben sie viel mehr Grund zu verzweifeln. Ihre Depression ist einfühlbar. Aber was kann ein Doktor Pillermann schon groß dagegen tun?
Oft ist er selbst arm dran: Alle, die sich haupt- oder nebenberuflich mit der Hilfe für die Depressiven beschäftigen, sollen immer hübsch sanft und ruhig sein, den verzweifelten Patienten wieder an seine Umwelt anpassen, die eigenen Aggressionen dabei jedoch auf keinen Fall zeigen.
Gerade das aber ist Gift für die Psyche. Gehemmte Aggressionen richten sich über kurz oder lang immer gegen die eigene Person. Wer Glück hat, dem frißt heruntergeschluckte Wut nur ein Loch in den Magen. Wer Pech hat, der wird schwermütig. Landarzt Lüth: »Depression ist zutiefst Wut, Wut gegen sich selbst.«
Ein frustrierter Mensch, der seine Aggressionen auslebt, wird selten depressiv. Der nordirische Bürgerkrieg bietet dafür den letzten, von englischen Fachärzten sorgsam dokumentierten Beweis. In Belfast sanken, solange gekämpft wurde, die Erkrankungsziffern der Depressionen und die Selbstmordzahlen deutlich.
Nun muß man nicht gleich zum Molotow-Cocktail greifen, um seiner Depression vorzubeugen. Es reicht, wenn man der Wut Worte gibt. Nur verdrängte Aggression, kombiniert mit Leistungsdenken, macht krank -- vor allem die Lebensmüdenhelfer, die Pastoren und Psychiater.
Deren Selbstmordrate schlägt denn auch alle Rekorde: Sie ist achtmal so hoch wie die der übrigen Bevölkerung.