DDR »Der Akt dauerte 5 Sekunden«
Das Fernschreiben an den Staatsanwalt des Bezirks Dresden war knapp gehalten. »am 5. 3. 54 findet in dresden eine hochzeit statt«, kündigte die Generalstaatsanwaltschaft der DDR aus Berlin an. »standesbeamte usw. übernimmt sfs. berlin.« Aber man möge doch »die nötigen unterlagen und utensilien vom standesamt usw. besorgen, damit der abtransport nach vollzug am freitag früh erfolgen kann. es handelt sich um paul rebenstock, geb. 7. 12. 05.«
Eine eigentümliche Trauung: Um 4.30 Uhr des 5. März 1954 wurde der ehemalige Leiter der Kreisdienststelle Prenzlau der Staatssicherheit von seiner Zelle in der Dresdener Untersuchungshaftanstalt I zum Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft geführt. Der stellte die Personalien fest, dann wies er den Scharfrichter an, seines Amtes zu walten.
»Verkündung dauerte 14 Sekunden«, heißt es im Protokoll. Anschließend schnallten der Henker und seine Helfer Oberkommissar Rebenstock auf der Guillotine fest, die wie in der Nazi-Zeit »Fallschwertmaschine« genannt wurde.
Wenn Ruth Böge an das Ende ihres Vaters denkt, raubt ihr das noch heute den Schlaf. »Ich stelle mir vor«, sagt die älteste Tochter des Hingerichteten, »wie sie ihm mit der Ramme den Kopf abgehauen haben - etwas Schlimmeres gibt es nicht.«
Sie ist 62 Jahre alt und lebt mit ihrem Mann in einer Zweiraumwohnung im mecklenburgischen Strasburg. Fast 40 Jahre mußte die Rentnerin warten, bis sie über das Schicksal ihres Vaters Gewißheit erlangte. Sie wußte, daß er sich 1953 nach West-Berlin abgesetzt hatte, doch dort verlor sich seine Spur.
Im Frühjahr 1990 gab ihr eine Freundin die »Bild«-Zeitung. In einer »Todesliste des SED-Henkers, Teil 2« las sie: »Rebenstock, Paul, Angestellter, Berlin, Nassauische Str. 9-10, *7. 12. 1905, + 5. 3. 1954.«
Wie und warum Rebenstock unter das Fallbeil kam, enthüllen erst jetzt Akten des Ministeriums für Staatssicherheit: Der Stasi-Mann wurde geköpft, um weitere potentielle Verräter abzuschrecken.
Einsicht in die Unterlagen, die bei der Gauck-Behörde liegen, hat ein Mann erhalten, der Augenzeuge der Verhandlung gegen Rebenstock war: Werner Barfus, 70, diente von 1950 bis 1966 dem 1. Strafsenat des Obersten Gerichts der DDR als Sekretär. Bis zur Wende hatte er über den Prozeß geschwiegen; nicht einmal seiner Frau hatte er von dem Tribunal erzählt.
Für Barfus, der seit vier Jahren Aktenbestände der DDR-Justiz aufarbeitet, ist der Fall Rebenstock aus zwei Gründen außergewöhnlich. Zum einen endete er mit dem ersten Todesurteil gegen einen Stasi-Mann. Zum anderen handelte es sich um den einzigen Geheimprozeß in der DDR, dem Erich Mielke persönlich beiwohnte.
In scharfem Kontrast zu der strengen Geheimhaltung und dem exklusiven Publikum stand allerdings der Angeklagte. Paul Rebenstock war kein schillernder Spion, sondern ein durch und durch einfacher Mann. In den dreißiger Jahren arbeitete er als Melker und Treckerführer und heiratete in dem mecklenburgischen Städtchen Strasburg die Schnitterin Sophie Langowski. Erst 1943 wurde er zur Wehrmacht eingezogen und erlebte das Kriegsende in einem Lazarett.
Wieder heimgekehrt, diente Rebenstock sich einer Einheit der Roten Armee an, die versprengtes Vieh einsammelte. Dies erwies sich in zweierlei Hinsicht als nützlich. Zum einen fiel immer wieder ein Stück Fleisch ab, zum anderen erwarb er sich das Vertrauen der russischen Besatzer. Sie machten ihn zum Bürgermeister des Dorfes Güterberg.
Rebenstock trat der KPD bei, deren Mitglied er schon in den zwanziger Jahren einmal war. Seine Herkunft beförderte seine Karriere im entstehenden Arbeiter-und-Bauern-Staat. Im Oktober 1949 wurde er zur Staatssicherheit berufen, zwei Jahre später zum Leiter der Kreisdienststelle in Prenzlau befördert.
Doch Rebenstock bekam die Macht, die ihm das Amt verlieh, nicht. Schon als Bürgermeister hatte er sich gern und häufig dem Alkohol hingegeben und zwei Neubauerntöchter geschwängert. Jetzt begann er unter der Hand einen schwunghaften Handel mit konfisziertem Hab und Gut, das Republikflüchtlinge zurückgelassen hatten.
Eines Nachts drang er in ein bereits geschlossenes Hotel in Prenzlau ein. Als man ihn nicht mehr bedienen wollte, warf er kurzerhand den Portier die Treppe hinunter und erklärte ihn und eine Kellnerin für verhaftet.
Solche Eskapaden blieben nicht lange unentdeckt, gegen Rebenstock wurden disziplinarische Ermittlungen eingeleitet. »Eines Abends«, erinnert sich Ruth Böge, »kam er an mein Bett und sagte: Am liebsten würde ich mich erschießen. Aber sie haben mir alles abgenommen.«
Es war das letzte Mal, daß die Tochter ihren Vater sah. Am nächsten Tag, dem 30. Januar 1953, holten Kollegen ihn ab und nahmen ihn im Stasi-Quartier in Neustrelitz in »disziplinarischen Gewahrsam«.
Doch besonders sicher war es bei der Staatssicherheit nicht. Rebenstock konnte fliehen, so merkte der verantwortliche Dienststellenleiter in einem »informatorischen Bericht« an die Hauptabteilung Personal in Berlin zerknirscht an, »weil er äußerst primitiv untergebracht war«. Paul Rebenstock drückte einfach eine zugenagelte Tür auf, nahm die Glasfüllung bei einer weiteren heraus und schlich sich am Zimmer des Offiziers vom Dienst vorbei.
Noch in der gleichen Nacht suchte er bei der West-Berliner Polizei als politischer Flüchtling um Asyl nach. Acht Tage lang vernahm ihn der Leiter der politischen Polizei. Der Stasi-Überläufer berichtete bereitwillig über die Standorte etlicher Dienststellen, über monatliche Benzinzuteilungen und Befehle des Ministeriums. Er plauderte die Kennzeichen der Dienstwagen aus und nannte Namen, Dienstgrade und Adressen von über 30 Kollegen.
Die politische Polizei reichte Rebenstock an die Geheimdienste der drei westlichen Alliierten weiter. Auch dort redete er wie ein Wasserfall.
Wenige Wochen nach seiner Flucht ging Rebenstocks Tochter Ruth - damals 17 Jahre alt und hochschwanger - zum Bahnhof, als ein schwarzer BMW neben ihr stoppte. Im nächsten Moment wurde sie von zwei Männern in den Wagen gezogen. Die gaben ihr einen abgefangenen Brief des Vaters zu lesen, in dem er sie zu einem Treffen in West-Berlin bestellte. Sie solle ihn zur Rückkehr bewegen, verlangten die Stasi-Männer.
Ruth Böge fuhr brav zum Treffpunkt, aber ihr Vater kam nicht. Noch drei weitere Male benutzte die Stasi die Tochter als Lockvogel - vergeblich. »Einmal sollte ich ihn am S-Bahnhof Schöneberg treffen«, erinnert sie sich, »und wurde dabei nicht nur von der Stasi beschattet, sondern auch von Westagenten. Das habe ich gemerkt - und Papa sicher auch.«
West-Berlin war in den fünfziger Jahren das Mekka für Agenten aller Art und Herkunft. Rebenstock war zwar kein hochrangiger Überläufer, aber doch kein ganz uninteressanter. Deshalb stritten sich West-Berliner und amerikanische Agentenführer förmlich um ihn. Die Amerikaner setzten sich durch, besorgten ihm einen auf einen falschen Namen ausgestellten Personalausweis und beauftragten ihn, ehemalige Stasi-Kollegen umzudrehen und anzuwerben. Rebenstock schrieb Dutzende von Briefen, die per Post oder via Kurier in die Zone befördert wurden.
Die Methode war etwas plump; die allermeisten, die der naive Überläufer mit Drohungen und Angeboten lockte, gaben seine Briefe sofort bei ihren Vorgesetzten ab. Lediglich der Leiter der Stasi-Kreisdienststelle Templin erschien zweimal zu einem konspirativen Treff. Rebenstock bot ihm für wichtige Befehle des Stasi-Chefs Ernst Wollweber sowie für Informationen über die Volkspolizei 5000 Mark.
Der dritte Treff ist für Sonntag, den 20. September 1953, angesetzt. Kurz vor zwölf Uhr mittags betritt Rebenstock die »Felsengrotte«, eine Kneipe unmittelbar am damals in Berlin noch offenen Eisernen Vorhang. Die Nordseite der Straße, an der das Lokal liegt, gehört zum sowjetischen, die Südseite zum amerikanischen Sektor.
In der »Felsengrotte« sitzen bereits der Dienststellenleiter und ein Stasi-Spitzel. »Kaum hatte Rebenstock Platz genommen«, heißt es in dem Bericht der Fahnder, »traten zwei Mitarbeiter an diesen Tisch und erklärten allen drei Personen, daß sie festgenommen sind.«
Paul Rebenstock wird in das Gefängnis der Berliner Stasi-Zentrale in der Magdalenenstraße gebracht und ist sofort geständig. Genauso bereitwillig, wie er bei den westlichen Geheimdiensten ausgepackt hat, plaudert er jetzt bei der Staatssicherheit. Der einstige Melker ist dem Spiel der Spione nicht gewachsen. Und er hat noch dazu das Pech, daß sich die politischen Verhältnisse in der DDR seit seiner Flucht erheblich zugespitzt haben.
Am 17. Juni 1953 hatten nur die sowjetischen Panzer die Herrschaft der SED retten können. Die Staatssicherheit war von dem spontanen Volksaufstand kalt erwischt worden. Um die Disziplin in den eigenen Reihen zu fördern, läßt die Spitze der Staatssicherheit nun gegen Rebenstock und einen ebenfalls nach West-Berlin geflüchteten und später freiwillig zurückgekehrten Fahrer der Staatssicherheit einen hochgeheimen Schauprozeß inszenieren.
Am Morgen des 3. März 1954 erscheinen in Zivil gut 300 führende Mitarbeiter der Staatssicherheit aus allen Bezirken der DDR, um den Prozeß zu beobachten und darüber an der Basis zu berichten. Kurz vor Beginn des Tribunals um neun marschiert auch Erich Mielke mit seinem Stab ein. Er ist gut gelaunt, gibt sich jovial und lobt in den Pausen die perfekte Organisation des »Musterprozesses«.
Die Verhandlung führt der Vizepräsident des Obersten Gerichts, Walter Ziegler, ein alter Kommunist. Als Beisitzer dienen ein linientreuer Volksrichter und ein echter Rothschild, ein jüdischer Jurist aus Böhmen, der aus England remigriert war.
Rebenstock wird ohne Verteidiger vor den 1. Strafsenat geführt. Als »primitiven Menschen« erinnert ihn der Sekretär Werner Barfus, »der niemals mit der Todesstrafe gerechnet« habe. In einem Prozeßbericht hält ein Stasi-Major fest, daß der Angeklagte »in aufgeregtem Ton seine Verteidigungsworte« vorgebracht habe. »Er versuchte vorzutäuschen, daß er seine Tat bereue und verlangte Herabsetzung des Todesurteiles, damit, wie er selbst sagte, seinen Kindern der Vater erhalten bleibt.«
Der Vater von acht Kindern hat keine Chance. Obgleich darüber keine Dokumente existieren, ist sich Barfus sicher, daß das Ergebnis bereits zwischen Erich Mielke und Walter Ulbricht abgesprochen war. Um zehn Uhr abends fällt das Gericht sein Urteil. Der mit ihm angeklagte Fahrer bekommt zehn Jahre Zuchthaus, Rebenstock die Todesstrafe. Verurteilt werden die beiden mittels einer gewagten juristischen Konstruktion wegen Verstoßes gegen eine Direktive des Alliierten Kontrollrats sowie gegen Artikel 6 der DDR-Verfassung, in dem »Boykotthetze«, »Mordhetze« und anderes zu Verbrechen erklärt sind.
In der Urteilsbegründung heißt es: »Die Angeklagten haben einen schweren und gemeinen Verrat an ihrer eigenen Klasse, der Arbeiterklasse, geübt.« Zudem hätten sie »das imperialistische Lager in seinem Bestreben, ein neues, die gesamte Menschheit umfassendes Völkermorden herbeizuführen, wesentlich unterstützt«.
Gewöhnlich tafeln nach solchen Prozessen Richter, Staatsanwälte und die Genossen von der Staatssicherheit im Restaurant »Adria« in der Friedrichstraße, um ihre vertrauensvolle Zusammenarbeit zu festigen. Doch da der Prozeß hoch geheim ist, fällt das Richtfest diesmal aus.
Am Morgen nach dem Urteil schreibt Rebenstock an Wilhelm Pieck: »Ich bereue meine verbrecherischen Handlungsweisen und bitte Sie, Herr Präsident, um Gnade.«
Vergeblich. Um zehn Uhr abends sucht der Staatsanwalt, der schon im Prozeß die Anklage vertreten hat, den Todeskandidaten in seiner Zelle auf und eröffnet ihm, daß er am kommenden Morgen hingerichtet werde. »Er wurde nach seinen Wünschen gefragt«, heißt es in seinem Bericht. »Der Verurteilte verlangte nach Zigaretten und Schreibpapier. Der Wunsch wurde erfüllt.« Was und an wen Rebenstock in seinen letzten Stunden geschrieben hat, ist nicht bekannt. Sein Ende auf dem Schafott protokolliert der Staatsanwalt mit dem schlichten Satz: »Der Akt dauerte 5 Sekunden.«
In Rebenstocks Bestattungsschein trägt ein Dr. med. Hahn als Todesursache »Herzmuskelinsuffizienz, Herzinfarkt« ein. Die Leiche wird knapp fünf Stunden nach der Hinrichtung im Krematorium Dresden-Tolkewitz verbrannt.
Gewöhnlich lagen bei Todesurteilen in der DDR zwischen Verkündung und Vollstreckung Wochen oder Monate. Daß es bei Rebenstock nur gut 30 Stunden waren, hatte einen makabren Grund: Den Kadern der Staatssicherheit sollte demonstriert werden, daß Verrat letale Konsequenzen nach sich zieht. Sechs Tage nach der Hinrichtung erließ Innenminister Willi Stoph über den kurzen Prozeß gegen den Überläufer einen Tagesbefehl an die Stasi.
Sophie Rebenstock erfuhr nichts von dem Prozeß und der Exekution ihres Mannes, der als erster von mindestens elf Stasi-Männern in der DDR Verrat mit dem Leben bezahlte. Zusammen mit fünf noch schulpflichtigen Kindern wurde sie aus der Dienstwohnung exmittiert. Da sie von der Fürsorge nur 98,50 Mark im Monat bekam, gab es Fleisch höchstens am Wochenende. »Wir haben uns so durchgestümpert«, sagt Ruth. Statt Verkäuferin zu lernen, mußte sie im Kuhstall schuften.
Erst 1982 bekam die Familie eine offizielle Information. Als Ruth Böge mit ihrer Mutter auf das Standesamt in Strasburg ging, zeigte man den beiden eine Karteikarte, auf der am Rand mit Kugelschreiber vermerkt war, daß Paul Rebenstock am 5. März 1954 in Dresden verstorben sei.
Nach der Wende erreichte die Tochter die Rehabilitierung des Vaters. Das Landgericht Berlin entschied, daß das Urteil gegen ihn »mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar« sei. Die Richter rieten Ruth Böge deshalb auch, »soziale Ausgleichsleistungen« zu beantragen.
Doch die postume Karriere als Justizopfer geriet ins Stocken. Unlängst lehnte das »Amt für Rehabilitierung und Wiedergutmachung« in Schwerin den Antrag auf Haftentschädigung ab. Es sei eine besonders tragische Verknüpfung von Lebensumständen, so die Begründung, »daß Herr Rebenstock letztlich offenbar selbst Opfer des von ihm zuvor maßgeblich mitgetragenen Systems geworden ist«.
In Dresden ist Rebenstock, ungeachtet solcher Differenzierungen, derweil vom korrupten Stasi-Mann zum Opfer der Staatssicherheit aufgestiegen. Seine Plaste-Urne wurde aus einem anonymen Sammelgrab exhumiert und zusammen mit der Asche anderer aus politischen Gründen Hingerichteter und Rehabilitierter in ein grasbewachsenes Grabfeld mit steinernen Namensplatten überführt. Demnächst wird die »Ehrenanlage« noch mit einer Skulptur in Gestalt einer Gefängnismauer künstlerisch veredelt. Auf der Mauer wird stehen: »Den Opfern stalinistischer Gewaltherrschaft«.
* 1952 bei einer Hochzeitsfeier.* Bei einem Besuch in der UdSSR 1964.