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Der biologische Bumerang kehrt zurück

SPIEGEL-Redakteur Jochen Bölsche über 1983 aufgetretene »neuartige Schadbilder« in der Natur *
Von Jochen Bölsche
aus DER SPIEGEL 52/1983

Im Haus des Henkers spricht man nicht vom Strick. Im Hohen Haus zu Bonn ist noch kein einziges Mal das Thema debattiert worden, warum die etablierte Politik sich seit Jahren außerstande zeigt, naturwissenschaftlich begründeten Notwendigkeiten Rechnung zu tragen, bevor es zum ökologischen Desaster kommt.

Schon die späte wie spärliche Reaktion auf die US-Mahnschrift »Global 2000« hat gezeigt: Je folgenschwerer eine Entwicklung für die Zukunft der Menschheit ist, desto geringer die Chance, daß sie in Bonn zum Gegenstand der sogenannten großen Politik wird.

Da mochte die OECD errechnen, daß die Luftverschmutzung in der Bundesrepublik alljährlich Schäden in Höhe von sage und schreibe 40 bis 70 Milliarden Mark bewirkt oder daß durch Abgas-Entgiftung die durchschnittliche Lebenserwartung der Westeuropäer um 500 Tage verlängert werden könnte - kein Thema für die Bundesregierung, kein Thema fürs Parlament, schon gar kein Thema für einen Krisenstab.

Das offizielle Bonn nimmt nicht zur Kenntnis, was die schwedische Regierung seit langem für das »größte Umweltproblem« der nördlichen Halbkugel hält: die schleichende Versäuerung der Erde, die »Acidification«, die auch in den USA und in Kanada schon zum Politikum gediehen ist.

Zwar haben auch jene Politiker, die vor kurzem noch von Panikmache sprachen, mittlerweile zu begreifen begonnen, daß das Ökosystem Wald wirklich zusammenbricht, die Schadensflächen sich im Laufe eines einzigen Jahres vervierfacht haben.

Und die Bundesforschungsanstalt für Forst- und Holzwirtschaft widmet sich bereits der Frage, wieviel Holz anfällt, wenn alle Nadelbäume, die älter als fünfzig Jahre sind, bis zur Jahrtausendwende gefällt werden. (Herausgekommen ist: 600 Millionen Festmeter - genug, um das gesamte Land Hamburg einen Meter hoch einzustapeln).

Aber verdrängt wird in Bonn wie andernorts noch immer die Einsicht, daß der Tod der Bäume nur eine der Folgen großflächiger, zunehmender Luftverseuchung ist; einer Vergiftung mit Stoffen, die allerdings, anders als einst die dicken Rußflocken, nur mehr im Ausnahmefall sinnlich wahrnehmbar sind.

Da ist, vor allem, das farblose Schwefeldioxid, das entsteht, wenn das gelbe Gift Schwefel verbrennt. Jeder Schüler im siebten Schuljahr weiß, was entsteht, wenn dieses Gas sich mit Wasser verbindet: Schwefelsäure. Und er kann ermessen, was geschieht, wenn aus westdeutschen Kraftfahrzeugen und Kaminen jährlich 3,5 Millionen Tonnen Schwefeldioxid emporquellen und sich zu einem Großteil mit Regen und Nebeltröpfchen verbinden - oder, tückischer noch, mit jener Flüssigkeit, mit deren Hilfe die Nasen- und Rachenschleimhaut den Menschen vor Atemwegserkrankungen schützen.

Welche Bedeutung der Säuregrad, der pH-Wert, von Luft und Wasser für das irdische Leben hat - auch das steht im Lehrbuch: »Viele lebenswichtige Prozesse verlaufen innerhalb bestimmter pH-Grenzen.«

Dessen ungeachtet hat die Bundesregierung 1974 und erneut 1983 Vorschriften erlassen, die es gestatten, die Atemluft als Gratis-Deponie für Schwefeldioxid und andere säurebildende Gase zu benutzen - sofern sie nur, mittels superhoher Schornsteine, fein verteilt werden.

Jahr für Jahr rieselt auf Westdeutschland noch immer die schier unvorstellbare Menge von 450 000 Tonnen Schwefelsäure hernieder. Dazu kommen, vorwiegend als Folgeprodukt von Autoabgasen, 280 000 Tonnen Salpetersäure - alles mit behördlicher Billigung. Nur ökologische Analphabeten sind imstande, einen so tiefen Einschnitt in die komplexen Netze der Natur zu gestatten.

Noch ist das volle Ausmaß der Konsequenzen nicht ins Bewußtsein der Nation gedrungen - vielleicht, weil es gewohnte Denk-Dimensionen sprengt:

In 500 Millionen Jahren irdischer Evolution haben alle Lebewesen dieses Planeten sich Umweltbedingungen angepaßt, die wesentlich durch den Umstand geprägt waren, daß Regenwasser einen Säurewert um pH 5,6 hatte, wie Niederschläge früherer Jahrhunderte, konserviert im grönländischen Eis, belegen.

Seit Beginn der Industrialisierung jedoch, gleichsam binnen eines Sekundenbruchteils des Erdentages, ist auf der pH-Skala der Chemiker (die von 0, extrem sauer, bis 14, extrem alkalisch, reicht) der Mittelwert der Niederschläge in der Bundesrepublik dramatisch abgestürzt: auf 5,2 im Jahre 1965, auf 4,4 im Jahre 1970, mittlerweile auf 4,0.

Unter Bonns Politikern gibt es viele Gewerkschaftsfunktionäre, Juristen, Ökonomen, jedoch kaum einen Ökologen, Biologen, Chemiker. Daran mag es liegen, daß sich die Brisanz dieser Entwicklung den politischen Entscheidungsträgern bislang kaum mitgeteilt hat.

Daß sich mit abnehmender pH-Ziffer der Säuregehalt einer Flüssigkeit gleich um jeweils eine Zehnerpotenz erhöht, gehört ebenfalls zum Chemie-Pensum des 7. Schuljahres. Der Regen, der auf Deutschland niedergeht, ist mithin heute mehr als zehnmal, zum Teil mehr als zwanzigmal so sauer wie vor zwanzig Jahren. Aber diese Schulweisheit ist den Polit-Profis, so sie sich ihnen überhaupt erschlossen hat, offenkundig schnuppe: _(Greenpeace-Mitarbeiter boten letzte ) _(Woche in München säuregeschädigte ) _(Nadelbäume zum Verkauf an. )

Die Fachleute lehrt die Versäuerung der Umwelt längst das Fürchten. Denen ist klar, daß der Säuregrad von Böden wie Gewässern sich mehr oder weniger rasch, je nach ihrer Pufferkapazität, dem pH-Wert des Sauren Regens und des Sauren Nebels, des Sauren Schnees und des Sauren Windes nähert - und daß dieser Prozeß schon viel weiter vorangeschritten ist, als die dafür politisch Verantwortlichen es wahrhaben wollen.

Nicht nur daß die Auswirkungen säurebildender Gase aus Kraftwerken und Automotoren den Boden und die Luft bereits so sehr belasten, daß der Tannenbaum, Symbol deutscher Innerlichkeit, im Aussterben begriffen ist. Das Mainzer Landwirtschaftsministerium führt auch den 1983 registrierten Rückgang der Weizenerträge mit zurück auf die Luft- und Bodenversäuerung. Das Stuttgarter Agrarministerium meldet »neuartige Schadbilder« im Streuobstbau; Auswirkungen des Sauren Regens auf den Weinbau seien nicht auszuschließen.

Nur wenig Beachtung gefunden haben bislang auch Meldungen, daß das Seensterben nicht länger nur ein skandinavisches oder kanadisches Naturphänomen ist: Im Böhmerwald und im Fichtelgebirge, im Bayerischen und im Oberpfälzer Wald sind Bäche und Seen so versäuert, daß es auch dort laut Münchens Innenministerium neuerdings zu einer »Verarmung und zum Teil Verödung der Tier- und Pflanzenwelt« kommt. Im Hunsrück sind Gewässer durch die herniederregnende Schwefel- und Salpetersäure, wie Geoökologen berichten, »gleichsam sterilisiert« worden.

Anderswo, in weiten Teilen Norddeutschlands beispielsweise, ist die Natur durch jahrzehntelangen Säureeintrag so geschädigt, daß aus Bucheckern keine Buchen mehr werden und Moorfroschlaich im Moor verfault. Ein entwicklungsgeschichtliches Novum: Naturverjüngung findet nicht mehr statt.

Walduntergang, Mißernten, Seensterben - all dies und manches mehr war abzusehen. Daß Weizen und Gerste auf Böden zwischen pH 7,9 und 6,6 am besten gedeihen, daß bei einem pH-Wert unter 5,5 Wasserflöhe eingehen, daß bei pH 5,0 der Lachs und bei 4,7 die Forelle sich nicht mehr vermehren, daß bei pH 4 schließlich auch Karpfen, Zander und Barsch krepieren, ist dutzendfach nachzulesen.

Politiker und Ministerialbürokraten, die in den vergangenen Jahren wiederholt über die Neufassung von Schadstoffhöchstwerten berieten, maßen solchen Zahlen kein Gewicht bei. Sie sahen sich vor die Frage gestellt, ob sie, wie die »Wirtschaftswoche« 1978 schrieb, »Gladiolen und Koniferen, Lurche und Molche - ganz empfindliche Gewächse und Kreaturen also - unter den besonderen Schutz des Gesetzes« stellen sollten, und das »zu Lasten von Industrieansiedlungen«. Und da war klar, wie die Antwort ausfiel.

»Ein gewisses Risiko für die Vegetation«, erklärte ein Chemie-Repräsentant im Bonner Hearing, müsse eben »in Kauf genommen« werden; es sei schließlich kein »erheblicher Nachteil, wenn in einem höchst industrialisierten Land keine rentable Waldwirtschaft betrieben werden kann«.

Gedanken an Auswirkungen der Waldgifte auf empfindliche Menschen, Kinder oder Kranke wurden beiseite geschoben.

Die »Dokumente der Dummheit«, wie die »Süddeutsche Zeitung« die einschlägigen Bonner Protokolle nannte, muten nach wie vor hochaktuell an. Sie offenbaren eine Geisteshaltung, die noch immer den Umgang mit der Umwelt bestimmt: die anthropozentrische Arroganz derer, die meinen, die Schöpfung ohne Unterlaß schröpfen zu können.

In Vergessenheit geraten sind, so scheint es, an der Spitze von Industrienationen wie der Bundesrepublik jene ökologisch begründeten Regeln, die den sogenannten Primitiven geläufig waren. »Alle Dinge«, sprach der legendäre Indianerhäuptling Seattle in seiner (heute als Kulttext der Öko-Bewegung verbreiteten) Rede an den US-Präsidenten aus dem Jahre 1895, »alle Dinge teilen denselben Atem: das Tier, der Baum, der Mensch - sie alle teilen denselben Atem.«

Daß sich die atemberaubende Vergiftung der Umwelt gegen die Vergifter wendet, war bereits abzusehen, als es in Bonn noch zum guten Ton gehörte, über die grünen Molch- und Lurchschützer zu spotten.

In einem 1978 vorgelegten Gutachten des Sachverständigenrates für Umweltfragen findet sich der Hinweis auf einen damals bereits sieben Jahre alten Forschungsbericht, demzufolge Stickoxid-Werte, »wie sie in belasteten Gebieten der Bundesrepublik auftreten«, eine »erhöhte Häufigkeit von Atemwegserkrankungen (Kinder und Erwachsene)« bewirken.

Wie reagierte Bonn auf solche alarmierenden Befunde? Japan ließ damals seine Kohlekraftwerke entgiften, in den USA wurde der Einbau von Autoabgas-Katalysatoren vorgeschrieben. Die SPD/ FDP-Bundesregierung indes duldete es, ermutigt von einer nicht minder wachstumsbesessenenen Opposition, daß die _(Oben: Fischbrut in normalem und ) _(übersäuertem Wasser (Mitte); ) _(unten: Buchenkeimlinge aus gesundem (l.) ) _(und übersäuertem Boden (r.). )

Stickoxid-Emissionen noch weiter anwuchsen.

Nach der Wende wurden, wider alle Vernunft, jene Stickoxid- und Schwefeldioxid-Höchstwerte bestätigt, die erweislich den Wald wie auch die menschliche Gesundheit ruinieren und dreimal so hoch liegen wie die Empfehlungen von Medizin- und Forstwissenschaftlern.

Abgewehrt wurde jede Verschärfung der Werte jahrelang vor allem vom jeweiligen Wirtschaftsminister, der sich stets als Minister der Wirtschaft verstand, ob er Hans Friderichs oder Otto Graf Lambsdorff hieß. Zur Begründung mußte ein Verständnis von Wirtschaft herhalten, das sich treffend nur als Raubbauwirtschaft definieren läßt.

Die Milliarden-Kosten dieser Politik - von der verstärkten Kalkung der versäuerten Agrarflächen bis zum zusätzlichen Materialverschleiß durch aggressive Luftgifte - hat die Allgemeinheit zu tragen; ganz abgesehen von der Enteignung der Gesundheit von Menschen, die dafür niemals Entschädigung bekommen.

Untersuchungen aus dem Ruhrgebiet lassen nicht den geringsten Zweifel, daß die Baumgifte Schwefeldioxid und Stickoxid auch die Bronchialbäume der Menschen schädigen. Allein die volkswirtschaftlichen Verluste, die durch die Bronchitis verursacht werden, machen in der Bundesrepublik alljährlich um die zwanzig Milliarden Mark aus.

Epidemiologische Studien deuten darauf hin, daß vielerlei andere Erkrankungen - vom lebensbedrohenden Pseudokrupp-Husten der Säuglinge bis zu Kreislaufschäden Erwachsener - durch Smog, wie zuletzt im November in Berlin und in diesem Monat in Hamburg, verursacht oder begünstigt werden.

Kaum vorstellbar, was geschieht, wenn die Schwefelsäure, die vom Himmel fällt, in Westdeutschland - wie in Skandinavien geschehen - mehr und mehr giftige Metalle wie Beryllium, Quecksilber, Blei, Nickel und Zinn aus Sanden und Sedimenten löst und ins Grund- und Trinkwasser schwemmt.

Harmlos muten noch die Effekte an, die saures Wasser in schwedischen Kupferleitungen bewirkt: Wer das mit Metallverbindungen angereicherte Naß zum Haarewaschen verwendet, dem kann widerfahren, daß sich seine blonden Locken blaugrün verfärben. Schlimmer aber: Bei schwedischen Kleinkindern häufen sich Erkrankungen, seit dort vielerorts Kupfergehalte von mehr als einem Milligramm pro Liter Trinkwasser gemessen werden.

Wenn die Versäuerung der Natur dazu führt, daß zunehmend Bodenminerale gelöst und damit giftige Aluminium-Ionen frei werden, wenn Aluminium, das dritthäufigste Element in der Erdkruste, verstärkt in die zum Menschen führenden Nahrungsketten eintritt, drohen bislang ungeahnte Epidemien.

In den USA glauben Forscher, den Ursachen der »Alzheimer-Krankheit« auf der Spur zu sein, eines geheimnisvollen Leidens, das Menschen in mittlerem Alter das Gedächtnis raubt und bereits rund drei Millionen Nordamerikaner und schätzungsweise 400 000 Westdeutsche befallen hat. In den Hirnen von Alzheimer-Kranken haben kanadische Mediziner Aluminium-Werte gefunden, die teils um das Dreißigfache über der Normalrate lagen (SPIEGEL 51/1983).

Alles deutet darauf hin, daß die Geschwindigkeit zunimmt, mit der die Naturzerstörung auf ihre Verursacher zurückwirkt. Die diversen Folgen des Frevels addieren sich nicht, sondern multiplizieren sich - der biologische Bumerang kehrt mit Rasanz zurück.

Ob Schwefel oder Ozon, Cadmium oder Quecksilber - so lebensfeindlich jeder einzelne dieser Stoffe ist, fataler noch ist die Kombination ihrer Wirkungen. Erst der Saure Regen, zum Beispiel, macht es möglich, daß das auf Äcker gewehte Cadmium von Nahrungs- und Futterpflanzen leicht aufgenommen und damit in den menschlichen Organen angesammelt werden kann, oft zu krankmachenden Konzentrationen. Zwischen zehn- und hunderttausend Bundesdeutsche leiden laut Umweltbundesamt bereits an Nierenkrankheiten, die durch Cadmium plus Versäuerung verursacht worden sind.

Warum sind solche Daten kaum je im Bundestag erörtert worden? Nur zum Teil läßt sich das Polit-Defizit damit erklären, daß es die westdeutsche Wissenschaft weitgehend versäumt hat, Basis-Daten über Zusammenhänge zwischen Umweltqualität und Krankheit zu liefern.

Kürzlich erst sind anläßlich eines Symposiums 150 Chemiker, Mediziner und Ökologen zusammengekommen, um eine neue Wissenschaftsdisziplin zu begründen: »Prospektive Öko-Epidemiologie«, die Lehre von den möglichen Umweltseuchen.

Eingeführt werden soll nun eine Art »Diagnostik der Umweltkrankheiten«. Notwendig sei, erklären die Initiatoren, eine interdisziplinäre Betrachtungsweise, »die sowohl die Menschen, eingeordnet in ihre ökologische Umwelt, betrachtet als auch die Umwelt von Pflanzen und Tieren zu den Menschen in Beziehung setzt«.

Beschrieben ist damit exakt die Weltsicht des Indianerhäuptlings Seattle - jene Denkweise, an der es in Bonn noch immer fehlt.

Greenpeace-Mitarbeiter boten letzte Woche in Münchensäuregeschädigte Nadelbäume zum Verkauf an.Oben: Fischbrut in normalem und übersäuertem Wasser (Mitte);unten: Buchenkeimlinge aus gesundem (l.) und übersäuertem Boden(r.).

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