LANDWIRTSCHAFT / HERMES Der bäuerliche Heroismus
Ich kenne eine Gegend, wo es Bauern gibt, die nichts ihr eigen nennen auf ihrem ganzen Grundstück; vom Bett bis zur Ofengabel gehört alles Mobiliar den Geldverleihern. Das Vieh im Stall gehört ihnen, und der Bauer zahlt für jedes einzelne Stück Vieh seine tägliche Miete. Das Korn auf dem Felde und in der Scheune gehört ihnen, und sie verkaufen dem Bauern das Brot-, Saat- und Futterkorn metzenweise.«
Die Stimme des Redners stieg ins Falsett: »Von einem ähnlichen Wucher habe ich noch nie gehört.«
Der da vor den Deputierten des Vereinigten Preußischen Landtages so heftig herumkartätschte, hieß Otto von Bismarck. Man schrieb das Jahr 1847.
Gut dreißig Jahre zuvor hatten die preußischen Staatsminister, der Reichsfreiherr vom Stein und der Fürst von Hardenberg, die Bauern aus der »Grundherrlichkeit, Lehensgerichtsbarkeit und Erbuntertänigkeit« befreit. Seitdem war das harte Regiment der Großgrundbesitzer durch das grausame der Zinspeitsche der Geldverleiher abgelöst worden.
Die Bauern waren Freie auf ihren Höfen geworden. Aber das machte sie noch lange nicht zu Geschäftsleuten, die ihre Ernten nun auf eigene Rechnung und Gefahr erfolgreich an den Mann bringen konnten. Sie waren ihren Kreditgebern hilflos ausgeliefert.
Als der junge Herr auf Schönhausen, Otto von Bismarck, seiner Wut über die ländlichen Shylocks in donnernder Rede vor dem Preußischen Landtag freien Lauf ließ, hatte der 29jährige Bürgermeister der Landgemeinde Weyerbusch im Westerwald, Friedrich Wilhelm Raiffeisen, gerade zum erstenmal selbst den Auftritt eines Geldverleihers in seiner Gemeinde miterlebt. Zähneknirschend stand er am Zaun und beobachtete die Versteigerungsszene auf dem Hof.
Dieses Erlebnis des Friedrich Wilhelm Raiffeisen im Jahre 1847 wurde für die
deutsche Landwirtschaft zur großen Wende, die über ein Jahrhundert fortwirkte. Raiffeisen sah, wie die Geschäftsuntüchtigkeit der Bauern, ihre ewige Illiquidität, aus der deutschen Landwirtschaft allmählich einen Totenacker machten, und wie die eben befreiten Bauern in Scharen zu Pacht-Heloten skrupelloser Bodenspekulanten wurden. Schon zogen Jahr um Jahr Tausende ruinierter Bauern ins gelobte Land hinter dem Ozean.
Raiffeisen konnte über dieses Unglück nicht lamentieren, wie die Agrarier von Fach und Rang in den Parlamenten und Amtszimmern. Den kleinen Landbürgermeister hätte niemand gehört. Sollte etwas geschehen, mußte er die Hände rühren.
Er wanderte durch die ärmlichen Dörfer des Westerwaldes und gründete Gemeinnützige Hilfsvereine. Kleine, arme Bauern waren die Mitglieder. Sie wußten, wie der Bürgermeister Raiffeisen, daß ihnen im Frühjahr stets das Geld für die Feldbestellung fehlte und daß im Herbst nach der Ernte einer des anderen Teufel war, wenn sie alle zugleich versuchten, schnell an ein paar blanke Taler zu kommen.
Da war es ein naheliegender Gedanke, von der Geldnot in der Saatzeit zum Verkauf nach der Ernte eine Brücke zu schlagen; den Verkauf der Ernten eines Dorfes gemeinsam zu organisieren, beim Einkauf im Frühjahr als Gemeinschaftskunde aufzutreten und die ersparten Gewinne auf eine gemeinsame Sparkasse zu tragen, die nur an Bauern Kredite gab.
Raiffeisen hatte als erster die Idee, die Bauern in Handels- und Kapitalgemeinschaften zu organisieren. Daraus wurde in hundertjähriger Entwicklung eine der größten Konzentrationen wirtschaftlicher Macht, die es heute in Deutschland gibt.
Vor den kurzsichtigen Augen scharfe Brillengläser, hämmerte Raiffeisen damals jahrein, jahraus seine Prinzipien landwirtschaftlicher Marktpolitik in schwerfällige Bauernhirne. Der Bauer als einzelner konnte mit der damals aufkommenden Industrie nicht in der gleichen Arena antreten. Er sät heute, was er in einem halben Jahr erntet. Industrielle produzieren heute, was sie morgen verkaufen. Er muß ein Jahr lang von der Ernte leben. Sie nehmen täglich ein und geben täglich aus.
Also, predigte Raiffeisen seinen Leuten, darf der Bauer nicht Konkurrent des Bauern sein. Sein Grundsatz: »Alle für alle.«
Beim Einkaufen im Frühjahr, um die Preise zu drücken; beim Verkaufen im Herbst, um die Preise zu heben. Raiffeisens stiller Vorbehalt war, daß die Organisation sich schon aus Eigennutz gegen den Faulen und Untüchtigen wenden werde. Er wandelte seine dörflichen, auf Wohltätigkeit und Gegenseitigkeitshilfe gegründeten »Gemeinnützigen Vereine« in Absatz- und Einkaufsgenossenschaften um. Und er schuf ein immer mehr sich verdichtendes Netz von Spar- und Darlehnskassen in bäuerlicher Regie.
Der kleine Landbürgermeister Raiffeisen, wegen seiner fast völligen Blindheit vorzeitig pensioniert, ging vierzig Jahre lang auf sein Ziel zu: Die von der heraufkommenden Industrie und von den zusammenrückenden Nationalwirtschaften, auch der konkurrierenden Agrarmärkte, rundum bedrohten Bauern sollten zu einem geschlossenen Block formiert werden.
Als Raiffeisen 1888 starb, arbeiteten in Deutschland 423 Spar- und Darlehnskassen, und die aus seinen Gedanken hervorgegangenen Genossenschaften hatten die Zahl 1300 überschritten. Im westlichen halben Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg gibt es heute 24 000 ländliche Genossenschaften mit 3,3 Millionen Mitgliedern, darunter 11 200 Spar- und Darlehnskassen.
In Neuwied am Rhein steht Raiffeisens Denkmal. Der Erbe seiner zur Riesenorganisation gewordenen Idee residiert, 75jährig, als einer der mächtigsten Männer der Bundesrepublik im nächst dem Außenamt repräsentativsten Bau an der Koblenzer Straße in Bonn: Dr. Andreas Hermes, Präsident des »Deutschen Raiffeisen Verbandes e. V.«.
Der große, schwere Mann ist nicht nur Chef des Milliarden bewegenden Raiffeisen-Verbandes, der riesigen Absatz- und Einkaufsorganisation der westdeutschen Landwirtschaft. Hermes ist zugleich Präsident des »Deutschen Bauernverbandes«, der großen Agrarier-Gewerkschaft, dessen achtundzwanzig Unterverbände rund 1,5 Millionen Mitglieder haben.
Kaum ein Politiker der Bundesrepublik hat über Jahrzehnte hin so zahlreiche Funktionen in internationalen Institutionen und Konferenzen ausgeübt wie er. Aber heute kehrt Hermes, vor seinem breiten Schreibtisch unter dem Bilde Raiffeisens sitzend, der Reihe hoher Fenster den Rükken, die auf die Koblenzer Straße führt, auf die Ader des geschäftigen Verkehrs
zwischen Kanzler-Palais, Außenamt und den verschiedenen Bonner Ministerien.
Er hörte genau in den Tagen auf, große Politik zu machen, als in Bonn die westdeutsche Bundesrepublik gegründet wurde; große Politik, die mehr wäre als die bloße Handhabung seiner Verbandsapparaturen im politischen Bereich, auf die er sich seitdem beschränkt.
Eine Figur des großen öffentlichen Interesses war Hermes nur immer für relativ kurze Zeit an den sechs entscheidenden Stationen, als er
* 1920 der erste Reichsernährungsminister Deutschlands und bald darauf, in der beginnenden Inflationszeit, auch Reichsfinanzminister wurde,
* 1922 nicht Außenminister wurde, weil der Zentrums-Reichskanzler a. D. Dr. Wirth das in Verfolgung eigener Ambitionen verhinderte,
* 1929 bis 1932 an der Gemeinschaft der »Grünen Front« maßgebend beteiligt war,
* 1945 vom NS-Volksgerichtshof zum Tode verurteilt wurde,
* 1945 die CDU gründete,
* 1948 den Hermes-Kreis »zur Wiedervereinigung Deutschlands« bildete.
Beide Male, als sich in der Karriere des Politikers Andreas Hermes der letzte steile Aufstieg in die Regierungsspitze ankündigte, brach diese Entwicklung jählings ab. 1922 der Weg zum Außenminister, 1945 die Karriere über die Gründung der CDU zum Chef einer gesamtdeutschen Regierung oder der Verwaltung des Dreizonen-Gebietes im Westen.
Im Jahre 1922 resignierte der für den Posten des Außenministers vorgesehene Hermes vor den Intrigen des Reichskanzlers a. D. Dr. Wirth. Und damit vor der Autorität des Mannes, der ein Jahr zuvor noch sein Kabinettschef gewesen war. 1948/49 kapitulierte er im Kampf um schnelle deutsche Wiedervereinigung vor der Unbekümmertheit, mit der Dr. Konrad Adenauer bei der Installierung eines westdeutschen Teilstaates nach den Chancen des Tages griff. Jedesmal flüchtete Hermes in die Landwirtschaft zurück, die sich der Sohn eines kleinen Packmeisters aus Mönchen-Gladbach zum Beruf gewählt hatte.
Als der zwanzigjährige Hermes 1898 mit einem Stipendium der preußischen Regierung auf die landwirtschaftliche Akademie in Bonn-Poppelsdorf zog, stritt sich der Deutsche Reichstag bereits um ein Problem, das auch heute noch von unverminderter Aktualität ist: um die Frage billiger Agrarimporte.
Der deutsch-konservative Abgeordnete Graf Kanitz-Podangen hatte den grundbesitzenden Adel und die Bauern zu einem Aufstand gegen die Einfuhr billigen Getreides aufgerufen. Drei Jahre hindurch war Kanitz der Nationalheld von Ackerbau und Viehzucht. Dreimal brachte er im Reichstag seinen Antrag ein.
Hans Graf von Kanitz forderte einen beweglichen Schutzzoll, der immer der Differenz zwischen dem nach binnendeutschen Produktionskosten berechneten Getreidepreis und dem meist sehr viel niedrigeren Auslandspreis entsprechen sollte. Die deutschen Landwirte verlangten die Garantie eines hohen Festpreises, zu dem auch das Importgetreide verkauft werden sollte, gleichgültig, wie billig es im Ausland eingekauft worden war.
Der Antrag des Grafen Kanitz wurde dreimal abgelehnt. Aber er wurde nachhaltig berühmt, weil er den Kern der deutschen Agrar-Problematik traf. Er trifft ihn heute noch.
Der deutsche Bauer holte im Jahre 1953 aus der gleichen Ackerfläche zwar mehr als das Doppelte seines amerikanischen Konkurrenten heraus. Seine Produktionskosten je Doppelzentner aber sind viel höher als die des Tractor-boy aus Middlewest. Er kann auf einer durchschnittlichen Hofgröße von 27 Morgen nicht Raubbau treiben und seinen Betrieb nicht so durchgreifend technisieren wie der Amerikaner auf durchschnittlich 328 Morgen (s. Graphik).
Selbst in kleineren landwirtschaftlichen Betrieben Nordamerikas fehlen nie der Traktor, die Melkmaschine und der Gärfuttersilo, dessen hoher Turm sich als Wahrzeichen über jeder Farm des Mittelwestens und Ostens erhebt. Dem größeren deutschen Flächenertrag steht deshalb ein größerer Arbeitseffekt (je Erwerbsperson) in Nordamerika gegenüber:
* USA 30 Tonnen Getreidewert,
* Deutschland 8 Tonnen Getreidewert.
Schon gar nicht kann der Bauer in Mitteleuropa gegen afrikanische und asiatische Kolonial-Konkurrenz aufkommen, deren Lohnkonten nur einen Bruchteil der europäischen ausmachen.
Seit es diese drückende internationale Agrar-Konkurrenz gibt, fordern die deutschen Landwirte für ihre Erzeugnisse einen Preis, der sich nicht nach dem weltweiten Gesetz von Angebot und Nachfrage auspendelt, sondern den errechneten deutschen Produktionskosten entsprechen soll. Graf Kanitz-Podangen formulierte als erster die Argumente in diesem Streit; der Bauernführer Hermes benützt sie heute noch.
Schon um die Jahrhundertwende aber stießen diese Forderungen auf die völlig entgegengesetzten Interessen von Industrie und Handel.
Als der Fürst von Bülow nach seiner Ernennung zum Reichskanzler im Oktober des Jahres 1900 zu seinem Kaiser nach Bad Homburg fuhr, um sich den allerhöchsten Handschlag abzuholen, da hatten sich die beiden auf dem Bahnhof kaum begrüßt, als der kaiserliche Zorn schon losbrach:
Bülow solle als erstes dem Bund der Landwirte und den Agrariern gleich
ordentlich »eins auf den Kasten geben«, verlangte Seine Majestät wörtlich. »Mit ihren ewigen Zollforderungen machen sie mir alle Handelsverträge kaputt.«
Der Erzstreit zwischen Agrariern und Industriellen ist noch heute der gleiche: Die Landwirtschaft fordert, Agrarimporte nur als notwendige Zufuhren ins Land zu lassen, nicht aber als Preiskonkurrenz zu den eigenen Produkten. Das beißt sich mit der ebenso absoluten Forderung der übrigen Wirtschaft, soviel ausländisches Obst, Gemüse, Getreide wie möglich hereinzunehmen, wenn die Handelspartner damit deutsche Industrie-Exporte bezahlen wollen.
Als beispielsweise im Dezember 1953 eine deutsche Delegation in Kopenhagen eintraf, um die Verlängerung des laufenden Handelsvertrages zu beraten, wurde sie gleich am ersten Verhandlungstage von den Dänen mit massiven Forderungen zugedeckt.
Dänemark wolle Industriewaren aus Deutschland im bisherigen Umfang nur dann weiterbeziehen, wenn die Bundesrepublik im Jahre 1954
* 40 000 Tonnen Schweine (1953: 12 224 Tonnen),
* 12 000 Tonnen Butter (1953: 1500 Tonnen),
* 30 000 Tonnen Käse (1953: 25 000 Tonnen),
* für 460 000 Mark Gemüse (1953: 200 000 Mark),
* 250 000 Rinder (1953: knapp 200 000) einführen werde.
Dem Agrarexperten der deutschen Delegation, Dr. Stahlmann, verschlug das die Sprache. Und Edmund Rehwinkel, Bauernverbands-Chef in Hannover, diktierte einen gepfefferten Brief an den Ernährungsminister Lübke in Bonn. Außerdem bedrängte Rehwinkel seinen Präsidenten Andreas Hermes: keine einzige Kuh darf, tot oder lebendig, über die Grenze! Die deutsche Fleischversorgung sei aus der eigenen Produktion gesichert. Wozu also einführen?
Der Handelsvertrag mit Dänemark kam trotzdem zustande. Bonn sagte die Aufnahme
der Viertelmillion Rinder zu. Aber die Delegierten handelten einen deutschen Export von 1300 Millionen Kronen dafür ein, gegen eine Gesamteinfuhr aus Dänemark im Werte von 800 Millionen Kronen. Aktivsaldo für Bonn: 500 Millionen Kronen.
Der Kampf gegen preisdrückende Einfuhren hatte schon an erster Stelle des Programms der »Grünen Front« gestanden, die Andreas Hermes Ende der zwanziger Jahre mit aufbauen half. Diese »Front« bildete keineswegs jenen geschlossenen Verband großer oder kleiner Agrarier oder der deutschen Landwirte insgesamt, als die sie heute oft apostrophiert wird. Organisatorisch war sie eine Vereinsklitterung. Aber ihre Macht wurde erfolgreich dafür eingesetzt, den frischen Wind internationaler Konkurrenz von der deutschen Landwirtschaft abzusperren.
Hermes war zu dieser Zeit bereits ein renommierter Fachmann, der mit 33 Jahren als Abteilungschef beim Internationalen Agrarinstitut in Rom gearbeitet hatte und als Ernährungs- und Finanzminister der Weimarer Republik an die Öffentlichkeit getreten war.
In diesen Jahren war Norddeutschland angefüllt von Protestgedröhn, mit dem der Bauer Otto Johannsen aus Neuenkoog seine Bauern zum Kampf aufrief. Johannsen stand auch an der Spitze einer der Zehntausend-Mann-Züge, die schweigend und krückstock-stampfend unter der »Schwarzen Fahne« in ihre Kreisstädte zogen. 140 000 Schleswig-Holsteiner marschierten beispielsweise allein am 28. Januar 1928.
Sie protestierten wortlos, hörten aller Orten die kargen Urkraft-Reden ihrer Führer an und gingen wieder nach Hause. Dann kamen die Sprengstoff-Attentate auf Beamte, Behörden und Organisationen; danach die Tausende gleichlautender Selbstanzeigen der Bauern, die jede polizeiliche Fahndung lange Zeit hindurch lahmlegten.
Es ging gegen die »Zinsknechtschaft«, gegen die Importe und gegen die niedrigen Preise. Und es ging um die Einigkeit der Bauernschaft. Alles in allem ging es darum, daß das große »Packard-Verköpen« angefangen hatte, denn in den Jahren seit der Inflation war der bäuerliche Wohlstand zusammengeschmolzen. Seine äußeren Zeichen, die Mercedes, die Horch, und die amerikanischen Packard, sie verschwanden aus den Remisen.
Während der Inflation hatte sich die Landwirtschaft mit schlechter Papiermark so gut wie vollkommen entschulden können. Nun, vier Jahre später, steckte sie schon wieder tief in der »Zinsknechtschaft«.
Dafür gab es mancherlei Gründe. Einen vor allem: die Kreditwürdigkeit der Höfe wurde noch jahrelang nach der Markstabilisierung mit Vorkriegsmaßstäben gemessen. Ohne Rücksicht darauf, daß die Zinssätze auf der doppelten Höhe gegenüber den Goldmark-Zeiten hängenblieben. Eine Hypothek, die 1913 gerade noch tragbar war, überstieg 1926 die Leistungskraft eines Hofes um hundert Prozent. Die Bauern hatten zu lange gebraucht, bis ihnen diese Veränderung aufging.
Die Holsteiner Parole des »Einigkeit macht stark« mußte in dieser Situation schon deshalb kräftig zünden, weil die Landwirte in viele einander feindliche Organisationen aufgespalten waren.
Diese Verbände konnten 1928 die Aktion der Schwarzen Fahne in den meisten Ländern unter Kontrolle behalten. Sie machten mit und bremsten kräftig. Nur in Schleswig-Holstein gelang das nicht.
Leicht hätte sich diese über die Vereinsgrenzen hinweggreifende Bewegung weiterfressen können. Ein Jahr herrschte deshalb in den Büros der Verbandsführer Alarmstimmung. Dann setzte man sich an den Verhandlungstisch. Die Einigungsbewegung sollte zugleich abgestoppt und nützlich gemacht werden:
Man wollte von jetzt ab im Namen einer »Einheitsfront« der ganzen Landwirtschaft sprechen und fordern können, wenn es um Fragen der großen Agrarpolitik ging. Aber man wollte auch den Parteien ihre Stammwähler auf dem Lande erhalten. »Unten die getrennten Verbände, oben die Führergemeinschaft«, das war das Rezept. Den Dachbalken nannte man dann die »Grüne Front«.
Als Repräsentanz der bäuerlichen Wählermannschaften mehrerer Parteien bekam sie ihre Macht im alten Reichstag.
Der Zentrums - Abgeordnete Andreas Hermes - nach seiner Demission als Finanzminister in den Preußischen Landtag und 1928 in den Reichstag gewählt - war mit von der Partie. Er saß im Viererpräsidium der »Grünen Front«.
Seine Parteitreue in diesen hitzigen Tagen brachte ihm schon ein halbes Jahr später einen weiteren Spitzenposten ein. Diesmal trug ihn das schönfärberisch als Innenpolitik bezeichnete
Parteispiel empor, in dem alle Gruppen eifersüchtig darüber wachten, daß niemand irgendwo zuviel bekam. Der Präsident der Zentrum-freundlichen Christlichen Bauernvereine, Andreas Hermes, wurde Herr im Hause des neugegründeten »Reichsverbandes der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften Raiffeisen e. V.«.
Hermes war eingebaut in das Interessenspiel der politisierenden Agrarier. Diese Tatsache und seine Neigung zum Taktieren hinderten ihn, innerhalb der »Grünen Front« eine seiner besseren Einsicht entsprechende Opposition durchzufechten.
So zeichnete Hermes mitverantwortlich für das Programm, das schließlich die große Weltwirtschaftskrise mehr als notwendig ins Land hereinzog und am Ende in dem Schlagsatz gipfelte: »Das deutsche Volk muß gezwungen werden, nur deutsche Nahrungsmittel zu verbrauchen.«
Die praktischen Forderungen, von denen viele verwirklicht wurden, hießen: Südfrucht-Monopol zum Schutz des deutschen Obstbaues, Holzzölle, Schutzzölle für Vieh, Fleisch, Käse, Butter, Gemüse und Gerste; Maismonopol zum Schutze der deutschen Futtermittelproduktion; Stützkäufe zugunsten der Roggen- und Hopfenpreise usw.
Auch heute bestehen zugunsten der Landwirtschaft zahlreiche Import-Bremsen und Festpreise im Inland.
Unter dem Druck der Weltwirtschaftskrise sank die Kaufkraft der Bevölkerung. Die deutsche Agrarproduktion überschritt bei den meisten Hauptnahrungsmitteln die (kaufkraftmäßige) Bedarfsgrenze. Schutzzölle konnten dagegen nicht helfen. Trotzdem wurde ihr System bis 1932 perfektioniert. Und die deutschen Industriegüter-Exporteure stießen bald in aller Welt auf Vergeltungsmaßnahmen. Mehr als die große Krise es bedingte, sackte die Ausfuhr ab. So wurde das Reich hungernd autark.
Zweiundzwanzig Jahre später jedoch, im März 1954, will ein Teil der Landwirtschaft genau diese Politik wieder parkettfähig machen. Die Verbändler-Sturheit vergreift sich diesmal an den Eiern.
Von altersher gehören die Hühner auf den deutschen Höfen zum Regiment der Bauersfrau. Sie füttert ihre Hennen mit »heimlichem« Korn vom Getreideboden und sucht dann in allen Ställen und Winkeln die »Produktion« zusammen. Das ist teuer.
Teurer jedenfalls als die Großerzeugung im straff organisierten Farmwesen der Holländer. Damit es bei dieser deutschen Rückständigkeit bleiben kann, verlangen einige Landesgruppen des Bauernverbandes jetzt, Bonn solle zum Schutz gegen die Auslandskonkurrenz einen Eier-Gleitzoll einführen.*)
Der Ernährungsausschuß des Bundestages wurde auf die Frage angesetzt, ob es den Landwirten zugemutet werden kann, ihre Eier im Konkurrenzkampf gegen das Ausland für 12 und 14 Pfennig je Stück vom Hof zu geben. Oder ob man ihnen nicht einen Preis von 17,6 bis 19,1 Pfennigen garantieren müsse, indem die Preise für Importeier durch Gleitzölle auf diese Mindesthöhe hinaufgeschleust werden. Wie wenig auch immer sie im Ausland gekostet haben mögen.
Aber nicht nur das Festhalten am Althergebrachten hemmt die westdeutsche Landwirtschaft. Oft geht die Interessenlinie auch zwischen bäuerlicher Fortschrittlichkeit und industriellem Egoismus hindurch. Dann nämlich, wenn die Bauern Neuerungen einführen wollen, durch die die bisherigen eingefahrenen Industrieproduktionen überflüssig werden könnten.
Da ist zum Beispiel seit langem der Streit um die attraktivste Verpackung der Milch im Gange. Jeder Bundesrepublikaner verbraucht im Jahr nur 122 Liter Milch, der Däne dagegen 167 und der Schwede sogar 232 Liter.
*) Die Getreideeinfuhr der Bundesrepublik ist bereits nach den Prinzipien des Grafen Kanitz als ein Staatsmonopol organisiert. Es gilt ein leicht variabler Festpreis, auf den billiges Auslandsgetreide heraufgeschleust (der Staat schöpft dann den Differenzbetrag ab) bzw. teueres Auslandsgetreide heruntergesetzt wird (in diesem Fall subventioniert der Staat). Einen der Gründe für diese erstaunliche Enthaltsamkeit kennen die Beratungsstellen der Bauernverbände schon längst: In Schweden und in Dänemark wird die Milch meist in imprägnierten Papptüten verkauft. Wer in Deutschland Milch trinken will, dem wird der Ärger über die schweren, von Staub und Feuchtigkeit oft eklig klebrigen Flaschen und vor allem der Kummer über den Pfandgroschen immer noch mitgeliefert.
Die deutsche Glasindustrie aber zieht an sämtlichen Registern bäuerlicher Beharrlichkeit, damit alles beim alten bleibe. Und auch die Molkereigenossenschaften sind froh darüber. Sie haben keine Lust, ihre kostspieligen modernen Flaschenabfüllmaschinen zum alten Eisen zu werfen.
Dabei ist die Milcherzeugung das Rückgrat der landwirtschaftlichen Betriebsrechnung und bringt auf kleineren Höfen bis zur Hälfte der gesamten Einnahmen. In nahezu allen Betrieben deckt der Milchertrag zumindest die Lohn- und Haushaltskosten. Als das ganze Jahr hindurch fließende Einnahme ist sie die beständigste Geldquelle der Bauern.
Eine nur fünfzigprozentige Steigerung des westdeutschen Milchkonsums würde die landwirtschaftliche Ertragsbilanz bereits fühlbar verbessern. Auch die in den vergangenen Jahren bereits mehrfach aufgetretene Absatzkalamität zur Zeit der Butterschwemme wäre damit ebenso behoben wie das Problem der handelsvertraglichen Butterimporte aus Holland, Dänemark und Schweden.
Nach der Währungsreform standen in Westdeutschlands Kuhställen nur etwa 5000 Melkmaschinen. Im Jahre 1953 waren es immerhin 50 000, aber auch diese Zahl erfaßt nur knapp drei Prozent aller bäuerlichen Betriebe. Die Technisierung der Agrarproduktion ist ganz besonders in der Bundesrepublik eine Kapitalfrage.
Vor der Währungsreform heimsten die meisten Bauern genug ein, um ihre Gebäude reparieren und ihre Wohnungen einrichten zu können. Sie konnten gleichzeitig während der Kriegs- und Nachkriegszeit mit schlechtem Reichsmark-Geld einen großen Teil ihrer Schulden abtragen. Nach 1948 aber investierten die Bauern auch sauer verdientes Geld: 6,8 Milliarden Mark. Die landwirtschaftliche Verschuldung stieg in dieser Zeit bereits wieder um 2,5 Milliarden Mark an.
Die Vollmechanisierung eines Fünfzehn-Hektar-Hofes kostet eine Menge Geld. Allein für die verschiedensten Geräte zur Feldarbeit sind etwa 20 000 Mark erforderlich. Für die Mechanisierung im Stall: Melkmaschine, Miststapelanlage, Futterkarussell usw. kommen noch einmal 10 000 bis 15 000 Mark hinzu.
Für private Kapitalgeber und Banken aber hat es während der vergangenen Jahre lohnendere Anlagemöglichkeiten gegeben als in der Landwirtschaft. An öffentlichen Investitionsgeldern, wie sie etwa dem Wohnungsbau oder dem Bergbau zuflossen,
standen den Bauern nur unzureichende Mittel aus ERP-Krediten, Soforthilfemitteln und einigen wenigen Arbeitsbeschaffungsprogrammen zur Verfügung. Der Wiederaufbau der bäuerlichen Wirtschaften ging, wenn nicht über den Preis, über teure kurzfristige Kredite.
Die Landwirtschaft hat das Problem der Arbeitsproduktivität keineswegs übersehen. Aber bei 530 122 Bauernwirtschaften - mehr als einem Viertel aller Höfe - stößt selbst der gute Wille auf ein großes Hindernis: mit ihren zwei bis fünf Hektar sind diese Betriebe zu klein. Obwohl sie 26 Prozent aller Landwirtschaftsbetriebe der Bundesrepublik ausmachen, bewirtschaften sie nur acht Prozent der westdeutschen Ackerfläche.
Zu diesem Thema ließ Andreas Hermes auf dem Bauerntag 1953 in Münster den Referenten Dr. Günter Noell ans Podium treten. Noell gab den Hinweis auf das, was getan werden müßte: Traktoren beispielsweise könnten rationell nur eingesetzt werden, wenn dadurch zwei Pferde eingespart werden und rund fünf bis zehn Morgen (1,25 bis 2,5 Hektar) Futterfläche für zusätzliche gewinnbringende Nutztierhaltung frei machen. »In arrondierten Betrieben liegt die untere Grenze der möglichen Vollmechanisierung bei dreißig Morgen« (7,5 Hektar).
Hier aber wird der Rationalisierungswille der Landwirtschaft durch ein weiteres Übel gebremst: der überwiegende Teil der westdeutschen Bauernhöfe ist nicht arrondiert (zusammenhängend). Die Äcker liegen - durch ein jahrhundertelang praktiziertes Erbrecht - in kleine und kleinste Parzellen zerrissen, weit verstreut in der Gemeindegemarkung. Bis zu vierzig Prozent der täglichen Arbeitszeit wird in manchen Gegenden darauf verwendet, mit Mann und Roß und Wagen von einem schmalen Feldstreifen zum anderen zu ziehen. Die Betriebe sind so klein, daß nur Pferde- oder Kuhgespanne gehalten werden können
Diese winzigen und nicht arrondierten Betriebe meint auch das »Handelsblatt« aus der Industrie-Metropole Düsseldorf, wenn es schreibt: »Sie sind zu klein, um mechanisiert zu werden. Ihre Besitzer sind überaltert oder - sagen wir es doch ganz offen - manchmal auch zu dumm, um einen Wettbewerb bestehen zu können. Wir sollten es uns abgewöhnen, täglich vierzehn bis sechzehn Arbeitsstunden als bäuerlichen Heroismus zu feiern. Hier zeigt sich doch nur der Pferdefuß unseres durch unselige Erbteilung und verpfuschte Agrarreform beschworenen Zustandes.«
Aber erstaunlich ist: alle diese kleinen Bauern leben! Das ist der Beweis dafür, wie in der Bundesrepublik die Lahmen das Marschtempo angeben. Die Produktionskosten, die allen Preisforderungen der Landwirtschaft zugrunde liegen, sind der Leistungsfähigkeit der Kleinen angemessen. Für die besser technisierten Mittel- und Großbetriebe bedeuten diese Kostenpreise einen zusätzlichen Gewinn.
Das abzuändern, darum geht es heute. Das untauglichste Instrument dafür aber wäre die Neuauflage einer Schutzzoll-Politik nach dem Muster der alten »Grünen Front«, wie sie mancher Bauernführer beim Steinhäger in der Dorfschenke heute wieder als Allheilmittel anpreist.
Dem ersten Ernährungsminister der Bundesrepublik, Professor Niklas, wird das Wort von der halben Million bäuerlicher Hungerexistenzen zugeschrieben, deren Äcker den größeren Nachbarn zugeschlagen werden müßten, damit die deutsche Landwirtschaft ihren technischen Rückstand aufholen kann.
Das war der Vorschlag des Chirurgen. Nur zu viele Ländle-Präsidenten des
Bauernverbandes aber halten sich noch immer für Wunderdoktoren, die durch Drumherumreden heilen können; mögen sie nun Edmund Rehwinkel heißen oder Wittmer-Eigenbrodt
Sie haben sich in ein Thema festgebissen, das seit den Tagen der »Grünen Front« zu den ländlichen Versammlungsschlagern gehört. Sie fordern Preisparität zwischen Industrie und Landwirtschaft.
Da wird in die Köpfe der Bauern eingehämmert, wie ungerecht es sei, daß der Preis für landwirtschaftliche Betriebsmittel seit 1938 auf 210 Prozent gestiegen ist, der Index der Preise für Agrarerzeugnisse dagegen nur knapp 200 beträgt.
Die Aufforderung geht immer wieder an den Staat: alle Einfuhren seien so weit zu drosseln und die Preise für Agrarprodukte so hoch zu halten, daß die Landwirtschaft die zehn Prozent aufholen könne, um die sie hinter Industrie und Handel zurückstehe. Ohne Rücksicht darauf, daß eine solche reglementierte Preissteigerung die Verbraucher runde 1,5 Milliarden Mark jährlich kosten würde.
Als sei der planwirtschaftliche Reichsnährstand nicht 1945 aufgelöst worden, schrieb die »Deutsche Bauernkorrespondenz«, Bonn, noch im Februar 1951: »Das Preisniveau ... muß die Produktionskosten durchschnittlicher landwirtschaftlicher Betriebe decken Die Preise ... sollen dem Landvolk einen Lebensstandard sichern, der dem der gewerblichen Wirtschaft entspricht.«
Die gleiche Forderung der Preisparität war schon eine Lieblingsthese der »Grünen Front«. Aus den Erfahrungen jener Zeit aber erklärt sich auch der Widerstand, den Andreas Hermes einem solchen unsinnigen Schematismus heute entgegensetzt.
Sein Bauernverband bestellte beim Institut für Wirtschaftsforschung in München ein Gutachten. Die Münchner Wissenschaftler wischten denn auch die Preisparität mit wenigen Sätzen aus der Diskussion. Aber sie ließen eine »Aufwand-Ertrags-Parität« mit der gewerblichen Wirtschaft halbwegs gelten. Sie erkannten an:
»Reichen die Einnahmen zur Bestreitung des Aufwandes nicht aus, so hat die Landwirtschaft nach dem Paritätsverfahren Anspruch auf einen Ausgleichsbetrag.« Nicht ausdrücklich gesagt wurde, daß eine solche Zuwendung natürlich mit Steuergeldern aus der Staatskasse finanziert werden müßte.
Der »Verein für Agrarwirtschaft«, der gegen den Bauernverband die agrarpolitische Opposition darstellt, will die Preisparität eindeutig durch Anheben der Nahrungsmittelpreise erreichen. Er fordert unter anderem:
* Heraufsetzung der Milchpreise um fünf bis sechs Pfennig je Liter,
* Preiserhöhung für Zuckerrüben um sechs bis acht Prozent,
* Befreiung von Umsatzsteuer bei Milch, Butter und anderen Agrarerzeugnissen,
* Drosselung von Agrarimporten, besonders bei Obst und Gemüse.
Das wird in echtem »Grüne-Front«-Geist vorgetragen, wenngleich dadurch nicht der Druck ausgelöst wird, wie zur Zeit der Weimarer Republik.
Auch im Bonner Bundestag arbeiten die Abgeordneten, die aus der Landwirtschaft und aus den Bauernverbänden kommen, zwar eng zusammen; vor allem die 52 Abgeordneten aus den Koalitionsparteien. Aber sie haben viel weniger Möglichkeiten, den Fraktionen ihren Willen aufzudrängen, als die Agrarier im alten Reichstag sie hatten.
Der heutige Bauernverband Westdeutschlands ist parteipolitisch nicht gebunden. Und im Bundestag haben sich alle drei Regierungsparteien auf eine liberale Wirtschaftspolitik der möglichst offenen Grenzen festgelegt. Solange nicht eine Partei aus dieser Front ausbricht und zum Rennen um die bäuerlichen Wähler ansetzt, dem die anderen sich anschließen müßten, können die Landwirte im Parlament nur den Einfluß ausüben, der ihrer Zahl entspricht.
Diese Zahl von Wahltag zu Wahltag ansteigen zu lassen, ist der Zweck des Mittelstandsblocks,
dessen Präsident wiederum Andreas Hermes heißt. Der Bauernverband ist vor dem Handwerk die stärkste Gruppe im Mittelstandsblock. Beide Organisationen zahlten schon zur Bundestagswahl am 6. September 1953 nur dann Spenden in die Parteikassen ein, wenn dafür von ihnen nominierte Kandidaten an aussichtsreicher Stelle auf den Landeslisten der Parteien erschienen.
Bei dem Versuch, seinen Unterführern den Paritätsunsinn auszureden, ist Andreas Hermes ausnahmsweise einig mit Professor Ludwig Erhard. Der Bundeswirtschaftsminister hat den Gedanken immer abgelehnt, der Verbraucher solle unter staatlichem Zwang den Luxus einer rationalisierungsfeindlichen Agrar-Struktur bezahlen.
Die Bauernführer in den westdeutschen Ländern berufen sich dagegen auf die Unfähigkeit des Bundes, mit den Mitteln gelinder Marktsteuerung die unerträglichen Schwankungen in der landwirtschaftlichen Preis- und Anbaukalkulation wirkungsvoll abzufangen.
Und schon hebt im Kreise dieser Subpräsidenten des Bauernverbandes das Murren über den neuen Ernährungsminister Lübke an. Gleich in den ersten Monaten seiner Amtszeit hat Minister Lübke einen großen Plan entwickelt. Er will eine Flurbereinigung und die Arrondierung zu kleiner Höfe durch aufgekaufte Äcker aus liquidationsreifen Kleinsthöfen:
* Die Flurbereinigung und die Umstellung geeigneter Kleinbetriebe auf Veredelungswirtschaften.
* die Umsiedlung der vor ihrem Absturz in ein ländliches Proletariat stehenden Kleinstbauern in Industriegegenden.
* die Ansetzung neuer Industrien in Gebieten, die von der Strukturumwälzung besonders hart betroffen werden.
* darauf aufbauend schließlich die zinsverbilligte Kreditierung durchgreifender Rationalisierungsmaßnahmen.
All das soll nach Lübkes Plan zehn Jahre dauern und 25 Milliarden Mark kosten.
Diese Reihenfolge - erst die Strukturbereinigung, dann eine Kreditaktion - ist das Entscheidende an Lübkes Plan. Denn ohne Strukturreform der Landwirtschaft würde vielleicht zuviel von den Krediten nutzlos auf Höfen versickern, die nicht durchgreifend rationalisieren können; die überhaupt nur leben, weil auf ihnen Frau und Kinder mitschuften, ohne mehr als ein Bett und Essen und Trinken dafür zu bekommen.
Noch sind die Konturen des Lübke-Planes undeutlich. Andreas Hermes hat ihn bisher gutgeheißen. Er kannte den Plan. ehe er den Minister während eines Frühstücksgesprächs mit dem Bundeskanzler in Rhöndorf inthronisierte Lübke war vorher Ernährungsminister in der Regierung des Landes Nordrhein-Westfalen.
Wenn der Plan des Ministers Lübke Erfolg haben soll, dann bedeutet er eine landwirtschaftliche Umwälzung. Den erklärlichen bäuerlichen Widerstand dagegen zu brechen, dazu ist ein auf vier Jahre ernannter, von politischen Bindungen und von seinem Kanzler abhängiger Landwirtschaftsminister unfähig. Dazu ist nur ein Mann von unumstrittener Autorität in der Lage, der zugleich unabsetzbar ist.
Der NS-Reichsnährstand hatte im März 1933 schon zu einer Diffamierung greifen müssen, um den führenden Mann der ländlichen Genossenschafts-Bewegung auszuschalten. Unter dem konstruierten Verdacht der Untreue wurde Hermes damals verhaftet. Die Anschuldigung lautete auf fahrlässige Verwirtschaftung von Geldern
des Raiffeisenbundes. Erst nach mehr als einem Jahr bekam Hermes sein Urteil: vier Monate Gefängnis, durch die Untersuchungshaft verbüßt.
Angewidert, nicht zuletzt von der Treulosigkeit guter Freunde, die ihn damals mieden, ging Andreas Hermes nach Südamerika. In Kolumbien baute er ein Genossenschaftswesen nach Raiffeisenschen Prinzipien auf. Als er kurz vor dem Kriege zurückkommt, stößt er bald zu den Verschwörern gegen das Regime. Er trifft auf Goerdeler, Leuschner, Elfes, Steltzer, Kaiser. Am 11. Januar 1945 verurteilt ihn der Volksgerichtshof zum Tode.
Hermes sitzt, oft Wochen hindurch Tag und Nacht gefesselt, bis zum Kriegsende im Gefängnis. Er sieht und hört, wie einer der freunde nach dem anderen zum Galgen abgeführt wird. Die Vollstreckung seines Urteils aber wird immer wieder hinausgeschoben.
Wenige Monate nach der Befreiung gründete Hermes die CDU*). Dann kam der Tag, an dem die Sowjetische Militär-Administration von ihm die Unterschrift unter den Aufruf zur Bodenreform forderte. Hermes lehnte ab.
Da setzten die Russen den einzigen Sohn, zwei ältere waren im Kriege gefallen, gegen die Unterschrift des Vaters. Aus Karlshorst kam ein Anruf: »Dr. Hermes, Ihr Sohn ist in russischer Kriegsgefangenschaft.« Hermes verstand. doch er unterschrieb den Aufruf nicht.
Vierzehn Tage später meldete sich Karlshorst wieder: »Dr. Hermes, Ihr Sohn ist
*) Die CDU wurde im Juni 1945 unter Leitung von Hermes in Berlin gegründet. Der spätere Staatssekretär und jetzige Bundestagsabgeordnete Dr. Otto Lenz war einer der politischen Kuriere, die im Auftrag von Hermes Nachfolgegründungen in den Ländern der drei Westzonen vorbereiteten. an der Oder.« Nach weiteren vierzehn Tagen: »Dr. Hermes, Ihr Sohn ist in Potsdam. wollen Sie ihn sehen?«
Hermes bat: »Um Gottes willen, lassen Sie doch seine Mutter ihn besuchen«, aber er unterschrieb nicht. Wenige Tage später: »Ihr Sohn ist an der Oder.« Bald darauf: »Ihr Sohn ist jetzt nicht mehr an der Oder.«
Hermes verweigerte die Unterschrift unter ein Papier, mit dem die Kollektivierung der ostdeutschen Landwirtschaft begonnen wurde. Sein Sohn kam erst fünf Jahre später aus der Gefangenschaft zurück.
Monatelang durfte Hermes die Ostzone nicht verlassen. Dadurch verlor er in der entscheidenden Zeit den Einfluß auf die Entwicklung der CDU in Westdeutschland. Am 19. Dezember 1945 zwang ihn Oberst Tulpanow, der politische Berater der sowjetischen Militärverwaltung, den Vorsitz der CDU niederzulegen.
Andreas Hermes verließ die Ostzone. Eine schwere Gallenoperation warf ihn bis zum Herbst 1946 aus dem Gefecht. Schließlich wurde er in den Frankfurter Wirtschaftsrat gewählt. Dieses Gremium war seiner Meinung nach den westdeutschen Verhältnissen angemessen. Hermes wollte so schnell wie möglich auf die deutsche Wiedervereinigung zusteuern und warnte vor jeglicher westdeutschen Eigenmächtigkeit.
Noch 1950 sagte er: »Zu großer Außenpolitik sind wir heute nicht in der Lage. Die beste Außenpolitik, die Westdeutschland heute machen kann, ist diejenige, die nicht gemacht wird.«
Konrad Adenauer aber wollte Außenpolitik machen. Er ergriff die Chance, die der Parlamentarische Rat ihm dazu bot, wurde Ratspräsident und betrieb die verfassungsmäßige Installierung eines westdeutschen Teilstaates.
Aber Hermes nahm 1948 den Kampf für seine Ansicht nicht auf. Er gründete zwar die »Gesellschaft zur Wiedervereinigung Deutschlands«, sammelte Gleichgesinnte um sich, darunter den einstigen Botschafter in Moskau, Nadolny. Er redete, setzte sich persönlicher Diffamierung aus, aber innerhalb der CDU resignierte er.
Damals, als die Gründung der Bundesrepublik bevorstand, hätte es zur Durchsetzung seiner Ziele des großen Spieles bedurft. Einer kraftvollen Aktion, wie sie nun noch einmal im 76. Jahr des Andreas Hermes als Verpflichtung aus den Erfahrungen seines ganzen Lebens auf ihn zukommt: Gegen die Beharrungskraft der gesamten Landwirtschaft die Bereinigung der westdeutschen Agrarstruktur durchzusetzen.
Die Instrumente dazu, den Bauernverband und die Raiffeisen-Organisation, hat Hermes fest in der Hand. Ob er sie gegen die Unbelehrbarkeit mancher seiner Funktionäre führen kann, werden die nächsten Monate zeigen, in denen der Bundestag Westdeutschlands Landwirtschaft ein »Agrarpolitisches Grundgesetz« geben will. Dann wird Andreas Hermes eine klare Stellung beziehen müssen zwischen volkswirtschaftlicher Notwendigkeit und jener erdverbundenen Tradition, die heute Tausende von hart arbeitenden Kleinbauern auf unrentablen Höfen festhält und die auch in ihm selbst lebendig ist.
Des alten Mannes Augen, sonst von herabhängenden Lidern halb verdeckt, werden groß. wenn er von seiner eigenen Sehnsucht spricht: ein Stück Land, und sei es noch so klein. Der Bauernführer Hermes hat nie in seinem Leben einen Morgen Land besessen.
<0Kasten0>
erfordert die landwirtschaftliche Produktion je nach Ausrüstung der Betriebe unterschiedlichen Arbeits- und damit Lohnaufwand. (Arbeitsstunden je Hektar)
DER BUNDESREPUBLIK<
Fleisch 4%<
Eier 26%<
Fette 55%<
Zucker 26%<
Brotgetreide 28%<