Zur Ausgabe
Artikel 19 / 58

PROPAGANDA Der Abzug

aus DER SPIEGEL 7/1957

In den vertraulichen Berichten der Deutschen Botschaft in Washington an das Bonner Auswärtige Amt taucht seit Dezember vergangenen Jahres immer häufiger der Name eines Mannes auf, mit dessen Wiedererscheinen in den Kulissen internationaler Politik außer ihm selbst niemand mehr gerechnet hatte: Hans Bernd Gisevius, ehemals Gestapo-Angehöriger, Widerstandskämpfer, bezahlter Geheimagent des amerikanischen Spionagedienstes im Kriege und Autor der politischen Kriminal-Groteske »Bis zum bitteren Ende«.

Gisevius gilt als Initiator jenes Unternehmens, das in den diplomatischen Depeschen über den Atlantik unter dem Stichwort »Abzugsdebatte« geführt wird und die offiziellen deutsch-amerikanischen Beziehungen in steigendem Maße belastet.

Offiziell datieren politische Beobachter in den Vereinigten Staaten den Ausbruch der »Abzugsdebatte« auf Anfang Dezember. Damals machte Präsident Eisenhowers Abrüstungs-Spezialist Harold Stassen führende Washingtoner Korrespondenten mit seinen Rückzugs-Ideen vertraut, und der demokratische Vorsitzende des amerikanischen Abrüstungs-Unterausschusses. Senator Hubert H. Humphrey aus Minnesota; schlug vor, Amerika solle gemeinsam mit der Sowjet-Union in Mitteleuropa eine demilitarisierte »Puffer-Zone« errichten.

»Über Nacht«, so berichtete der amerikanische Starjournalist William Harlan Hale (SPIEGEL 6/1957), hätten Kolumnisten und Radio-Kommentatoren vom Range eines Walter Lippmann (von der »New York Herald Tribune") und eines Eric Sevareid (vom »Columbia Broadcasting System") im Dezember diesen Kurs aufgegriffen.

Doch einen Monat zuvor, im letzten November, waren Kommentatoren wie Walter Lippmann und William Harlan Male aufmerksame Zuhörer eines Mannes mit faszinierender Rednergabe gewesen, nämlich des Hans Bernd Gisevius.

Als Unterlage für seine zahlreichen Unterhaltungen mit amerikanischen Politikern und Journalisten in New York und im fashionablen Washingtoner Hotel Dupont - einen Steinwurf von der Deutschen Botschaft entfernt - diente dem passionierten Kulissenschieber Gisevius in jenem November ein etwa 20 Seiten starkes Memorandum, in dem er seine Gedanken zur deutschen Wiedervereinigung niedergelegt hatte und das in eben jener Forderung gipfelte, die einen Monat später von Protagonisten und Statisten der amerikanischen Politik in Presse und Konferenzsälen zum Kummer des John Foster Dulles und Konrad Adenauers immer lauter erhoben wurde: Verhandlungen zwischen Moskau und Washington über einen Abzug der Truppen beider Mächte aus Deutschland als erster Schritt für eine deutsche Wiedervereinigung, ein europäisches Sicherheitssystem und eine allgemeine Abrüstung.

So konnte es geschehen, daß der Verdacht entstand, Hans Bernd Gisevius habe bereits im November jene Zündschnur in Brand gesteckt, die im Dezember zum offenen Ausbruch des »Rückzug«-Feuers an mehreren Stellen zugleich führte. Der geheimnisvolle Gisevius, der sich seit dem Krieg mit politischen Studien und finanziellen Transaktionen aller Art befaßte, die von der Entwicklung der Karibischen Inseln bis zur friedlichen Auswertung der Atomenergie reichten und ihn von Dallas in Texas bis nach Montreux am Genfer See führten, hat damit auf das Terrain zurückgefunden, dem eigentlich seine Leidenschaft gilt, auf das Terrain der politischen Konspiration. Dort, wo er seine erste Karriere dieser Art begann, will er es nun auch ein zweites Mal versuchen: Er ist dabei, mit Hilfe der Carnegie-Stiftung nach Berlin zu übersiedeln.

Gisevius hat allerdings für sein Comeback in den diplomatischen Untergrund einen hohen Preis entrichten müssen: Seinem Gönner und Protektor aus Kriegstagen, Allen Dulles, dem Chef des amerikanischen Nachrichtendienstes CIA und Bruder des amerikanischen Außenministers, schien die jüngste Aktivität seines ehemaligen Schützlings allzu schwer überschaubar; er entzog ihm deshalb seine Gunst.

Die unmittelbaren Auswirkungen der Aktivität des Gisevius sind jedoch nicht wegzuleugnen. Seine Anregungen sind in Washington auf fruchtbaren Boden gefallen. Über den von Gisevius unmittelbar angesprochenen Kreis amerikanischer Politiker und Kommentatoren hinaus hat sich die Abzugs- und Verhandlungs-Theorie nach einem Schneeballsystem in fast alle politischen Lager ausgebreitet.

Die Lawine

Nach dem Liberalen Hale und dem Kommentator Lippmann faßte in der Januar-Ausgabe der rechtsrepublikanischen »National Review« selbst der Kreuzzügler James Burnham seine Vorschläge für eine neue Politik so zusammen:

»Wiedervereinigung Deutschlands, Verhandlungen über die deutschen Ostgrenzen, Rückzug aller ausländischen Besatzungstruppen aus Zentral- und Ost-Europa, militärische Neutralisation des gesamten Terrains«. Und selbst die hartgesottene Scripps-Howard-Presse, allen intellektuellen Ideen abhold, erörterte im Januar die »policy of disengagement« in ihren Spalten.

Dieses fast lawinenartige Anwachsen der Diskussion über eine Entspannungs-Politik, die noch vor wenigen Monaten weitgehend verpönt war, hat zwei Gründe.

Den ersten hat der politische Fernsehstar Amerikas, Edward R. ("Ed") Murrow, mit der ihm eigenen Kürze formuliert: die Furcht der Vereinigten Staaten, durch einen Aufstand nach ungarischem Muster in der Sowjetzone in einen dritten Weltkrieg verwickelt zu werden.

Murrow sagte: »Die Sowjet-Union unterhält Truppen in Ostdeutschland. Wir und unsere Alliierten unterhalten Truppen in Westdeutschland. Wenn das Feuer in Europa ausbricht, werden diese Truppen wahrscheinlich zusammenprallen, und wenn sie zusammenprallen sollten, ist es wahrscheinlich, daß ein Weltkrieg im Gang ist.«

Der zweite Grund für die Zugkraft der Abzugs-Idee ist die Tatsache, daß irgendeine konstruktive Alternative nicht existiert: Es scheint erwiesen, daß der Status quo seit Ungarn neue Gefahren, aber keine neuen Lösungsmöglichkeiten in sich birgt.

Und ein dritter Weg ist weder von amerikanischer noch von deutscher Seite aufgezeigt worden. Erst in diesem Vakuum der westlichen Deutschlandpolitik konnten die Ideen des Hans Bernd Gisevius und der Amerikaner, die von ihm beeinflußt wurden oder selbst ähnliche Folgerungen aus der Situation zogen, ihren verführerischen Glanz erhalten.

»Eine janz törichte Frage«

Gisevius selbst schließlich hat darüber hinaus bei der Auswahl seiner Gesprächspartner offensichtlich nicht vergessen, auch das Allzumenschliche in sein politisches Kalkül einzubeziehen. So gehörte zu seinen journalistischen Gästen, denen er die Sinnlosigkeit von Konrad Adenauers Politik klarmachen wollte, auch der Leitartikler der »Washington Post«, Robert H. Estabrook, einer jener Journalisten, die vom amerikanischen Präsidenten beim Vornamen gerufen werden, dem aber der deutsche Bundeskanzler auf einer seiner letzten Pressekonferenzen in Washington öffentlich unbedacht antwortete: »Dat is aber eine janz törichte Frage, die da jestellt ist.«

Die deutsche, Botschaft in Washington ist in einer sorgfältig abgewogenen Analyse der »Abzugsdebatte« zu dem Schluß gekommen, daß die amerikanische Diskussion dieses Problems Ende Januar ihren Höhepunkt überschritten hat und - von der Nahost-Krise glückhaft überlagert - langsam abklingt, ohne die US-Regierung zu irgendwelchen Schritten in der geforderten Richtung gezwungen zu haben.

Allerdings wird dabei die Gefahr nicht verkannt, daß die amerikanische Regierung bei einem Wiederaufleben der Diskussion vom Druck der öffentlichen Meinung gezwungen werden könnte, in Sachen Deutschland einen neuen Kurs zu steuern. Es ist eine ironische Arabeske, daß ein Wiederaufleben der »Abzugs-Debatte« im Augenblick gerade von jenem Partner der USA am eifrigsten gefördert wird, der sie am meisten fürchtet: von der Bonner Bundesregierung.

In den nächsten drei Monaten soll sich eine Reisewelle Bonner Prominenter in die Neue Welt ergießen, so daß es Amerikas Politikern und Publizisten so gut wie unmöglich sein wird, sich nicht mit dem Deutschland-Problem zu beschäftigen.

Rückkehrer Gisevius

Heimweh nach dem Kurfürstendamm

Zur Ausgabe
Artikel 19 / 58
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren