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BERLIN-SICHERHEIT Der Brandt-Brief

aus DER SPIEGEL 40/1960

Im Urlaubsquartier zu Cadenabbia hat Konrad Adenauer einen Böller präpariert, der, wenn er öffentlich losgeschossen wird, den Mantel ansengen soll, den Willy Brandt sich um die Schultern drapierte, um damit als. Schutzheiliger Berlins und Ritter ohne Furcht und Tadel vor das Bundestagswahlvolk zu treten.

In einem barschen Brief bezichtigte Konrad Adenauer seinen Wahlkonkurrenten Brandt, er vernachlässige die Sicherheit der Berliner und lasse es an der gebotenen Zusammenarbeit mit ihm, dem Kanzler, fehlen. Das Schreiben ist einstweilen unveröffentlicht, aber es trägt weder einen »Geheim« noch einen »Vertraulich«-Vermerk, so daß es bei Bedarf jederzeit ohne Schwierigkeiten publiziert werden kann.

Der Kanzler hat in seinem Brief sehr prekäre Probleme der Berliner Sicherheit angesprochen, wie sie seit langem in allen möglichen deutsch-alliierten Gremien diskutiert werden mit dem Ziel, für alle Eventualitäten gerüstet zu sein, die sich aus Ulbrichtschen Provokationen ergeben könnten.

Wichtigstes Gremium ist eine deutschalliierte Arbeitsgruppe, die in Washington, Paris oder Bonn tagt und in der die Bundesrepublik zunächst durch den Bonner Amerika-Botschafter Professor Grewe, später durch den Amerika -Referenten des Auswärtigen Amtes Faber und schließlich durch Legationsrat Oncken vertreten wurde.

Das Gremium befaßte sich um die Jahreswende 1958/59, kurz nach Chruschtschows Berlin-Ultimatum, beispielsweise mit der Frage, ob die Berliner Bevölkerung während einer neuen sowjetischen Blockade der Stadt wenigstens teilweise evakuiert werden sollte. Geistiger Vater der Idee ist ein Amerikaner, der inzwischen - allerdings nicht deswegen - aus Berlin versetzt wurde und zu bedenken gegeben hatte, eine Luftbrücke könne den Berlinern wohl ein Existenzminimum, nicht aber die Arbeitsplätze sichern, weil eine normale Industrie-Produktion dann nicht mehr möglich sei. Der Lebensstandard würde sogar unter das Ostberliner Niveau absinken müssen.

Da die Luftbrücken-Flugzeuge ohnehin fast leer aus Berlin zurückkommen würden - so meinte der Amerikaner -, sei es praktisch, mit ihnen Teile der Bevölkerung, besonders Alte und Arbeitsunfähige, auszufliegen.

Bei Diskussionen in der deutsch-alliierten Arbeitsgruppe kam man beiläufig darauf, die ausgeflogenen Berliner zweckmäßigerweise in vorhandenen Truppenunterkünften unterzubringen, und da der Flugplatz Hannover günstig zu Berlin liegt und der Nato-Flugplatz Faßberg in der Lüneburger Heide schon bei der ersten Berliner Blockade eine Rolle spielte, bot sich das Gebiet der Lüneburger Heide als Auffanggebiet für ausgeflogene Berliner an.

Dieser Evakuierungsplan wurde in der Viermächte-Arbeitsgruppe damals besprochen, ist aber in offizielle Berichte dieses Gremiums nie aufgenommen worden. Immerhin hatte der Plan sich doch so in den Gehirnen deutscher Politiker verhakt, daß sie letzte Woche, als die Öffentlichkeit sich über einen Berlin-Verlegungsvorschlag des »Guardian« aus Manchester erregte, das Stichwort wieder hervorkramten.

Der Militärkorrespondent des britischen Blattes, Leonard Beaton, hatte vorgeschlagen, das Westberliner Territorium gegen ein Territorium der Sowjetzone mit gleicher Bevölkerungszahl einzutauschen und den betroffenen Bewohnern freizustellen, sich entsprechend umsiedeln zu lassen.

Obgleich Beaton mit keinem Wort von der Lüneburger Heide als neuer Heimstatt für Westberliner gesprochen hatte, kommentierte der gesamtdeutsche Ernst Lemmer in Erinnerung an die alten Viermächte-Gespräche: »Mit allem Respekt vor dem guten Willen der britischen Zeitung kann ich nur sagen, daß der Vorschlag, die Westberliner in die Lüneburger Heide zu evakuieren, nur als verfrühter Aprilscherz abgetan werden kann.«

Auch Willy Brandt hielt hartnäckig an der Hermann-Löns-Landschaft fest: »Es ist eine herrliche Sache, daß die Lüneburger Heide Naturschutzgebiet ist. Dabei sollte es bleiben.«

Die Viermächte -Gruppe diskutierte bei ihren geduldigen

Sandkastenspielen auch die Frage, was zu geschehen hätte, wenn Kommunisten in Zivil oder in Uniform nach Westberlin einströmten und die Stadt durcheinanderzubringen versuchten - und mit diesem Thema befaßt sich auch Konrad Adenauers Brief an Willy Brandt.

In Berlin gibt es seit längerem Diskussionen darüber, ob man angesichts der geringen Zahl alliierter und deutscher Waffenträger in Berlin - die alliierten Garnisonen sind etwa 11 000 Mann stark, die Bereitschaftspolizei hat wegen allgemeinen Arbeitskräftemangels nicht einmal alle Planstellen besetzt - eine Art Polizeireserve oder Hilfspolizei aus Westberliner Bürgern aufstellen sollte, die erst bei kommunistischen Unruhen in Aktion träte und wichtige Objekte bewachen helfen könnte. Auch der ehrgeizige Berliner SPD-Innensenator Joachim Lipschitz, der die Dienstaufsicht über die Polizei hat, war von solchen Ideen sehr angetan.

Aber den alliierten Regierungsvertretern in der Viermächte-Arbeitsgruppe schien eine Art Westberliner Volkssturm doch zu riskant, sie entwickelten aus politischen Rücksichten einen Plan, der bewaffneten Berlinern beim Schutz ihrer Stadt nur eine streng begrenzte Rolle zuweist.

Nur für den Fall, daß etwa Störtrupps der »Freien Deutschen Jugend« versuchen sollten, in Westberlin Unruhe zu stiften, soll die Berliner Polizei ohne alliierte Hilfe eingreifen. Sowie aber uniformierte Volkspolizisten - etwa Transportpolizisten der DDR auf den in Westberlin liegenden Eisenbahnanlagen - provozieren, wollen die Alliierten das Kommando übernehmen und selbst für Ruhe und Ordnung sorgen.

Die Meinungsunterschiede über den zweckmäßigsten Schutz Westberlins gegen kommunistische Infiltrationen, die sich zwischen alliierten und deutschen Militärs und Zivilisten ergeben hatten, kamen Ende August dem Bonner Berlin-Bevollmächtigten Dr. Vockel zu Ohren. Die Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Berlin berichtete dem Kanzler, und Konrad Adenauer konzipierte seinen Brief an Willy Brandt, dessen Ton zwar eindeutig war, dessen Inhalt aber doch gewisse Rätsel darüber aufgab, wohin genau der Kanzler zielte.

Ob der Bürgermeister denn nicht wisse, welche Gefahr allein die sogenannten Betriebskampfgruppen in Ostberlin darstellten und wie prekär die Lage der Stadt sei, fragte der Kanzler den Berliner Stadtchef und erläuterte dann im einzelnen die Gefahren des Kommunismus, die dem Briefempfänger nicht eben unbekannt waren.

Angesichts dieser Lage sei jede Differenz mit den Alliierten äußerst unangebracht. Wo bleibe denn da die vielzitierte gemeinsame Außenpolitik, wenn Berlin hinter dem Rücken der Bundesrepublik verhandele? Außerdem mische der Herr Bürgermeister sich in Fragen ein, die allein die Bundesregierung und ihre Verbündeten angingen.

Der Brief wurde gesiegelt und ging - zwecks späteren eventuellen Gebrauchs ohne »Vertraulich«-Vermerk - nach Berlin-Schöneberg ab.

Postwendend antwortete Willy Brandt in einem Ton, der in der Umgebung des Kanzlers als »knapp, hart und unverbindlich« klassifiziert wurde, und machte das Pulver für Konrad Adenauers Böller naß: Brandt teilte mit, ihm seien die Gefahren des Kommunismus bekannt. Er schilderte im einzelnen, welche Bonner Stellen er fortlaufend über die Berliner Polizei- und Hilfspolizei-Verhandlungen informiert habe.

Der Kanzler freilich ließ sich seine Parole - Brandt arbeite nicht mit Bonn zusammen - durch solch simple Fakten nicht aus dem Mund nehmen und machte deutlich, daß er das Thema von der Unbotmäßigkeit Brandts ungeachtet der Brandt-Replik weiterzuspinnen gedenkt. Die Zusammenarbeit mit dem Berliner Senat, klagte der Kanzler am Donnerstag letzter Woche vor der CDU/CSU-Fraktion, sei viel zu schwach und müsse bedeutend stärker werden.

Britischer Journalist Beaton: Neu-Berlin bei Lüneburg?

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