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»DER BÜRGERKRIEG IST UNVERMEIDLICH«

aus DER SPIEGEL 46/1969

Krieg ist nicht Krieg. Im arabischen Bruderkrieg des Libanon zum Beispiel kann man die Fronten im Taxi abfahren und wechseln, wenn man dem Chauffeur mit libanesischen Pfunden und Arrak Mut macht.

In der Dämmerung zum 1. November fuhren wir durch Beirut in Richtung Osten, wo die Berge und dann die syrische Grenze sind. Wenn die Sonne über die Hügelkämme kommt, verliert die libanesische Hauptstadt auch den Rest von Tausendundeiner-Nacht-Schein: Billige Betonbauten drängen sich in die verfallende Altstadt. Los Angeles in den Orient exportiert mit ein bißchen schäbigem Disney-Land. In den Suks öffneten die Händler ihre Läden, stellten bunte Plastikartikel zum Kauf, legten Cola auf Eis, schlachteten Hähnchen aus Hühnerfarmen. Der Hauch von Orient stank nach Abfällen.

Die Armut im Schatten der Betonhäuser hat nichts Pittoreskes mehr. Sie wirkt ziemlich brutal in Beirut. An diesem Morgen zeigte sie ihre Maschinengewehre. Die Grenze zu ihren Wohnvierteln war markiert mit Barrikaden aus Sandsäcken, Soldaten, Armeefahrzeugen.

Dort, wo Hütten aus Blechkanistern und Kistenbrettern im Morast standen, hatte es in der Nacht angeblich Tote gegeben. Ein Lager der Palästina-Flüchtlinge, Soldaten und Palästinenser hatten die Maschinengewehre noch immer aufeinander gerichtet. Aber im Lager wurde Wäsche aufgehängt.

Die Straße stieg über die Hügel in die Berge des Libanon-Gebirges. Durch Vorstädte mit neuem Reichtum zu Dörfern in unkorrumpierter Armut, aus der Schwüle der Küste in den Vorwinter des Hochlands. Weintrauben wurden geerntet. Politiker und Militärs verhandelten in Kairo über den Frieden. Armeekontrollen zeigten, daß es noch nicht soweit war, Autos, den Hausrat einer Hütte auf dem Dach, kamen entgegen und ließen ahnen, daß irgendwo noch Krieg war.

Die Straße hatte sich hinuntergewunden in die Bekaa-Senke und führte wieder hinauf in den Antilibanon. Die Bauern am Straßenrand blickten häufig in die Gebirgskette. Dann ein Knall von sehr weit weg, eine Detonation etwas näher, und aus den gelben Terrassen eines Hügels stieg heller Rauch gerade nach oben. Hinter der nächsten Straßenbiegung waren ein Tank, ein Schützenpanzer und ein paar Geländewagen.

Die kleine Gruppe libanesischer Soldaten verteidigte das Grenzdorf Masnaa gegen von Syrien vorrückende Guerilla-Kommandos. Ein Steinhaus, ein paar Hütten, die Fenster mit Pappkarton verbarrikadiert, drinnen betete man zu Allah oder Gott.

Der schicke Offizier, Pullover über der Uniformbluse, einen Schal lässig um den Hals gelegt, hatte nichts gegen Reporter im Schußschatten seines Panzers. Er erklärte die strategische Lage, die sehr einfach war. Masnaa ist eine Schlüsselstellung. Das Dorf ist die erste libanesische Siedlung an der Straße aus Damaskus, dem einzigen winterfesten Paßweg von Syrien in den Libanon. Die Straße führt zwischen den Gebirgen nach Süden über Raschaja bis Bint Dschubeil -- an die israelische Grenze. Nehmen die Fedajin Masnaa, kontrollieren sie den Weg nach Israel.

Um diese Straße wurde seit einer Woche gekämpft. Die Guerillas brauchen sie, bevor der Schnee kommt, um ihre Stützpunkte an der israelischen Grenze mit Nachschub versorgen zu können.

Die politischen Hintergründe der Schüsse konnte und wollte der Offizier nicht erklären: »Es ist jedenfalls eine Schande. Die schießen auf uns, als wären wir Juden.« Er nahm die Moral zum Feuern aus dem Glauben, dort oben lägen keine El-Fatah-Kommandos, sondern Einheiten des feindlichen Bruderstaates Syrien.

Durch das Fernglas konnte man sehen, wie auf dem Bergkamm ein Mörser in Stellung gebracht wurde. Der Tank hatte Ladehemmung, der Schützenpanzer auch, nur von einem MG-Posten ratterte es. Die erste Granate war mindestens tausend Meter über das Ziel geschossen. Die nächste lag nur etwas zu kurz. Sie detonierte neben der Straße und riß eine Stromleitung vom M« st.

Einen richtigen Kriegsberichterstatter hatte die Knallerei herbeigelockt, pensionierter amerikanischer Offizier, Schnurrbart, Notizblock, Vietnam-Erfahrung und zünftige Khaki-Uniform, in der er fror. Er nutzte natürliche Deckungen geschickt aus, um die einmalige Chance wahrzunehmen, eine kämpfende Truppe zu interviewen. Er freute sich: »Aktion.« Er analysierte die militärische Lage: »Eine Granate zu lang, eine zu kurz, die nächste mitten drin.« Er schätzte hundert Mann auf der Gegenseite mit 120-mm-Mörsern und meinte, sie könnten den Armeeposten nehmen.

Die nächste Granate kam erst nach mehr als einer halben Stunde und schlug neben einer Ziegenherde ein. Die Soldaten verfolgten durch Ferngläser das Bemühen des Hirten, die Tiere wieder zusammenzutreiben.

Verstärkung kam, zwei Panzer, ein Lastwagen mit frischen Mannschaften und dann wälzten sich Wolken über die Berge. Es begann zu regnen, Die Geschütze wurden abgedeckt, die Scharfschützen schützten sich und ihre Maschinengewehre mit Planen. Dem Offizier unter dem Dachvorsprung einer Hütte, in der immer noch gebetet wurde, taten nun die armen Kerle in den Bergen leid. Waffenstillstand.

Das war die Schlacht um Masnaa. Agenturen meldeten, sie sei eine der schwersten gewesen. Der Armeebericht wollte von zwei toten Guerillas wissen. Tote waren militärische Unglücksfälle in diesem Krieg. Ein paar freilich brauchten beide Seiten zur Selbstbestätigung.

Wir fuhren die Straße nach Süden. Den nächsten größeren Ort, Rashaja, haben findige Journalisten das libanesische Dien Bien Phu getauft, die Straße, die durch das Dorf von Masnaa zur israelischen Grenze führt. nach dem El-Fatah-Führer, den Arafat-Pfad. In die seit vier Tagen von Guerillas belagerte Festung, ein altes Fort, konnte man mit dem Taxi fahren. Zu besichtigen waren der Einschlag einer Granate und einige Löcher von Maschinengewehrgarben. Der Kommandant bezeichnete seine eigenen Verluste als leicht, auf der Gegenseite vermutete er 15 Tote. Er sagte: »Wir haben alles getan, um nicht unnötig arabisches Blut zu vergießen.«

Auf einem Pfad zur syrischen Grenze markierte ein Armee-Panzer die Front. Im nächsten Dorf war nur ein alter Mann mit einem Esel auf der Straße. Er erzählte, in der Nacht sei viel geschossen worden und am Morgen seien die El-Fatah-Kommandos verschwunden gewesen. Vielleicht sei schon Frieden.

Zwei Kilometer weiter die letzten Hütten vor dem Grenzgebirge. Jungen in Tarnanzügen stoppten das Taxi. Die Fedajin trugen Maschinenkarabiner, waren übermüdet und sehr freundlich ... Wir wollen gegen Israel kämpfen, nicht gegen eine arabische Armee«. sagte einer, der kaum 18 war. Nur der Kommandant schien älter als 20 zu sein.

Eine Bazooka, auf einen Geländewagen montiert, war mit Planen abgedeckt. Es regnete immer stärker. Die Radio-Nachrichten berichteten von Fortschritten der Verhandlungen in Kairo. Um Raschaja war der Krieg vorerst zu Ende. Die Jungen wünschten gute Heimfahrt.

Auch in Masnaa war es seit dem Mittag ruhig geblieben. Ein libanesischer Hunter-Jäger stieß durch die Wolken, eine Mig war auf der anderen Seite über den Bergen. Beide Flugzeuge drehten vor der Grenze ab. Imponiergehabe auch in der Luft.

Über dem Grenzdorf lag Anjar mit den Ruinen eines byzantinischen Palastes. Hier landete nach arabischer Überlieferung Noahs Arche, Im Osten Maidel Anjar mit Steinen, aus denen In Jahrtausenden Tempel auf Tempel gebaut wurde und schließlich ein Fort. Im Süden der wolkenverhangene Berg Hermon. Im alten Testament wird er oft erwähnt. Assyrer, Phönizier, Kanaaniter, Griechen und Römer verehrten auf seinem Gipfel ihre Götter. In fünf Jahrtausenden hat es die Kulturvölker In die Gebirge des Libanon gezogen. Ihre Spuren sind überall, in Ruinen und Inschriften und in siebzehn verschiedenen Religionsgemeinschaften.

In libanesischen Stein wurde vor 3500 Jahren das erste Alphabet geschlagen. aus dem sich alle Schriften außer den chinesischen entwickelten. Nach der letzten Schätzung ist jeder zweite Libanese Analphabet. Zu viele Kulturen und Völker sind in den schmalen Gebirgsstreifen am Mittelmeer gekommen und haben zu viele Kriege geführt. Das Spektakel an der syrischen Grenze, so fürchten die Bauern In den Dörfern und die Journalisten in Beirut, könnte der Auftakt zu einem neuen Massaker sein.

Denn die eigentliche Front lief nicht über die Hänge des Libanon- und Hermon-Gebirges. Sie ging quer durch die Städte, durch Saida, Beirut und Tripoll. Christen und Moslems, Maroniten und Drusen, Palästinenser und Libanesen -- Arme und Reiche stehen sich gegenüber.

In Tripoll starben vermutlich mehr Menschen in den vergangenen zwei Wochen als im Gebirge. Kommandos haben die Altstadt besetzt und verteidigen sie.

In Tripoll wurde noch geschossen, als Nasser und der Regen im Osten schon den Waffenstillstand erzwungen hatten. Frauen saßen hinter Maschinengewehren, Kinder füllten Sandsäcke zum Barrikadenbau. Kinder waren auch in der Burg über der Altstadt. Sie war im 13. Jahrhundert die letzte Bastion der Kreuzritter. Sie ist heute der erste Brückenkopf der arabischen Revolution im Libanon, sagte einer ihrer neuen Verteidiger.

Die Jungen spielten mit Maschinenkarabinern, Handgranaten und Flinten. Sie waren nur mit Mühe davon abzubringen, für den Reporter ein echtes Feuergefecht zu inszenieren. Das Spiel war ohnehin halbernst. Denn Armee-Soldaten schossen aus der Neustadt, sobald jemand die Deckung hinter den meterdicken Steinmauern verließ.

Die Jungen meinten, sie wollten eher sterben, als sich ergeben. Sie wollten »Palästina befreien« und »gegen die Amerikaner kämpfen«, einige hatten Mao-Bibeln, andere sagten, sie seien arabische Patrioten und keine Kommunisten. Alle sprachen von einer Revolution. Sie meinten, daß die Christen die Moslems unterdrückten, die Christen reich und die Moslems arm seien.

»Hier sind die Armen«, sagt einer der jüngsten, der stolz an Krücken ging. Er hatte eine Kugel im linken Bein. Sie trugen die Abzeichen der El-Fatah-Armee und zeigten bereitwillig libanesische Ausweise. Sie gehörten zu den ersten nichtpalästinensischen Mitgliedern der Befreiungsfront, ausgebildet und bewaffnet nicht für den Kampf gegen Israel, sondern den Bürgerkrieg.

Die Bewohner von Tripoll sind in der Mehrzahl mohammedanisch und arm. An der Straße in die Berge sind die Wohnhäuser schon nach einigen Kilometern größer, werden nicht mehr von Minaretts, sondern von Kirchtürmen überragt. In Zgharta, zehn Kilometer von Tripoll, spielten junge Männer mit den gleichen sowjetischen Maschinenkarabinern wie die Moslems in der Burg. Sie waren die Vorposten von 60 000 christlichen Maroniten, die sich in den Bergen von Tripoll auf den Kampf vorbereiten.

Auf einem Hügel über Zgharta knallte es. Die Christen schossen noch auf Zielscheiben. Vor ihrem Ausbildungslager standen viele Wagen. Man blickte herab auf Tripoli, das aus der Ferne sehr schön aussah. Man könnte von hier auch in die Stadt hineinschießen, erklärte der Kommandeur.

Er war Kaufmann in Beirut. Er wollte keine Besucher. Die militärischen Vorbereitungen seien geheim. Für politische Auskünfte seien Suleiman Franjieh und sein Sohn Antoine zuständig.

Der 29jährige Antoine, genannt Tony, ist Oberbefehlshaber der Maroniten-Armee. In seiner Residenz in Ihden sagte der junge Millionär: »Der Bürgerkrieg ist nicht mehr zu vermeiden.« Er hatte das Gewehr noch in der Hand, denn er kam gerade vom Training. Er sprach von der kommunistischen Gefahr, von den Kriegen gegen die Türken und dem Massaker, in dem die Drusen vor 100 Jahren beinah 8000 Maroniten töteten.

Seit vier Monaten stellt er seine Armee auf. Beinah 2500 Mann, meint er, seien bewaffnet und kampfbereit. Ihre sowjetischen Maschinenkarabiner haben sie von der El-Fatah gekauft. Tony wurde am Schluß etwas pathetisch: »Es wird wieder keinen Sieger geben, sondern nur Verlierer.«

Die Franjiehs haben nicht die einzige Privatarmee im Libanon. Es gibt kaum eine Religionsgruppe und kaum eine Partei ohne eigene Militärorganisation.

Der Konfessions-Feudalismus des Libanon funktioniert nicht mehr. Religionskrieg wird zum Klassenkampf. Amerikaner und Sowjets haben Interessen. Arafat und seine El-Fatah wollen über den Libanon zur führenden arabischen Macht werden. Nasser muß das verhindern. Syrien will den alten Traum von der Annexion des Nachbarn verwirklichen. Israel droht mit Grenzbegradigung.

Die Fronten im nächsten Krieg um den Libanon wird man kaum noch im Taxi abfahren können.

Kai Hermann
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