NORDSEE Der Damm wird stehen
Jetzt ist es so weit gekommen, daß Bürgermeister Josef Ernst von Norderney trotz drei Schoppen »Piesporter Ley« aus dem Keller seiner »Inselquelle« nachts nicht in den Schlaf kommen kann. Er hört immer das Stampfen der Nordsee vor der Schutzmauer des westlichen Inselkopfes und meint, seine sechs Häuser bebten bereits in den Fugen. Wo früher der flach ins Meer laufende Sandstrand die Wucht der Wogen bremste, schlägt die Brandung bei steifem Nordwest in 20 Meter Mächtigkeit auf das steinerne Deckwerk von Norderney.
Das kann auf die Dauer nicht gutgehen. Einen Büchsenschuß von Bürgermeister Ernsts »Bremer Häusern« entfernt ist die Sturmflut im vergangenen Jahr schon über die ausgekehlte Mauer gesprungen. Die unterspülten Wände brachen wie ein leckes Wrack auseinander - fast wie 1936, als eine Sturmflut die »Viktoria-Halle« und ein Stück der Strandpromenade in die Tiefe riß. Der vorjährige Schaden kostete 3,6 Millionen DM - abgesehen von den laufenden Reparaturen an dem Schutzwerk der Insel.
»Das wäre alles nicht nötig«, sagt das 68jährige Oberhaupt der 8000 Insulaner, »wenn die Bürokraten in der Wasserbauverwaltung endlich ihren Haß gegen die Insel fahren ließen. Aber ich gebe nicht nach, bis der Damm K 4 steht«.
K 4 ist seit über einem Jahr die Kennziffer des von Bürgermeister Ernst angepriesenen Universalheilmittels für das angeschlagene niedersächsische Staatsbad, das im vergangenen Jahr seinen Kurgästen nur durch künstliche Aufspülung für 100000 DM die Illusion eines Strandes vorzaubern konnte. Wer den natürlichen schönen Strand suchte, mußte zur »Weißen Düne« wandern, wo die See in spielerischer Laune den Sand, den sie am Westkopf entführt, zum Teil wieder anspült.
»Aber wer will denn immer vier Kilometer laufen«, sagten sich die Wirte, die diese Korrektur wie ein Geheimnis hüteten. Sie merkten den Verdienstausfall bei der Abendabrechnung. Heute trägt sich Kurdirektor Tetzlaff ganz offen mit der Absicht, eine Schnell-Autobusverbindung zur »Weißen Düne« einzurichten.
Der Kurdirektor ist Realist. Ihm liegt die Straße, die jetzt im Eiltempo durch den Inselsand gebaut wird, näher als das papierne Dammbau-Projekt. Trotz Landtagsbeschluß vom 25. Januar und zähem Kampf des Bürgermeisters Josef Ernst, der besessen wie im Blutrausch um K 4 kämpft.
Josef Ernst ist nur Adoptiv-Vater von K 4, Erzeuger waren die Wasserbautechniker, die 1850 eine erste Strandmauer um die weiche Insel zogen. 1927 griffen die weiland größten Autoritäten der Hydrologie, Professor Franzius, Hannover, und Professor Thierry, Berlin, das Damm-Projekt wieder auf, als der Norderneyer Strand schon gefährlich schmal geworden war.
Was die königlich-hannoverschen Wasserbautechniker vorgeschlagen hatten - einen 1250 Meter langen Damm zwischen der Westspitze der Insel und der vorgelagerten kleinen Sandbank »Robbenplate« - erwies sich im Wasser- und Schiffsbautechnischen Institut Berlin-Charlottenburg bei 70 Modellversuchen als die gangbarste Lösung, um den gefährlichen Strom, dem Norderney seine Metamorphose verdankt, aus dem Seegatt abzudrängen.
Auf die Gestalt der Insel wirken nicht nur Sog und Strom der Gezeiten ein, sondern auch die von der Windtrift zwischen Juist und Norderney zusammengetriebenen Wassermassen, die bei steifer Brise mit 5 bis 7 m/sek. Geschwindigkeit an der Westspitze von Norderney vorbeirasen. Selbst bei Flut drängt die Strömung aus dem Seegatt durch die tiefe Rinne, die durch K 4 verbaut werden soll.
Das Gutachten der inzwischen verstorbenen Professoren, die sich über die Lückenhaftigkeit ihrer Modellversuche im klaren waren, ist Josef Ernsts Evangelium.
Das war schon so, als er noch nicht FDP-Bürgermeister auf Norderney war. Als Wahlbombe hievte K 4 SPD-Vorgänger May aus dem Bürgermeister-Sessel. K 4 versprach Arbeit und Brot für die 800 Arbeitslosen der Insel und einen ungetrübten Fremdenstrom für die Hoteliers und Gastwirte. Ernst legte K-4-Minen in die Postfächer der Kreis- und Landtagsabgeordneten. Denkschriften, Gutachten und Atteste alter Fahrensmänner und Deichrichter wurden nach Hannover geschickt.
Bis vor einigen Monaten hörten die Bauräte der Staatlichen Wasserbauverwaltung noch mit halbem Ohr hin, wenn Bürgermeister Ernst sein Steckenpferd über die Meßtischblätter galoppieren ließ Schließlich wurde er der vielen Wenn und Aber der Bauräte überdrüssig, die sich nur von den Meßwerten ihrer Rohrpegel, Schaufelradstrommesser, Wasserschöpfer und anderen Instrumenten überzeugen lassen. Als er ihnen einen fertigen Bauplan auf den Tisch legte, wurden die Beziehungen zwischen den »Bremer Häusern« und der ehemaligen Strandvilla derer von Wedel, wo jetzt die Forschungsstelle residiert, reichlich gespannt.
Baurat Kurzhak nannte Ernsts wasserbauliche Ambitionen ein politisches Machwerk. Ernst - während des Krieges nach Holland emigriert - hatte holländische Freunde zu Hilfe gerufen. »14 Millionen DM und der Damm steht noch in diesem Jahre«, versprach Boltje und Zonen, Zwolle, Tesselschadestraat 17.
»Unmöglich!« einigten sich maßgebliche Instanzen der Fachverwaltung von Norderney bis Hannover. Außerdem hätten die letzten Kontaktaufnahmen der mit Filmen ausgestatteten Hydrometer eindeutig ergeben, daß K 4 ein totgeborenes Kind sei.
»Mynher, ick sein een alten Deikbauer«, sagte Boltje, selbstgefällig die brillantenbesetzten Arbeitshände über dem Bauch gefaltet. »Sie kriegen mehr Sand als genug. Das müssen Sie mir schon glauben.« Doch alle Verhandlungen mit dem Leiter des Wasserwirtschaftswesens, Regierungsdirektor Schweicher, verliefen im Sande.
Die vorgeschlagene Bauweise der Holländer, auf 400 Meter breiter Sohle eine künstliche Sandbank anzukippen, sei sehr fragwürdig. Dem Gutachten von Prof. Th. Thijsse vom Waterloopkundig Laboratorium Delft widersprachen deutsche Autoritäten wie Prof. Agatz, Vorsitzender der Hafenbautechnischen Gesellschaft Hamburg, und Professor Hensen von der Technischen Hochschule Hannover. Prof. Hensen will mit seinen Studenten das Projekt noch einmal an Ort und Stelle überprüfen.
»Und was geschieht, wenn die Holländer eines Tages den Bau aufgeben, wenn sie merken, daß K 4 ein Windei ist?« fragte Skeptiker Schweicher. Die holländischen Zigarren aus Zwolle wippten unwillig. Man sprach von Treu und Glauben und vertagte die Entscheidung.
Die »Bremer Häuser« nutzten die Zeit zu geschickter Propagandatätigkeit. Neu - Bürger Ernst - in den zwanziger Jahren MdR der USPD und Syndikus der Berliner Buchmacher - agierte mit Parlamentsroutine. Erfolg auf der ganzen Linie: die Parteivertreter im Ernährungsausschuß des Niedersächsischen Landtages überboten sich an Aktivität für die Förderung des Dammbauprojekts.
Trotz Fachreferent Schweichers Gegenargumente brachte SPD-Sprecher Fischer K 4 vor das Plenum des Landtags, und abends hing in jeder Gaststätte auf Norderney das Extrablatt der »Badezeitung« neben der Theke. Schlagzeile: »Der Damm K 4 wird gebaut, einstimmiger Beschluß des Landtages«.
Boltje seniors Triumph lag etwas zu früh: Die darauffolgende Finanzausschußsitzung brachte heftige Auseinandersetzungen.
Die rührigen Holländer wurden in die Enge getrieben. Schweicher stellt ihre Seebaupraxis in Abrede: Am Dammbau bei Walcheren hätten sie nicht mitgearbeitet, ihre angeblichen Erfahrungen beim Zuidersee-Werk seien Legende. Laut Auskunft von holländischen Staatsstellen. Ueberhaupt: Boltjes Bauvorschläge seien so wenig konkret, daß die Wasserbauverwaltung - wenn es sich um eine deutsche Firma gehandelt hätte - schon längst die Verhandlungen abgebrochen hätte.
Die Fronten zwischen Schweicher und seinen Wasserbauern einerseits und K-4-Zuredner Ernst andererseits wurden sehr sichtbar gezogen. Längs der ostfriesischen Inseln gilt der Regierungsdirektor aus dem niedersächsischen Landwirtschaftsministerium seitdem als geschworener Feind der Marschen und Inseln. Er wolle den Untergang von Norderney.
Das schrieb Bürgermeister Ernst auch Ministerpräsident Hinrich Kopf und Landwirtschaftsminister Gereke. Diese »sturen diktatorischen Bürokraten« seien Feinde der Legislative. Nicht einmal vor einem Landtagsbeschluß hätten sie Respekt.
Ernst hat alle Parlamentarier zum Feldzug gegen die Bürokraten aufgerufen und als Kampfparole ausgegeben: »Der Damm K 4 wird stehen und Regierungsdirektor Schweicher gehen!«
Neue Gewährsleute für das umstrittene Projekt wurden mobil gemacht - alte Fahrensmänner, Fischer und Spökenkieker. Ein 77jähriger bescheinigte, daß Intuition und Instinkt mehr gelten als alle mathematischen und physikalischen Berechnungen: »Ich gehe noch heute oft auf die Sandbänke und Riffe und lasse mir von der Natur etwas erzählen. Auf diese Weise habe ich schon die schönsten Lösungen gefunden, die seelenlose Instrumente niemals vermitteln konnten ...«
Wenn es um 14 Millionen DM geht, sind Naturinstinkte ein schwaches Argument. Keine Bank erteilt daraufhin eine Blankovollmacht. Nur der Landtag in Hannover tat es - in Sachen K 4.
Und 3000 Wundergläubige taten es, Apostel Bruno Gröning gegenüber, dem sie vom Festland in Scharen nach Norderney folgten. Der insulare Gastwirtsverein hatte ihm Gastrecht gewährt, denn die ihm folgten, verzehrten auch was und brauchten Logis.
Der Gröningrausch verflog, die Sorge blieb auf Norderney Unablässig stampft die weiße Brandung auf dem schwarzen Gestein der zerrissenen Buhnen. Wann springt die Flut auf die Insel über? Die »Bürokraten« sind optimistisch. Sie sind ihrer Sache sogar sehr sicher - trotz aller Beschuldigungen. »Es stände schlimm um unsere junge Demokratie, wenn wir uns als Fachleute wider besseres Wissen für eine schlechte Sache verwenden ließen. Wir bauen nicht auf Schwemmsand der Robbenplate, sondern haben unser eigenes Programm - weniger genial, dafür aber um so sicherer ...«
Neue Pfähle, Spundwände und Buhnen werden in das wacklige Korsett der Uferbefestigungen gezogen Die Nachholschulden aus der Kriegs- und Nachkriegszeit werden getilgt. Das kostet auch Millionen. »Sie verzinsen sich aber nach Ansicht der Fachleute eher als die Aufwendungen für ein zweifelhaftes Projekt, mit dem der Niedersächsische Landtag düpiert worden ist.« So sagt Schweicher, der Beamte.
»Man wird den Abgeordneten des Landesparlaments klarmachen müssen, daß sie sich bei solchen schwerwiegenden, kostspieligen Beschlüssen gründlicher von Fachleuten beraten lassen müssen.«
Die schlimmste Gefahr wird abgewandt, Norderney wird bestehenbleiben und auch als Bad seinen Ruf behalten. Wenn es auch besser gewesen wäre, die königlich-hannoverschen Wasserbautechniker von 1850 hätten gar nicht erst damit angefangen, die Schutzmauer zu ziehen, sondern die Norderneyer hätten dem natürlichen Drang der Meeresströmung nachgegeben, die allenthalben an den Westzipfeln der ostfriesischen Inseln nagt und nordwärts wieder Sand anspült.
Als Wangeroog in der Neujahrsnacht 1854/55 einer Sturmflut erlegen war, bauten die Fischer, durch Schaden klug geworden, ihre neue Siedlung mitten auf die Insel. Auch auf Juist sind die Insulaner mehrfach umgezogen, bis sie einen Wohnplatz fanden, der für die nächsten 100 Jahre relativ sicher erscheint.
Nur auf Norderney beharrten die konservativen Insulaner am befestigten Westkopf wie Soldaten hinter einer Brustwehr. Der Staat steckte Millionen in die Kuranlagen, in das Wellenbad, wo man im schaumbewegten, temperierten Meerwasser auch im Winter alle Badefreuden genießen kann, in das Kurtheater, die Sportanlagen und die Strandforsten. Damit läßt sich nun nicht mehr umziehen.
Aber wenn die Norderneyer nicht zu ihrem neuen Strand an der »Weißen Düne« kommen, der Sand wird nicht zu ihnen kommen, sagten die deutschen Fachleute. Kontra Boltje und Zonen, K 4 und Landtagsbeschluß. Das letzte Wort hat der Finanzminister.