RECHT / LANDESVERRAT Der Abgrund
Der Begriff des Staatsgeheimnisses ist situationsbedingt und infolgedessen nicht ohne weiteres abstrakt zu unschreiben und nicht ohne weiteres konkret zu erkennen. Es hängt immer von den Umständen und von der Situation ab.
Generalbundesanwalt a.D. Dr. Max Güde
Am 11 Juli 1951, an dem Tage, da Aim koreanischen Ort Kaesong der Amerikaner Joy und der Chinese Tung Hua zum ersten Mal zusammentrafen, um einen Waffenstillstand auszuhandeln, trat im rheinisehen Bonn das Parlament der Bundesrepublik Deutschland zur dritten Lesung des »Strafrechtsänderungsgesetzes« zusammen.
Für die Novelle, die das Strafgesetzbuch um 37 politische, zum Teil völlig neue Strafvorschriften bereichern sollte, hatte der Ältestenrat 120 Minuten Aussprache anberaumt. Hätten nicht der Kommunist Fisch mit einer viertelstündigen Schmährede und seine Fraktion mit ihrem notorischen Gepöbel die parlamentarische Prozedur gebremst, so wäre es dem Bundestag auf seiner 160. Sitzung sogar gelungen, unter dem Zwei-Stunden-Limit zu bleiben.
Fisch: »Als nach der (Reichstags-) Brandstiftung vom 28. Februar (1933) das Gesetz zum 'Schutz von Volk und Staat erlassen wurde, da gab es auch einige, die meinten: Das sind ja nur die Kommunisten, die mit diesem Gesetz getroffen werden Sie haben sich im Laufe der Jahre eines Schlechteren überzeugen lassen müssen!«
Dagegen der CDU-Sprecher Kiesinger, heute Ministerpräsident in Stuttgart: »Wir sind gezwungen worden zu diesem Gesetz - durch Leute wie Sie.« Und: »Wir garantieren Freiheit der Meinung für alle Gutgesinnten, für alle die, die Freiheit wollen, aber nicht für die, die Freiheit nicht wollen!«
Im Kampfe für eine deutsche Demokratie konnte die Opposition nicht zurückstehen. Arndt für die SPD: »Wer die Demokratie angreift, greift das deutsche Volk an und erschwert seinen dornenvollen Weg zur Gleichberechtigung im Kreise der freiheitlichen und friedliebenden Völker.«
In Erinnerung an den tschechischen Staatsstreich, im Blick auf den roten Angriff gegen Südkorea und gebannt von der, freilich mehr lauten als gefährlichen kommunistischen Aktivität in Westdeutschland taten die Verantwortlichen für die gefährdete Demokratie den Schritt in juristisches Neuland. Unter der bis dahin unbekannten Sammelbezeichnung »Staatsgefährdung« statteten sie die Gerichte mit einem Katalog von Paragraphen (88 bis 98 Strafgesetzbuch) aus, deren Dehnbarkeit und deren scharfe Strafdrohungen speziell auf die Situation des Kalten Krieges zugeschnitten waren.
Die vom alliierten Kontrollrat aufgehobenen Hochverrats-Normen wurden wieder eingeführt - mit Erweiterungen.
Bei dieser strafrechtlichen Reform fiel dann schon beinahe nicht mehr auf, daß als Abschnitt »Landesverrat« originäres Gedankengut des Jahres 1934 in das demokratische Recht übernommen wurde: die sogenannte Landesverräterische Fälschung des Paragraphen 100 a, die Strafbarkeit des »Verrats« nicht existenter Geheimnisse also, ebenso wie der Fahrlässige Landesverrat des Paragraphen lOO c.
Das Gewicht lag auf dem Abschnitt »Staatsschutz«. »Hochverrat, und »Landesverrat« konnten demgegenüber als klassische Selbstverteidigungs-Nonnen des souveränen Staates gelten.
Schon im Jahre 1953 wurden allein nach dem Paragraphen 90 a, der die Gründung und Forderung »verfassungs verräterischer Vereinigungen« unter Strafe stellt, 1336 Westdeutsche verurteilt.
Bis 1960 hatte die für die Verfolgung der qualifizierten Staatsschutzdelikte zuständige Bundesanwaltschaft in über 14 000 Fällen Ermittlungsverfahren eingeleitet: Auch verfährte Idealisten, redselige Pazifisten, Linksintellektuelle - wer immer im Kollektiv gegen Aufrüstung, Atombewaffnung oder Nato eintrat - liefen Gefahr, in den Maschen des Superschutzsystems (so die »Zeitschift für die gesamte Strafrechtswissenschaft) hängenzubleiben.
Schließlid bekannte der liberale Thomas Dehler, der 1951 als Bundesjustizminister das Gesetz vertreten hatte: »Mein Gewissen schlägt schwer.«
Und der Sozialdemokrat Arndt räumte 1957 vor dem Bundestag selbstkritisch ein: »Auch wenn ich aus meiner Kenntnis der Entstehungsgeschichte und aus eigener Mitwirkung, die heute mein Gewissen drückt, in vieler Hinsicht die Auslegung (durch die Gerichte) nicht zu billigen vermag, so stehe ich doch nicht an zu sagen, daß jenes Gesetz keine gesetzgeberische Meisterleistung war.«
Dabei bezogen sich bis zum Spätherbst vergangenen Jahres alle Kritiker der gesetzgeberischen Aktion von 1951 lediglich auf die Gesinnungs-Pönalisierung
als Folge der neuen Staatsgefährdungs -Tatbestände. Daß sich eines Tages die Waffe der Landesverrats-Paragraphen gegen den unverzichtbaren Kern der repräsentativen Demokratie richten könnte, wurde nicht gesehen So selbstverständlich nämlich war, daß Spionage bestraft werden mußte, so über jede Diskussion erhaben war eben auch, daß in der Bundesrepublik nunmehr, wie in den demokratischen Leitbild-Ländern, die Lebensfragen der Bevölkerung öffentlich diskutiert werden könnten
Das grundgesetzlich garantierte Recht der freien Meinungsäußerung mußte, so schien es, gerade auch das Recht umfassen, über die Verleidigungskonzeption der Regierung zu sprechen.
Um so nachhaltiger war freilich der Schock, als Ende Oktober 1982 die Bundesanwaltschaft das Hamburger Pressehaus besetzen ließ: Der SPIEGEL hatte, Wochen vorher, analytisch die voneinander abweichenden Verteidigungsvorstellungen der Amerikaner und des damaligen Bundesverteidigungsministers dargestellt
Vergeblich verdrängte der 86jährige Kanzler Adenauer vor dem Bundestag den Landesverräter Schmidt-Wittmack, den wegen landesverräterischer Fälschung verurteilten Verfassungsschützer John, den als Agenten entlarvten Strauß -Beamten Fuhrmann und den Marine -Spion Ludwig aus seiner Erinnerung und behauptete öffentlich, was er nicht wissen konnte und nicht sagen durfte: »Wir haben einen Abgrund von Landesverrat im Lande... Wenn von einem Blatt, das in einer Auflage von 500 000 Exemplaren erscheint, systematisch, um Geld ze verdienen, Landesverrat getrieben wird...«
Vergeblich auch instruierte die Regierungspartei Ihre Sonntagsredner in der Provinz: »Der SPIEGEL hielt sich für befugt, es besser zu wissen als die autorisierten Männer der Bundeswehr und der Nato, dem Kreml Spionagekosten zu ersparen und mit seiner militärisch politischen Halbbildung der bisher erfolgreichen
Verteidigungspolitik des Westens ins Handwerk zu pfuschen.«.
Die westdeutsche Öffentlichkeit, die auf jene echten Verratsfälle, die dem Bundeskanzler bei seiner Parlamentsrede offenbar nicht mehr gegenwärtig waren, durchaus mit Abscheu reagiert hatte, ging diesmal nicht mit. Sie sah ihr Recht auf existenzwichtige Informationen bedroht.
Studenten trugen Protestplakate über die Straßen der großen Städte. An deutschen Hochschulen arbeiteten akademische Lehrer Resolutionen aus, weil sie fürchteten, daß die demokratische Diskussion unter dem Druck unklarer Gesetze sterilisiert werden würde.
Nun erst stellte sich jene Frage, die den Abgeordneten im Jahre 1951 noch nicht erkennbar war: Sind die Landesverratsbestimmungen, deren letzte Ausformung auf den nationalsozialistischen Gesetzgeber von 1934 zurückgeht, mit dem Grundgesetz von 1949 vereinbar, das auf eine moderne Demokratie westlichen Vorbilds abzielt?
In der Hamburger Wochenschrift Die Zeit« schrieb der Stuttgarter Oberlandesgerichtspräsident Richard Schmid: »Ich bin fest davon überzeugt, daß eine Einschränkung des Geheimnisbegriffs möglich ist, die einerseits vitale militärische oder diplomatische Interessen schützt, aber andererseits die Öffentlichkeit nicht von der Erörterung staatswichtiger Dinge ausschließt.«
Und der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer ließ auf einer Konferenz in- und ausländischer Professoren, Juristen und Offiziere zu Köln erklären: »Der Sinn dieser strafrechtlichen Bestimmungen würde ins Gegenteil verkehrt oder verfälscht, wenn wir aus Angst vor einem totalitären Tod begännen, demokratischen Selbstmord zu begehen.«
Tatsächlich stehen die Landesverrats-Paragraphen des geltenden Rechts,
- solange sie auf den bezahlten Agenten
gleichermaßen anwendbar sind wie auf den staatstreuen Journalisten - in einem fast unauflöslichen Widerspruch zu Geist und Buchstaben des Grundgesetzes der Bundesrepublik, insbesondere:
- zu Artikel 103, der klassischen Garantie des Rechtsstaates, wonach die Strafbarkeit einer Tat von vornherein festliegen und für den Täter erkennbar sein muß;
- zu Artikel 3, der die Gleichheit aller
Rechtsunterworfenen vor dem Gesetz sichert, und schließlich, damit im Zusammenhang,
- zu Artikel 5, der die Pressefreiheit
garantiert.
Ob eine publizierte Tatsache »Staatsgeheimnis« ir Sinne des Gesetzes (Paragraph 99 Strafgesetzbuch) war, wird nämlich erst nachträglich festgestellt, ebenso wie auch die Frage, ob »das Wohl der Bundesrepublik« gefährdet wurde, erst später - von Sachverständigen - beantwortet wird. Diese Feststellungen im nachhinein, die im Regelfall Gutachtern des betroffenen Ministeriums vorbehalten sind; haben sich in, der Vergangenheit als Gefahr hauptsächlich für kritische Publizisten erwiesen.
Folge: Da nur die Regierung über das Staatsgeheimnis verfügt, muß bei solcher Praxis notwendigerweise die öffentliche Diskussion über militärische Grundvorstellungen einseitig bleiben. Wer immer sich kritisch mit der Regierungskonzeption auseinandersetzt, läuft Gefahr, oberflächlich zu bleiben, oder er setzt sich dem Risiko zumindest eines Ermittlungsverfahrens aus.
Weitete Folge: Die Chancengleichheit der Parteien wird dadurch gerade auf dem wichtigsten Gebiete gefährdet.
Merkwürdigerweise hat die deutsche Strafrechtswissenschaft, die sich ein Jahrhundert lang - vom nationalsozialistischen Interregnum abgesehen - um die Formulierung rechtsstaatlich fest umrissener Tatbestände verdient machte, ihr Augenmerk nie den Landesverratsbestimmungen zugewandt. Den kaiserlichien Juristen bedeutete der »abscheuliche Landesverrat« (Adenauer) eine Art unantastbare obrigkeitsstaatliche Reservation.
Erst der Strafrechtslehrer Franz von Liszt verlangte, kurz vor dem Ersten Weltkrieg, eine beschränkende Definition des Landesverrats-Tatbestands. Seine Forderungen griff der Reichsjustizminister a.D. Gustav Radbruch im Jahre 1926 wieder auf. Der eine plädierte freilich so vergebens wie der andere. Das Tabu war zu mächtig.
Und auch gegenwärtig bezieht jener Lehrstuhlinhaber, der am überzeugendsten die »gesetzliche Bestimmtheit der Tatbestände« fordert, der Kieler Professor Hellmuth Mayer, die Landesverratsparagraphen,
die den denkbar unbestimmtesten
Tatbestand aufweisen, nicht in seine Vorschläge zur Strafrechtsreform ein*.
Dabei begründet Mayer die Notwendigkeit bestimmter Tatbestände nicht einmal nur mit- dem Interesse des Rechtsunterworfenen, sondern geradezu mit dem Staatsinteresse: »Anderenfalls würde die einheitliche Leitung der Strafjustiz unmöglich, jedes Gericht könnte nach seinen zufälligen Anschauungen in wichtige politische und sozialpolitische Verhältnisse in unberechenbarer Weise eingreifen.«
Ausgerechnet an der Übertretung »Grober Unfug"' des Paragraphen 360 Ziffer 11 StGB wies, Rechtsstaatler
Mayer nach, daß eine solche Kautschukbestimmung die »politische Freiheit gefährdet«. Es sei unmöglich, etwa die Verteilung politisch-religiöser Streitschriften, den Boykott einer Gastwirtschaft, die Behauptung, Luther habe Selbstmord begangen, sowie mancherlei sexuelle Verhaltensweisen gleichermaßen als »Groben Unfug« abzuurteilen.
Die Konsequenzen, die Mayer aus seiner wissenschaftlichen These - von der Bestimmtheit der Tatbestände - für den Landesverrat nicht zog, hat jedoch mittlerweile der Saarbrücker Professor Werner Maihof er in einem Leserbrief an die »Frankfurter Allgemeine« gezogen. Der saarländische Ordinarius ging sogar noch einen Schritt weiter. Die Bestimmungen über Landesverrat seien nicht nur zu vage, sie ließen sich schon aus Beweisgründen auf Journalisten kaum jemals anwenden.
Professor Maihofer: »Bei unbefugtem Geheimnisverrat durch einen Journalisten (sind) die Vorschriften der Paragraphen 100 bis 100 c des Strafgesetzbuches unanwendbar, weil es hierbei in allen solchen Fällen und nicht nur im einzelnen Fall an der nach Artikel 103 unseres Grundgesetzes geforderten gesetzlichen Bestimmtheit und richterlichen Bestimmbarkeit der Strafbarkeit im Hinblick auf das nach Paragraph 99 StGB geforderte Tatbestandsmerkmal des Staatsgeheimnisses fehlt.«
Der Rechtslehrer argumentiert folgendermaßen: Das Strafgesetzbuch definiere Staatsgeheimnisse als »Tatsachen... deren Geheimhaltung vor einer fremden Regierung für das Wohl der Bundesrepublik... erforderlich ist«. Diese Erforderlichkeit sei - nach herrschender Lehre - nicht gegeben, wenn
die fremde Regierung zur Tatzeit bereits Im Besitz des Geheimnisses sei.
Ob aber die fremde Regierung Im Augenblick der Veröffentlichung schon Kenntnis von dem Geheimnis hatte oder nicht, sei »weder durch den bestellten sachverständigen militärischen Gutachter noch durch den Staatsanwalt oder Richter mit der für die Anwendung aller - auch der politischen - Strafgesetze in einem Rechtsstaat geforderten 'an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit' festzustellen«.
Maihofer: »Denn dazu müßte der Richter dem Angeklagten mit zweifelsfreier Gewißheit nachweisen können, daß der oder den betreffenden fremden Regierungen dieses sogenannte Staatsgeheimnis mit Gewißheit noch unbekannt oder zumindest noch nicht mit genügender Sicherheit bekannt war, womit von ihm theoretisch wie praktisch Unmögliches gefordert wird.«
Ausdrücklich verweist Maihofer darauf, daß die Unanwendbarkeit der geltenden Landesverratsbestimmungen sich
lediglich auf die Presse, nicht aber auf die Spionage bezieht. Dort gehe regelmäßig schon aus dem Spionageauftrag hervor, »daß die fremde Regierung keine oder zumindest keine sichere Kenntnis von dem ausgespähten Geheimnis hat«.
Der Professor kommt zu dem Schluß: »Die auf dieser vermeintlichen Rechtsgrundlage betriebenen Verfahren wegen Landesverrats sind sämtlich ungesetzlich, weil verfassungswidrig.«
Solche Argumentationen, so plausibel sie auch klingen, muten nun allerdings in Erinnerung an die Weimarer Rechtsprechung revolutionär an.
Andererseits, in der Bundesrepublik wurde noch kein Verfahren wegen literarischen Landesverrats (begangen durch die Presse) durchgeführt. Und das Bundesverfassungsgericht, das bis heute konzessionslos dem Grundgesetz Geltung verschaffte, hatte daher auch noch gar keine Gelegenheit, sich in irgendeiner Weise der durch Maihofer angeschnittenen Problematik zu nähern.
Dagegen hat dieser Gerichtshof in zwei mittlerweile schon historisch gewordenen Entscheidungen das Institut Pressefreiheit« derart erläutert und abgesichert, daß schon daher die Anwendung der Landesverrats-Paragraphen gegen Presseorgane auf das äußerste erschwert wird.
Am 15. Januar 1958 entschied das höchste deutsche Gericht zugunsten des damaligen Hamburger Senatspressechefs Lüth und gegen das Urteil der Vorinstanz, das Grundrecht der freien Meinungsäußerung sei für eine Demokratie »schlechthin konstituierend«.
Am 25. Januar 1961 stellten die Richter des Bundesverfassungsgerichts in einem Beschluß zugunsten des Stuttgarter Oberlandesgerichtspräsidenten Schmid und ebenfalls wieder gegen die Vorinstanzen fest, »daß die allgemeinen Gesetze' zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Schranken setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlichdemokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen"*.
Die Nutzanwendung aus diesen Entscheidungen für den Fall eines Landesverratsprozesses gegen ein Presseorgan zog der Kölner Ordinarius Klug kürzlich in einem wissenschaftlichen Kolloquium:
- »Der Grundsatz der Pressefreiheit
begrenzt den Anwendungsbereich der Landesverratstatbestände (Problem der Tatbestandsmäßigkeit).«
- »Der Grundsatz der Pressefreiheit begrenzt ferner die Rechtswidrigkeitsindikation eines an sich tatbestandsmäßigen Verhaltens.«
- »Der Grundsatz der Pressefreiheit begrenzt beim Landesverrat auch den Schuldvorwurf.«
Um diese Thesen zu verstehen, muß man wissen, daß der Jurist bei der Anwendung einer Rechtsnorm zuerst die Frage stellt, ob der Tatbestand erfüllt ist. Damit ist gemeint, ob die vom Gesetzgeber
beschriebenen objektiven Tatumstände vom Täter verwirklicht wurden.
Den Diebstahls-Tatbestand beispielsweise verwirklicht laut gesetzlicher Definition in Paragraph 242 StGB, wer einem anderen eine fremde bewegliche Sache in der Absicht wegnimmt, sich diese Sache zuzueignen. Fehlt auch nur ein einziges Tatbestandsmerkmal, handelt es sich etwa nicht um eine bewegliche Sache oder wird die Sache nicht In Aneignungsabsicht weggenommen, so fehlt es, wie der Jurist sagt, am Tatbestand.
Ist der Tatbestand erfüllt, so ist freilich die Strafbarkeit damit noch nicht ohne weiteres gegeben. Das Verhalten des Täters muß nämlich auch rechtswidrig sein. Die Rechtswidrigkeit ist beispielsweise ausgeschlossen, wenn sich der Täter in einer Notwehrlage befand.
Das tatbestandsmäßige und rechtswidrige Verhalten wird schließlich noch daraufhin geprüft, ob der Täter schuldhalt handelte. Beispiel: Ein Geisteskranker, der seinen Wärter niederschlägt, begeht Körperverletzung. Sein Verhalten ist auch rechtswidrig. Dennoch kann er nicht bestraft werden, denn er ist schuldunfähig.
Seine erste These - Begrenzung der Tatbestandsmäßigkeit - begründet Professor Klug: »Bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals 'Staatsgeheimnis' ist der Grundsatz der Pressefreiheit bei der Prüfung der Geheimhaltungsbedürftigkeit zu berücksichtigen, da eine Geheimhaltungsbedürftigkeit nur dann bejaht werden kann, wenn die Geheimhaltung für das Wohl der Bundesrepublik erforderlich ist. Diese Voraussetzung kann fehlen, wenn im konkreten Fall die Aufrechterhaltung der Pressefreiheit im Interesse wichtiger. Kontroll - und Aufklärungsfunktionen für das Wohl der Bundesrepublik wichtiger ist.«
Zur »Begrenzung der Rechtswidrigkeitsindikation« verweist Klug auf den Gedanken der »Rechtsgüterabwägung«, den das Reichsgericht in ständiger Rechtsprechung entwickelt hat. Unter diesem Gesichtspunkt erlaubten die Leipziger Strafsenate beispielsweise die sogenannte »medizinische Indikation": Die Abtreibung sei nicht strafbar, wenn das Leben der Schwangeren bei einer Abwägung vor dem Leben des ungeborenen Kindes rangieren müsse.
Wiederum der Kölner Ordinarius für Strafrecht und Rechtsphilosophie: »Im konkreten Fall muß zwischen dem. Rechtsgut des Staatsschutzes und dem Rechtsgut der Freiheit, insbesondere der Pressefreiheit... abgewogen werden. Diese Entscheidung wird In zahlreichen Fällen eindeutig sein können. Man denke einerseits an den Fall, daß unwichtigen Presseinteressen existenzwichtige Geheimhaltungsinteressen, oder an den, Fall, daß umgekehrt wichtigen Presse -Interessen Geheimhaltungsbagatellen gegenüberstehen. Problematisch ist die Rechtslage nur dann, wenn sich die Interessen die Waage halten, dann aber muß der freiheitlichen Lösung der Vorzug gegeben werden.«
Professor Klug: »In dubio pro libertate!«
Den Schuldvorwurf schließlich, der vom Richter - nach Tatbestandsmäßigkeit- und Rechtswidrigkeit - an dritter Stelle zu prüfen ist, will Klug bei Journalisten speziell unter den Gesichtspunkten des »fehlenden Unrechtsbewußtseins« und des »schuldausschließenden Pflichtenkonflikts« verstanden wissen.
Anders ausgedrückt: Der Journalist, der unter dem Schutz und im Sinne des Grundgesetz-Artikels 5 arbeitet, ist auch dann noch nicht ohne weiteres des Landesverrats schuldig, wenn er den Tatbestand verwirklicht hat.
Alle diese Gedankengänge beruhen auf einer modernen, am westlichen Ausland orientierten Auffassung vom Wesen der Demokratie. Und bislang galt es denn auch als ein Indiz für den neuen politischen Geist in der Bundesrepublik, daß seit Inkrafttreten des Grundgesetzes noch kein Landesverratsurteil gegen einen Publizisten gefällt wurde. Offenbar ist der Bundesgerichtshof der Ansicht, daß die zum Schutze der Bundesrepublik notwendigerweise scharfe Landesverrats-Waffe nicht zweckentfremdet werden sollte. Die Gefahr ist in der Tat nicht von der Hand zu weisen.
Schon das erste zu einiger Berühmtheit gelangte Landesverratsverfahren gegen einen Publizisten weist ideal typisch alle die Züge auf, die später - in der Weimarer Zeit - dann regelmäßig wiederkehren. Auch hier wurde nach außen hin der Oberreichsanwalt tätig, der wahre Initiator aber war politischer Machthaber. Auch der Betroffene dieses Verfahrens war kein Mann, der seinen Staat durch Verrat schädigen wollte. Er hatte nicht einmal etwas publiziert, was auch nur entfernt als Staatsgeheimnis angesehen werden konnte.
Urheber des Modellverfahrens war der Reichskanzler Otto von Bismarck, sein Opfer der Geheime Justizrat Geffcken, der an der Universität Straßburg Rechtswissenschaft gelehrt hatte. Geffcken hatte im Herbst 1888 in Julius Rodenbergs »Deutscher Rundschau« Auszüge aus dem Tagebuch des Kaisers Friedrich veröffentlicht, die jener, damals noch Kronprinz, während des Deutsch-Französischen Krieges niedergeschrieben hatte.
Bismarck war empört: Über alle Vorgänge, die auch nur entfernt mit der Reichsgründung zusammenhingen, hatte er seine eigene Version durchgesetzt, an der er nicht rütteln lassen wollte.
Sofort verlangte er von dem preußischen Justizminister von Friedberg die Beschlagnahme des »Rundschau«-Heftes und die Einleitung eines Landesverratsverfahrens gegen Geffcken. Gleichzeitig veröffentlichte er im »Reichs - und Staats-Anzeiger« einen »Immediatbericht des Reichskanzlers«, der mit den Worten beginnt: »Ich halte dies Tagebuch in der Form, wie es vorliegt, nicht für echt.«
Als Bismarck dies versicherte, hatte er den Bericht seines Ministeriums vor sich, in dem festgestellt wurde, daß die Auszüge korrekt seien.
An den Oberreichsanwalt schrieb der Kanzler: »Unabhängig von dem strafrechtlichen Ergebnis kommt es politisch darauf an, die Entstehung der Veröffentlichung und die Beziehungen der verschiedenen reichsfeindlichen Parteien zu derselben klarzustellen und auf dem Wege der gerichtlichen Verhandlungen ans Licht zu ziehen.«
Dazu der Bismarck-Historiker Eyck: »Das heißt in der Tat, die Justiz zur Dirne der Politik machen.«
Der Geheime Justizrat war dem Kanzler insbesondere deshalb bekannt und verhaßt, weil Geffcken die hemdsärmelige Art Bismarcks, mit dem Rechte umzuspringen, schon seit dem Kulturkampf der 70er Jahre heftig kritisiert hatte; in seinem Haß auf das »reichsfeindliche« Zentrum war dem allmächtigen Kanzler nahezu jedes Mittel recht gewesen.
Als der Haftbefehl erlassen wurde, befand sich Geffeken im Ausland. Er stellte sich sofort freiwillig und bekannte sich zu der Veröffentlichung. Er hatte auch nichts zu verdunkeln, da er mit dem verstorbenen Kaiser Friedrich eng befreundet war und dieser ihm das Tagebuch zur Einsicht überlassen hatte.
Trotzdem blieb Geffcken vom 30. September 1888 bis zum 4. Januar 1889 in Untersuchungshaft. Er wurde erst frei, nachdem das Reichsgericht das Verfahren eingestellt hatte.
Und selbst dann gab Bismarck noch nicht auf. Er ließ die Anklageschrift gegen Geffcken - rechtswidrig - veröffentlichen, und er leitete schließlich die bei der Haussuchung gefundene Korrespondenz Geffekens der »Kölnischen Zeitung« zu, damit diese den »Landesverräter« kompromittieren könne.
Abgesehen von diesem Fall Geffeken setzte allerdings die kaiserliche Justiz das schwere Geschütz ihres Landesverrats-Paragraphen gegen Publizisten nur sehr sparsam ein. Selbst während des Kulturkampfes und nach dem Erlaß des Sozialistengesetzes wurde die Presse nicht mit Bestimmungen beschwert, die
schon vom Begriffe her - »Verrat« - ihren Verhältnissen nicht entsprachen.
Als »Landesverräter« wurden Spione und Agenten sowie deren Helfershelfer verfolgt. Im öffentlichen Bewußtsein konnte sich über zwei Generationen hin die Überzeugung festigen, daß mit dem Makel des Landesverrats nur belastet werde, wer in schmutziger Weise sein Vaterland verkauft hatte.
Erst in der äußerlich gefährdeten, innerlich zerrissenen Weimarer Republik, deren Fehden blutig in Bierkellern und auf der Straße ausgetragen wurden, kam die deutsche Justiz in die Lage, mit den Landesverrats-Paragraphen Innenpolitik zu betreiben. Die Richter jener Zeit, groß geworden in den Anschauungen der konstitutionellen Monarchie, vermochten nicht auf Anhieb zu sehen, daß sich die Demokratie wesentlich nicht an der Autorität, sondern am Recht orientieren muß.
Noch weniger sahen sie, daß die öffentliche Erörterung der zentralen
politischen und militärischen Fragen für den republikanischen Staat lebensnotwendig ist.
Wurde im Jahre 1923 noch in rund 30 Fällen wegen Landesverrats gegen Journalisten ermittelt, so waren es 1925 schon etwa zehn Fälle pro Monat.
Wohlverstanden: Kein einziges Verfahren, kein Urteil in all diesen Jahren richtete sich gegen ein rechtsstehendes Blatt oder gegen einen konservativen Publizisten. Literarischen Landesverrat konnten offenbar nur dezidiert republikanische Schreiber, Pazifisten und Sozialdemokraten begehen.
Doch war das neuartige Tatbestandsmerkmal der falschen Gesinnung nicht die einzige Absonderlichkeit jener Prozesse. Ebenso beklemmend mutet an, daß über die Hälfte aller Verfahren gegen Menschen eingeleitet wurden, die lediglich das geltende und offiziell immer wieder bestätigte Staatsrecht ihrer Republik verteidigten.
Journalisten, die gegen die republikfeindliche Tätigkeit der sogenannten
vaterländischen Verbände polemisierten, wurden grundsätzlich unter Anklage gestellt:
- 1919 ließ der ehemalige Sekretär
des in München ermordeten Sozialisten Eisner, Felix Fechenbach, ein Telegramm des bayrischen Gesandten beim Heiligen Stuhl aus dem Jahre 1914 publizieren. Überdies schrieb Fechenbach über die nationalistischen Geheimorganisationen in Bayern. Er erhielt elf Jahre Zuchthaus; zwei andere Journalisten, die sich kritisch mit den gleichen Organisationen befaßt hatten, wurden zu zehn und zu zwölf Jahren verurteilt.
- Der Redakteur Quint veröffentlichte
im Juni 1923 in der Frankfurter »Volksstimme« als Warnung einen Mobilmachungsplan der Freikorps. Im Dezember 1923 wurde gegen Quint ein Verfahren wegen Landesverrats eingeleitet - obschon sich Quints Vorschau mittlerweile im fränkischen Aufmarsch des putschenden Brigadiers Ehrhardt und im Münchner nationalsozialistischen Putsch vom November 1923 blutig realisiert hatte.
- Der württembergische SPD-Abgeordnete Steinmayer hatte der Landesregierung Material über geheime para-militärische Organisationen der schwäbischen Nationalsozialisten angeboten. Da die Regierung untätig blieb, schrieb Steinmayer in, der »Schwäbischen Tagwacht« über seine Beobachtungen. Zur Anklage karn es nur deshalb nicht, weil der Stuttgarter Landtag dem Oberreichsanwalt die Aufhebung von Steinmayers Immunität verweigerte:
- Der Heidelberger Privatdozent Gumbel veröffentlichte in der Zeitschrift »Die Menschheit« einen Artikel »Gibt es, eine schwarze Reichswehr?«,
der wörtlich aus dem rechtsradikalen Organ »Stahlhelm« übernommen war. Gegen Gumbel wurde ein Landesverratsverfahren eingeleitet, das erst nach Ablauf eines Jahres durch Einstellung, endete
Der letzte Fall ist insofern typisch, als kein Weimarer Staatsanwalt auf die. Idee gekommen war, etwa in, dem
»Stahlhelm«-Artikel eine »das Wohl des Reiches schädigende« Preisgabe von Staatsgeheimnissen zu erblicken. Nur das in viel geringerer Auflage erscheinende Pazifisten-Periodikum, dias den »Stahlhelm«-Artikel nachgedruckt hatte, erschien des Verratsdelikts verdächtig.
Indes, nicht nur die einseitige Stoßrichtung dieser Verfahren hätte die gutmeinenden Demokraten des Jahres, 1951 warnen müssen, als sie wiederum, eine Landesverratsnorm einführten, die, sich gleichermaßen auf staatsfeindliche Spione wie auf staatsfreundliche Journalisten anwenden läßt.
Auch die rechtliche Fragwürdigkeit der - durchweg geheimen - Gutachten war angesichts der Vergangenheit offenkundig.
Beispielsweise gutachtete im Landesverratsverfahren gegen den persönlich untadeligen, freilich streng republikanischen Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen, Zeigner, der öffentlich gegen die »schwarze Reichswehr« aufgetreten war, ein Oberst Gempp aus dem Reichswehrministerium. Gempp war für die Fragen der illegalen Aufrüstung in der Tat kompetent: Er organisierte nämlich diese Aufrüstung, unterderhand freilich.
Die Paradoxie hätte nicht schlimmer sein können. Der Reichsminister Stresemann vertrat guten Willens eine Politik der Verständigung, hatte allen Anlaß, die Freikorps zu fürchten, und leugnete dem Ausland gegenüber konsequent deren Existenz. Der Oberst Gempp aber bestätigte in seiner Expertise die Zusammenarbeit zwischen legaler Truppe und illegalen Organisationen und behauptete, der Hinweis auf diese Organisationen schädige das Wohl des Reiches. Der Oberreichsanwalt machte sich die Auffassung des Reichswehrministeriums zu eigen.
Allen Verfahren war mehr oder weniger gemeinsam,.
- daß sie schleppend geführt und die
Betroffenen unterdes in Untersuchungshaft gehalten wurden,
- daß sie eingeleitet wurden, obschon
häufig von vornherein hätte ersichtlich sein sollen, am Ende könne lediglich Einstellung oder Freispruch stehen, und
- daß sie unter Ausschluß der Öffentlichkeit abgewickelt wurden, daß sich aber schon im Stadium der Ermittlungen die Behörden einer ausladenden Publizität befleißigten, während die Prozeßbeteiligten durch Schweigegebote sogar daran gehindert wurden, öffentlich ihre Unschuld zu beteuern.
In der Praxis war das Reichswehrministerium absoluter Herr der Landesverratsprozesse.
Das Reichsgericht erklärte nicht nur die Aufdeckung illegaler Zustände für strafbar, es verurteilte auch wegen Berichte über öffentliche Landtagssitzungen, obschon die Reichsverfassung in ihrem Artikel 30 dies ausdrücklich verbot, und es ging schließlich so weit, den Nachdruck ausländischer Berichte über deutsche Verhältnisse unter Strafe zu
stellen, wiewohl doch der Landesverrats-Tatbestand damals wie heute verlangte, daß das Wohl des eigenen Staates dadurch gefährdet sein mußte, daß dem Ausland ein Geheimnis offenbart worden war.
Die Nationalsozialisten, die alles andere denn einen demokratischen Staat und eine freie Presse anstrebten, hatten natürlich keinen Anlaß, an dieser Praxis etwas zu ändern.
Im Gegenteil: Sie erweiterten und verschärften die Landesverrats-Bestimmungen noch. Vor allem führten sie - 1934 - den Tatbestand des »Fahrlässigen Landesverrats« ein (heute Paragraph 100 c).
Die Zutat enthob die Richter der - Insbesondere bei literarischem Landesverrat - schwierigen Aufgabe, vor jeder Bestrafung den für die Anwendung der Grundnorm nun einmal notwendigen Vorsatz nachzuweisen. Obschon
nämlich das Reichsgericht den Begriff des »bedingten Vorsatzes« (der Täter strebt den Erfolg zwar nicht direkt an, nimmt ihn aber billigend in Kauf) bei Landesverrat unvorstellbar ausgedehnt hatte, kam es eben doch häufig zur Einstellung von Verfahren, weil sich selbst bei bestem Willen kein Täter-Vorsatz konstruieren ließ.
Nach Einführung des Tatbestandes Fahrlässiger Landesverrat« aber war die Strafbarkeit im Sinne der Exekutive eher gewährleistet. Die objektiven Voraussetzungen - »Staatsgeheimnis« und »Gefährdung des Staatswohls« - stellte der regierungsabhängige Gutachter fest. Der Schuldnachweis konnte dem Gericht nun nicht mehr so viel Mühe machen.
Dabei ist schon der Begriff »Fahrlässiger Landesverrat« mehr als problematisch: »Verraten« im Wortsinne kann nur, wer den Willen dazu hat. Das deutsche Recht kennt auch keinen »fahrlässigen Betrug«.
Und bezeichnenderweise findet sich weder im Strafgesetzbuch noch in den Nebengesetzen mit Strafbestimmungen irgendein Geheimnisdelikt, das fahrlässig
begangen werden kann: Weder ist die fahrlässige Verletzung des Briefgeheimnisses (Paragraph 299 StGB), noch die des Geschäfts- und Betriebsgeheimnisses (Paragraph 17 »Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb") strafbar. Fahrlässige Geheimnisverletzung wird lediglich dann verfolgt, wenn der Täter ein besonders verpflichteter Geheimnisträger ist (beispielsweise nach den Paragraphen 353 b, Verletzung der Amtsverschwiegenheit, und 353 c, Mitteilung amtlicher Schriftstücke). Hier aber wird im Grunde die Achtlosigkeit gegenüber der Verpflichtung geahndet.
Auch das demokratische Ausland bestraft meist die fahrlässige Verletzung eines Staatsgeheimnisses nur dann, wenn dem Täter - etwa dem Offizier, der seine Aktentasche liegen ließ - das Geheimnis dienstlich anvertraut war. So ist die Praxis in Amerika, so ist sie aber auch in Frankreich.
Soweit andere Staaten der Sache nach den fahrlässig begangenen Geheimnisbruch an nicht beamteten Tätern verfolgen, wird logischerweise in diesen Fällen nicht von »Landesverrat« gesprochen, sondern eben von »fahrlässiger Geheimnisverletzung«.
Die Sowjet-Union freilich und die Volksdemokratien kennen das Delikt »Fahrlässiger Landesverrat«.
Hitler hatte seine perfekte Landesverrats-Guillotine nicht nur aus Demonstrationsgründen montiert. Von 1934 an arbeitete sie unentwegt - in den seltensten Fällen freilich gegen wirkliche Agenten.
Beispielsweise verurteilte der Vierte Senat des Volksgerichtshofes im Juli 1935 den Berliner Journalisten Walter Schwerdtfeger wegen vorsätzlichen Landesverrats in einem Fall und fahrlässigen Landesverrats in zwei Fällen zu lebenslänglichem Zuchthaus. Schwerdtfeger hatte einem österreichischen und einem französischen Kollegen über Sprachregelungen berichtet, die von der Reichsregierung auf ihren regelmäßigen Pressekonferenzen ausgegeben worden waren. Unter anderem hatte er erzählt, daß angeordnet worden sei, künftig über die der Industrie auferlegte Ausfuhrförderungsumlage nichts mehr zu schreiben.
Solche »Sprachregelungen« schlugen sich alsbald in der gleichgeschalteten deutschen Presse nieder und konnten schon deshalb allenfalls in einer Diktatur als »Staatsgeheimnis« gelten.
Furchtlos aber übernahm das Parlament der Bundesrepublik sechs Jahre nach Kriegsende dieses nationalsozialistische Landesverratsrecht in die demokratische Gegenwart. Und nur der Zentrumsabgeordnete Reismann erklärte vor dem Plenum: »Wir (knüpfen) daran die Erwartung, daß es einem Richterstand und einem Stand von Staatsanwälten in die Hand gegeben wird, die sich bewußt sind, was für eine Aufgabe ihnen hiermit anvertraut ist, Richtern und Staatsanwälten, die mit dem demokratischen Staat Unserer Tage innerlich verbunden sind.«
Soweit Reismann freilich damit auf die politische Justiz der Weimarer Republik anspielte;tat er etwas Überflüssiges. Die bundesrepublikanischen Richter nämlich erwiesen sich, anders denn viele ihrer Kollegen in den zwanziger Jahren, als durchaus staatstreu. In bester Absicht begaben sie sich an die Verteidigung der neuen Demokratie.
Was der Abgeordnete Reismann allerdings übersehen hatte, war der dialektische Prozeß, den der Paragraphen -Nachlaß der Diktatur notwendigerweise auslösen mußte.
Nach dem Gerichtsverfassungsgesetz ist die gesamte politische Rechtsprechung auf den Dritten Strafsenat beim Bundesgerichtshof ausgerichtet. Der Senat ist zugleich unterste und oberste Instanz, gegen seine Entscheidung gibt es kein Rechtsmittel, seine Verhandlungen sind zumeist nicht öffentlich. Nur für weniger qualifizierte politische Delikte sind bei den Oberlandesgerichten spezielle Senate gebildet worden
Dem Dritten Senat des Bundesgerichtshofes entsprechen bei der Bundesanwaltschaft bestimmte Bundesanwälte, die, ebenfalls exklusiv und über Jahre hinweg, die Anklagen in Staatsschutzsachen erheben.
Die politische Rechtsprechung konzentrierte sich zuerst ausschließlich auf Kommunisten und Agenten. Das »Superschutzsystem«
sah aber auch die Strafbarkeit der Helfershelfer, Zuträger und letzten Endes sogar der Mitläufer der »Staatsfeinde« vor. Und bald ergingen die ersten Urteile gegen Nichtkommunisten, etwa gegen den Pfarrer im Ruhestand Oberhof und den Diplom-Dolmetscher Diehl, die beide als »politische Pazifisten« dem »Friedenskomitee« angehört hatten.
Auf dem Sektor des Landesverrats wurden die objektiven Elemente des Tatbestands, nämlich »Staatsgeheimnis« und »Gefährdung des Wohls der Bundesrepublik«, womöglich noch weiter ausgedehnt.
Der Bundesgerichtshof und die seiner Rechtsprechung folgenden Politischen Senate der Oberlandesgerichte bekannten sich nicht nur zum »relativen Staatsgeheimnis« des alten Reichsgerichts, sondern übernahmen auch dessen merkwürdige »Mosaik-Theorie«, wonach die Zusammenstellung und Weitergabe längst bekannter Tatsachen Geheimnisverrat sein kann:
- Auch solche Tatsachen sind, als
geheim anzusehen, die zwar der fremden Nachrichtenstelle bereits bekannt sind, jedoch noch einer Bestätigung oder - wie bei Nachrichtendiensten unerläßlich - einer laufenden Überprüfung bedürfen (Kammergericht, 21. Juli 1955).
- Für sich gesehen mögen die Einzelheiten jedermann leicht zugänglich sein; die militärisch wesentliche Zusammenfassung ist es nicht. Daß das Staatsgeheimnis auf diese Weise aufgrund von Einzelerkundungen
gleichsam erst geschaffen wird und die Möglichkeit einer solchen Zusammenfassung an sich ohne Überwindung besonderer Hindernisse besteht, schließt die Anwendung des Paragraphen 99 StGB nicht aus (BGH, 27. Januar 1955).
Diese »Mosaik-Theorie« hat allenfalls dann einen Sinn, wenn sie dazu dienen soll, einen Agenten zu packen, der sein Land verraten wollte.
Unabhängig aber von den Vermächtnissen des Reichsgerichts setzte der Geheimnisschutz im Kalten Krieg auch noch Jahr um Jahr neue Ringe an:
- Die Bereitschaft einer Person, die Kenntnis von geheimen und geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen hat, zur Preisgabe ihres Wissens an einen Unbefugten ist ein Staatsgeheimnis (BGH, 22. Oktober 1954).
- Namen und Tätigkeit geheimer Vertrauensleute der politischen Polizei stellen ebenso wie die der V-Leute der Verfassungsschutzämter Staatsgeheimnisse dar (OLG Hamm, 22. Dezember 1956).
- Die Absichten einer politischen Partei
der Bundesrepublik, ihre, Einstellung zu außenpolitischen Fragen und die allgemeine Stimmung in einer Partei können unter Berücksichtigung der politischen Lage geheimhaltungsbedürftig sein (OLG Karlsruhe, 5. Februar 1957).
- Die Tatsache, daß der Bundesgrenzschutz
- nicht nur nach den Behauptungen
der Bundesregierung - nicht mit schwereren Waffen als mit leichten Maschinengewehren ausgerüstet ist, sowie der genaue Personalbestand einer Hundertschaft, sind geheimhaltungsbedürftig (Bayrisches ObLG. 21. September 1958).
So war es dahin gekommen, daß sich dem Landesverratsvorwurf aussetzte, wer bezüglich der Bewaffnung des Bundesgrenzschutzes die Behauptungen der Bundesregierung wiederholte, und daß rein innenpolitische Fragen, wie die Stimmung in einer Partei, zum Staatsgeheimnis deklariert wurden.
Solche Praxis bei den Spionagefällen mag indes noch angehen, da ja der Ansatz eines Agenten immerhin dafür spricht, daß der gegnerische Nachrichtendienst die betreffende Information
noch nicht besitzt; wer im Auftrag Informationen sammelt, weiß überdies, daß er etwas Verbotenes tut. Anders aber liegt der Fall bei einem Journalisten, der sich an der öffentlichen Diskussion über militärische Probleme beteiligt: Solange er lediglich zugängliche oder gar schon veröffentliche Informationen verwertet, kann er sich in einer Demokratie nicht strafbar machen
Tatsächlich hat denn auch der Bundesgerichtshof bislang die für den Kampf gegen Agenten geschärfte Waffe seiner Landesverrats-Rechtsprechung noch niemals gegen Presseorgane gebraucht.
Es gibt für diese Zurückhaltung verschiedene Gründe. Der langjährige Generalbundesanwalt Güde, der den Leidensweg der Weimarer politischen Justiz kennt, plädierte stets für Abstinenz. In Grenzfällen bemühte er sich um stillschweigende Erledigung - meist durch Verwarnung des allzu eingeweihten Journalisten.
Auf der anderen Seite wußte das Bundesverteidigungsministerium, ohne dessen Mitwirkung kein Verfahren wegen literarischen Landesverrats in Gang
kommen kann, daß alle wesentlichen Informationen aus dem eigenen Bereich oder wenigstens aus dem Bereich der Nato stammen mußten.
Freilich, die Bonner Verteidigungskonzeption wurde bis auf den heutigen Tag mit detaillierten Angaben auch nur von Blättern erörtert, die vom Verteidigungsministerium inspiriert waren. Wurde an der militärischen Konzeption Kritik geübt, dann geschah es stets ohne Details - und damit eben auch ohne viel Überzeugungskraft. Der SPIEGEL jedoch befaßte sich erstmals sowohl gründlich als auch kritisch mit der Planung des abgegangenen Verteidigungsministers.
Auf die Intentionen des Verteidigungsministeriums allein aber kann es in einem Staate, dessen Grundgesetz sowohl die Gewaltenteilung wie die Volkssouveränität garantiert, nicht mehr ankommen. Hier liegt denn auch der entscheidende Grund für die Behutsamkeit, der sich die westdeutsche Justiz in Landesverrats-Prozessen gegen die Presse befleißigt.
Dazu tritt nun eine Entwicklung, die sich jenseits der deutschen Paragraphen und der deutschen Grenzen vollzieht. Der Begriff des Staatsgeheimnisses, insbesondere des militärisch-technischen Geheimnisses, beginnt sich vor den Augen der konservativen europäischen Regierungen aufzulösen. Amerikanische Mathematiker und Statistiker sind dabei, »das Prinzip der offenen Welt« als gewissermaßen naturwissenschaftliches Gesetz zu verkünden - und zu beweisen.
Nach dem Militärtheoretiker Oscar Morgenstern ("Theorie der Spiele") ist es schon jetzt nicht mehr möglich, wesentliche wissenschaftliche Erkenntnisse, auf denen im Grunde das Verteidigungs-Potential allein beruht, mit der alten Geheimhaltungstechnik zu monopolisieren. Wollte ein Staat dies versuchen, so würde er notwendigerweise
seinen eigenen wissenschaftlichen Apparat lahmlegen.
Denn: Jede Fortentwicklung auf einem Gebiet setzt heute eine ungeheure Menge von Informationen aus anderen Gebieten voraus, die frei verfügbar sein müssen.
Der Mannheimer Soziologe Eduard Baumgarten pflichtete in der Wochenschrift »Die Zeit« dem Amerikaner bei: »Der Verzicht auf Geheimhaltung ist keine Methode, welche eine Seite allein wählen könnte, nur weil sie gesinnungsmäßig Geschmack daran findet. Daß dieser Verzicht sich technisch langsam anbahnt, wird... auch von den Sowjets gesehen und ist für sie eine härtere Nuß als für uns.«
Angesichts solcher Perspektiven muten Regierungen provinziell an, die
etwa bestimmte Manöverergebnisse für geheim erklären ließen, die nach den Gesetzen der Logistik in einem gegnerischen Planspiel gleicher Ausgangslage ebenfalls gewonnen werden müßten.
Echtes Staatsgeheimnis, freilich jeweils nur auf kurze Zeit, können in dieser hochgradig uniformen Welt allenfalls noch gewisse technische Entdeckungen oder bestimmte Planungen sein wie etwa ein neuer Fest-Treibstoff, die Blaupause für einen Senkrechtstarter oder die Planzielkarte des ersten atomaren Vergeltungsschlages. Die Engländer beispielsweise veröffentlichten unlängst ganz unbefangen die Pläne eines neuen Landungsschiffes. Offenbar gingen sie davon aus, daß sich für den Gegner die Frage, ob er solche Schiffe baut, nicht danach beantwortet, ob er sie konstruieren kann, sondern danach, ob er sein industrielles Potential dafür einsetzen will und kann. Die Amerikaner ließen alle ihre Raketentypen auf der Abschußrampe photographieren.
Ganz allgemein hat sich bei den Nato -Verbündeten eine neue und großzügige Vorstellung von dem durchgesetzt, was geheimhaltungswürdig und geheimhaltungsfähig ist.
Über die bis dahin größte alliierte Truppenübung des Oberkommandos Nord-Europa, das Nato-Manöver »Hold fast« im September 1960, erschien beispielsweise einen Monat später - mit Billigung der alliierten Presseoffiziere
- in der westdeutschen Zeitschrift »Wehrkunde« ein ebenso wohlinformierter wie instruktiver Aufsatz. Ausgangslage, Entwicklung, Einsatzräume der Korps, ja sogar die Erfahrungen aus einer Luftlandung und einer amphibischen Landung wurden kartenmäßig (vergleiche die Reproduktion auf Seite 30) und im Text jedem unterbreitet, der bereit war, das Heft zu erstehen.
Oder: Die auch sonst mit militärischen Informationen aus den Vereinigten Staaten gut dotierte Schweizer Zeitschrift »Interavia« publizierte in ihrer Nummer 3/1961 (vergleiche die obige Reproduktion) eine komplette Tabelle der einsatzfähigen amerikanischen Raketen, jeweils mit Herstellerfirma, Schubkraft sowie Führungssystemen.
Oder: In Auswertung frei zugänglicher amerikanischer Quellen konnte »Interavia« im Herbst vergangenen Jahres eine Karte (vergleiche Reproduktion auf Seite 32) veröffentlichen, aus der sich die Standorte der gesamten verbunkerten atomaren Fernraketen der USA erkennen lassen. Der ausführliche Begleittext erörterte Sprengwirkung, Einsatzmöglichkeiten und schließlich auch die - katastrophalen - Auswirkungen eines atomaren Duells der Großmächte auf die Zivilbevölkerung.
Nachdem die bundesrepublikanische Verteidigung in jeder Hinsicht von der militärischen Kraft der Amerikaner ababhängt, ist es nicht mehr möglich, in diesem Vorfeld von Geheimhaltungsregeln auszugehen, die im Zentrum der westlichen Verteidigung als überholt gelten. Ungerührt aber wurden jüngst in der Bundesrepublik noch Sprachregelungen für Parteiredner zum Thema »Pressefreiheit und Landesverrat« verteilt, die aus einer sowohl vordemokratischen
wie auch voratomaren Periode zu stammen scheinen.
Nach der Feststellung, daß sich der SPIEGEL außerhalb der Spielregeln stelle, »die für das menschliche Zusammenleben gelten«, findet sich in ihnen unter anderen folgende Begründung für den Landesverrats-Vorwurf: »Da liest man, daß nach dem Ergebnis der unter Fallex 62 gelaufenen großen Stabsübung der Nato weder Hamburg noch Hannover noch München ernstlich verteidigt werden könnten.«
Hier soll suggeriert werden, daß derartige Feststellungen als »Verrat von Staatsgeheimnissen« zu gelten hätten. Mit anderen Worten: Niemand soll offenbar in der Bundesrepublik nach Abschätzung des militärischen Kräfteverhältnisses undEinschätzung der militärischen Planung eine Meinung darüber äußern dürfen, ob München. Hannover oder Hamburg verteidigt werden können oder nicht.
Nun sind Redner-Rundbriefe auch dann nicht maßgeblich, wenn sie von der Regierungspartei herausgegeben werden. Aber sie legen doch das Problem frei, das den Kern aller Prozesse wegen literarischen Landesverrats bildete, seit Bismarck den Geheimen Justizrat Geffcken wegen der Veröffentlichung des kaiserlichen Tagebuchs ins Untersuchungsgefängnis einliefern ließ.
Um so stärker aber tritt das Problem der Gutachter-Objektivität in den Vordergrund. Denn bei ihnen hat es sich in der Vergangenheit jeweils so gefügt, daß Ihr Sachverstand mit den politischen Intentionen ihres Auftraggebers parallel ging.
Ende November vergangenen Jahres urteilte beispielsweise der Oberst a.D. von Bonn, bis Ende 1953 Chef der militärischen Planung im Amte Blank, über die SPIEGEL-Geschichte »General Foertsch - Bedingt abwehrbereit": »Ich habe in diesem Artikel weder beim ersten Durchlesen noch nachher bei näherem Studium auch nur eine Spur von Landesverrat finden können. Alles, was da drin steht, bedeutet für mich, der ich seit mindestens sieben
Jahren nichts mehr mit dem Verteidigungsministerium und überhaupt mit diesem Sachgebiet zu tun habe, nichts Neues, sondern ich habe das alles - sei es aus Zeitungsmeldungen, sei es aus eigenen Überlegungen - gewußt.«
Die Gutachter des Bundesverteidigungsministeriums müssen jedoch zum genau entgegengesetzten Ergebnis gekommen sein, sonst hätte die Bundesanwaltschaft nicht gegen den SPIEGEL in Aktion treten können.
Solche Diskrepanzen aber sind, auch wenn nicht Zuchthausstrafen auf dem Spiele stehen, schmerzlich. Denn tatsächlich ist das Gericht in Landesverratsverfahren mehr oder minder auf die fremde Beweiswürdigung angewiesen, weil es über das, was Staatsgeheimnis sein soll, keine bessere Sachkenntnis besitzen kann als der vom Ministerium benannte Sachverständige.
Kommentierte der Rechtsanwalt Dr. Pitzer in der »Neuen Juristischen Wochenschrift« (NJW): »Es gehört nicht zur Funktion der vollziehenden Gewalt, gewissermaßen durch ein Präjudiz die Rechtsprechung zu binden. Der Richter ist... nur dem Gesetz unterworfen.«
Für »verfassungsmäßig unbedenklich« hielte es Pitzer hingegen, wenn sich das Gericht von der gesetzgebenden Gewalt, nämlich vom Parlament, berichten ließe, was als geheim betrachtet werden muß. Begründung: »Die Abhängigkeit der Gerichte von Entscheidungen des Parlaments ist verfassungsmäßig, zumal wenn man davon ausgeht, daß das Gericht das Gesetz durch seinen Ausspruch vervollständigt.«
Dieses Vorgehen allein biete in Landesverratsprozessen die Gewähr, daß es um den Begriff des »Staats«-Geheimnisses und nicht etwa um den des »Regierungs«- Geheimnisses geht: »Warum sollte nicht ein Parlamentsausschuß dem Bundesgerichtshof das Gutachten erstatten? Es ist hier an den Ausschuß für Verteidigungsfragen zu denken.«
Auch dem Hamburger Privatdozenten Fuß, der in der NJW die erste - vorläufige - Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zum SPIEGEL -Fall kommentierte, fiel die verfassungsrechtliche Problematik der Ministergutachten auf. Aus der Feststellung, das Verfassungsgericht habe an die »intensive Beachtung« der Grundrechtsnormen erinnert, zog Fuß die Konsequenz: »Strafverfolgungsbehörde und Gericht (müssen), wenn irgend möglich, einen Sachverständigen auswählen..., der nicht durch ein öffentliches Dienstverhältnis an den Staat gebunden ist.«
An praktikablen Vorschlägen dafür herrscht mittlerweile kein Mangel mehr. Der katholische Publizist Paul Wilhelm Wenger ("Rheinischer Merkur") beispielsweise regte an, als ständige Gutachterinstanz ein Dreiergremium einzurichten - aus dem dienstältesten General der Bundeswehr, dem jeweiligen letzten Präsidenten des Bundesgerichtshofes und dem Vorsitzenden des Rechtsausschusses des Bundestages.
Doch die Verfahren wegen literarischen Landesverrats haben noch eine zweite Seite: Durch die bisherige Gutachter-Praxis werden verfahrensfremde, weil politische Elemente für die Beurteilung der Sache relevant. Wo aber politische Überlegungen - auch nach der Meinung des ehemaligen Generalbundesanwalts Güde - bedeutsam wären, können sie nicht angestellt werden: Bei der Frage nämlich, ob ein Verfahren im wohlverstandenen Interesse des Staates überhaupt eingeleitet werden soll.
Nach dem Willen des Gesetzgebers wie auch nach dem Wortlaut des Gesetzes dienen die Landesverrats-Bestimmungen dazu, das Wohl des Staates gegen Verletzungen und Gefährdungen zu schützen. In Wirklichkeit aber hat keines der bekanntgewordenen Verfahren dem Wohle des Kaiserreiches oder dem der Republik von Weimar genützt. Vielmehr haben gerade diese Prozesse dem Ansehen Bismarcks und seines Reiches und später dem der ersten deutschen Republik Abbruch getan.
Nach dem Urteil gegen Carl von Ossietzky, den das Reichsgericht als Landesverräter abstempelte, weil er in seiner Zeitschrift »Weltbühne« gegen die illegale Aufrüstung aufgetreten war,
bemerkte der Jurist Rudolf Olden im »Berliner Tageblatt": »Außenpolitische Gründe hätten geradezu einen Freispruch bedingen müssen.« Das war 1931.
Demonstrativ verlieh fünf Jahre später das norwegische Komitee dem inzwischen in ein Konzentrationslager übergeführten Häftling Ossietzky den Friedensnobelpreis.
Tatsächlich ist die Frage, ob gegen ein Presseorgan strafrechtlich vorgegangen
werden soll, nahezu in jedem Fall von politischer Bedeutung. Die Antwort kann, insbesondere in einer Umwelt mit ausgeprägt demokratischen Traditionen, nicht auf die Justiz abgeschoben werden. Die Justiz ist auch gar nicht in der Lage, auf diesem Gebiete Entscheidungen zu treffen: Sie ist ja an das Gesetz gebunden.
In der benachbarten Schweiz etwa sind die Strafbestimmungen für militärischen Geheimnisverrat ähnlich streng wie in der Bundesrepublik. Ob aber ein bestimmter Fall aufgegriffen wird, entscheidet nicht die Staatsanwaltschaft, sondern das Kabinett durch Kollegialbeschluß. Maßgeblich ist die politische Zweckmäßigkeit.
In England läßt der Attorney General das Verfahren eröffnen. Er ist zwar einerseits Regierungsmitglied, andererseits aber nicht Regierungsrepräsentant, und er vertritt - im Unterschied zum deutschen Generalstaatsanwalt - den Staat auch gegen die Regierung. Der Attorney General entscheidet auf Grund einer Interessenabwägung.
Ganz allerdings hat sich auch der deutsche Gesetzgeber der Einsicht nicht verschlossen, daß bei Staatsschutzprozessen nicht durchaus schematisch vorgegangen werden dürfe. Die Strafprozeßordnung erlaubt in ihrem Paragraphen 153 c dem »Oberbundesanwalt mit Zustimmung des Bundesgerichtshofes« oder - nach Erhebung der Klage - dem »Bundesgerichtshof mit Zustimmung des Oberbundesanwalts« von dem Verfahren abzusehen, »soweit die Durchführung des Verfahrens über die in der Tat
selbst liegende Gefährdung hinaus die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigen würde«.
Praktisch kann freilich durch Landesverratsprozesse gegen Journalisten nur das »Ansehen« der Bundesrepublik geschädigt, ihre »Sicherheit« aber kaum beeinträchtigt werden: Die Bestimmung ist in ihrer jetzigen Fassung viel enger als es die eidgenössische oder die britische Regelung sind.
Freilich, Strafgesetzbuch und Strafprozeßordnung stammen aus dem vorigen Jahrhundert. Die konstitutionelle Monarchie Bismarcks, die ihrem Wesen nach Obrigkeitsstaat war, prägte sie. Dagegen hat das Grundgesetz der Bundesrepublik, dem das wahlberechtigte Staatsvolk als Souverän gilt, die Freiheit der Meinungsbildung und - ihren Kern - die Pressefreiheit absolut gesichert.
Die Bundesrepublik näherte sich mit dieser Regelung dem Verfassungsvorbild der Vereinigten Staaten, das allerdings nicht ganz erreicht wurde. Die Väter der amerikanischen Verfassung, die nach britischen Gesetzen einmal fast ausnahmslos selbst des Landesverrats schuldig waren, hatten es nicht dabei bewenden lassen, die Pressefreiheit und das Recht auf Opposition verfassungsmäßig zu garantieren. Sie unternahmen den weiteren Schritt, die Landesverrats -Norm schon vom Tatbestand her entscheidend zu beschränken: Wegen Landesverrats - kann in Nordamerika praktisch nur bestraft werden, wer direkt den Feind begünstigt.
Präsident Madisons historisch gewordene Begründung: »Es könnte vorkommen, daß Verrat an den Vereinigten Staaten geübt wird, und unsere Behörden sollten das bestrafen können. Da aber eigens erfundene, vorgebliche Verratsdelikte als scharfe Waffen in der Hand mächtiger, unabhängiger Gruppen, auf die sich jedoch eine freie Regierungsform natürlicherweise gründet, für gewöhnlich nur dazu gedient haben, einander übel mitzuspielen, hat der Konvent dieser Gefahr mit unbestechlichem Urteil einen Riegel vorgeschoben, indem er eine verfassungsmäßige Definition für diese Verbrechen gab, die zur Überführung nötigen Beweise festlegte und dem Kongreß verbot, die Folgen aus dem Schuldigwerden, auch während er dieses bestrafte, über die Person des Urhebers hinauswirksam zu machen.«
Die amerikanischen Gerichte hielten sich an die Maxime. Noch im Jahr 1944, im Krieg, entschied beispielsweise der Oberste Gerichtshof: »Es kann sogar vorkommen, daß ein Bürger der Vereinigten Staaten Handlungen vornimmt, die dem Feind durch Kritik an der Regierung oder ihrer Maßnahmen wirklich nützen - stellt aber der Bürger sich dabei nicht bewußt auf die Seite des Feindes und hat er nicht den Vorsatz, sein Land zu verraten, dann liegt kein Landesverrat vor.«
Für die Bundesrepublik formulierte das demokratische Spannungsverhältnis zwischen notwendigem Geheimnisschutz und unverzichtbarer öffentlicher Aufklärung der Bundestagsabgeordnete Arndt kürzlich so: »Zeigt ein Manöver bedenkliche Mängel oder Schwächen zu unserer militärischen Verteidigungskraft, so kann es einerseits ein militärisches Interesse daran geben, dies den möglichen Gegner nicht wissen zu lassen, andererseits ein staatspolitisches Interesse daran, die Öffentlichkeit zu alarmieren und die Lage zu diskutieren.«
Arndts Folgerung: »Das militärische Geheimnis zieht nicht... ohne weiteres der Pressefreiheit eine 'natürliche' Grenze, sondern umgekehrt kann die Pressefreiheit dem militärischen Interesse am Schweigen eine demokratische Schranke setzen.«
Härter noch forderte der Bonner Professor Ridder eine Revision überholten Denkens. Ridder erklärte geradezu, die Grundordnung der Bundesrepublik setze öffentliche Erörterung des Regierungsprogramms und insbesondere der Verteidigungskonzeption voraus. Solche Diskussion aber sei nur möglich, wenn eine umfassende Information gewährleistet werde.
Verfassungsrechtler Ridder: »Es kann sich die paradoxe Folgerung ergeben, daß eine kleine Bagatellsache geheim gehalten werden muß, während bei größeren Dingen... aus dem Gesichtspunkt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung heraus ein Bedürfnis dafür besteht, das weniger geheim zu halten.«
Der Ansicht Ridders trat der Berliner Flechtheim, Professor für politische
Wissenschaften, uneingeschränkt bei: »Müssen wir nicht, können wir nicht verlangen, daß wir über den wesentlichen Charakter eines Krieges informiert werden? Die Demokratie würde ja aufhören, wenn wir dazu nichts sagen dürften.«
Genau dies, die ebenso spezifizierte wie unnachsichtige Kritik an offenkundigen Fehlern der Verteidigungspolitik gehört in den angelsächsischen Ländern längst schon zu den Aufgaben der Presse:
- 1915, mitten im Kriege, veröffentlichte Lord Northcliffe in seinen Blättern schockierende Einzelheiten über Mängel der britischen Munitionsversorgung, die fraglos für die Mittelmächte aufschlußreich waren; die Mängel wurden abgestellt, die Krone dankte dem Lord.
- 1944 verglich der amerikanische Militär-Schriftsteller Baldwin den amerikanischen Standard-Panzer »Sherman« mit dem deutschen »Tiger« - bis in das letzte technische und waffenkundliche Detail. Baldwins Analyse hatte den Erfolg, daß vom Pentagon beschleunigt Verbesserungsaufträge erteilt wurden.
- Im Jahre 1960 diskutierte die der Eisenhower-Regierung kritisch gegenüberstehende amerikanische Presse monatelang die »Raketenlücke«. Die Blätter enthüllten, ebenfalls mit technischen Einzelheiten und umfassenden Zahlenangaben, amerikanische Unterlegenheit. Das »Missile gap« wurde zum Wahlkampfargument und trug zu, Kennedys Erfolg bei. Heute, Anfang 1963, ist die Raketenlücke geschlossen.
Als in der Bundestagssitzung vom 7. November die parlamentarische Opposition Aufschluß über die SPIEGEL -Aktion verlangte und sich das Recht nahm, bestimmte Rechtswidrigkeiten, wie etwa die Verhaftung in Spanien,
ans Licht zu ziehen, rief Innenminister Höcherl: »Glauben Sie denn, meine Damen und Herren,... daß in Amerika und in England eine solche Szene bei einem offenen Verfahren möglich wäre? Glauben Sie das?«
Der Innenminister der Bundesrepublik Deutschland hatte auf unbeabsichtigte Weise recht. Verfahrensverstöße in einem Landesverratsverfahren gegen die Presse sind schon aus dem Grunde in diesen Demokratien nicht nachweisbar, weil weder in England noch in Amerika seit Menschengedenken je ein Presseorgan in ein Landesverrats-Verfahren verwickelt wurde.
* Mayer verteidigte kürzlich im Bulletin der Bundesregierung, die Amtshelferschaft des damals amtierenden Verteidigungsministers Franz-Josef Strauß, die zur Festnahme des SPIEGEL-Redakteurs Ahlers in Spanien führte.
* Schmid hatte sich durch den SPIEGEL angegriffen gefühlt und seinerseits in einer Zeitung scharf gegen den SPIEGEL polemisiert. Der SPIEGEL gewann den Beleidigungsprozeß, erfuhr aber vor dem Verfassungsgericht, daß der Angriff Schmids durch die Pressefreiheit gedeckt und daher nicht rechtswidrig gewesen sei.
Rechtsexperte Arndt (1951): In der Demokratie...
... ein Paragraphen-Nachlaß: Adenauer (1962) in der SPIEGEL-Fragestunde des Bundestags
Tagebuch-Autor Friedrich III.: Verrat am Reich?
Tagebuch-Veröffentlicher Geffcken
Untersuchungshaft für...
Verfolger Bismarck
... den politischen Gegner
Angeklagter von Ossietzky (M.) im Landesverratsprozeß (1931): Das Ausland dachte anders
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Ich weiß nicht, was soll, es bedeuten, daß ich so traurig bin; ein Märchen aus, uralten Zeiten« das kommt mir nicht aus dem Sinn...
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Daten-Tabelle der US-Fernraketen (aus »interavia") Wird Moskau getroffen? Standortkarte der amerikanischen Fernraketen-Botterien (aus »Interavia«, mit Originaltext): Man zeigt...
Einsatzbereite und im Bau befindliche ICBM-Stützpunkte in den USA*. Von »Atlas D« und »Atlas E« abgesehen, sind sämtliche Raketen in unterirdischen Schächten verbunkert. Um nur 90 Prozent der 750 »Minuteman«, die den USA In zwei Jahren zur Verfügung stehen werden , unschädlich zu machen, müßte ein potentieller Angreifer mindestens 20 000 (!) Interkontinentalraketen mit je 1 MT Sprengkraft aufwenden**. Die Zerstörungswirkung der verbleibenden 75 »Minuteman« würde noch ausreichen, um einen Vergeltungsschlag zu führen, der einige Dutzend Industrie- und Wohnzentren In Schutt und Asche legen könnte. (Grau gezeichnet sind die frühestens 1963 einsatzbereiten Stützpunkte.)
... was man hat: Atlas-Rakete auf Abschußrampe in Florida
* ICBM = Intercontinental Ballistie Missile.
** MT = Megatonne.