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»Der Doktor, das ist unser Genosse«

Ein neuer Brandherd schien im November 1970 die Neue Welt zu entflammen: In Chile kam die Volksfrontregierung des Marxisten Salvador Allende in freier Wahl an die Macht. 15000 reiche Chilenen räumten damals ihre Bankguthaben. Die Reaktionäre in aller Welt fürchteten einen »Ausverkauf der Freiheit in Santiago«. Heute, nach neun Monaten Volksfront, zeichnet sich ab: Allendes Revolution ist ein Kampf um Reformen -- im Parlament.
aus DER SPIEGEL 33/1971

Auf Santiagos Hausberg San Cristobal wacht die bleiche Statue der Maria noch immer über die alte Ordnung. Die Reichen wohnen »oben": auf den grünen Hügeln der Villenviertel von Providencia, Las Condes und Nunoa. im Schatten der Platanen. abgeschirmt durch glasiertes Mauerwerk und Ziergärten. Die Armen wohnen noch immer »unten": in den tristen Industrievierteln der Altstadt, wo im Sommer das Leitungswasser versiegt.

Und hinter Fabrikhöfen, Schrotthalden und Abfallhaufen reihen sich die öden Planquadrate der baumlosen Poblaciones und dreckigen Callampas, stacheldrahtumzäunte Gettos der Hoffnungslosigkeit. Hier hausen in Bretterbuden und Wohnhöhlen die Ärmsten: Arbeitslose, Wohnungslose, Landlose.

Der Weg aus den Gettos in das Stadtzentrum ist lang noch immer. Er führt vorbei an gleißenden Neonreklamen von Coca-Cola und Philip Morris, Ford-Autos und Hollywood-Filmen, dem üppigen Konsum-Angebot jener »US-Monopole, die Chiles Reichtum jahrzehntelang ausgebeutet haben« (Allende).

Einen »demokratischen Weg zu einem humanen und gerechten Sozialismus« hatte Salvador Isabelino del Sagrado Corazón de Jesús Allende Gossens, Sproß einer alten Familie des chilenischen Großbürgertums, angekündigt, als er im vorigen Herbst als Kandidat einer linken Volksfront Präsident von Chile wurde.

Zum erstenmal in der Geschichte hatte ein Marxist in freien Wahlen gesiegt -- für Moskau »eine Wende von historischer Bedeutung«, für Peking »ein neues Blatt, das wir begeistert begrüßen«. Kuba-Führer Castro versprach nicht nur Zucker (im Tausch gegen Lebensmittel) als Hilfe: »Das chilenische Brudervolk kann mit unserem Blut. notfalls mit unserem Leben rechnen.«

Für die Rechten in aller Welt hingegen war der unerwartete Sieg des Linken ein schwerer Schock. 15 000 Chilenen räumten in Panik ihre Bankkonten und flüchteten ins Ausland. US-Präsident Nixon erklärte mißmutig, »die USA billigt diese Art von Regierung nicht«, und drohte, »entsprechend zu reagieren«. Selbst die kritische »New York Times« empfahl: »Ein Staatsstreich der chilenischen Militärs wäre einer Machtübernahme der Volksfront vorzuziehen.« Für die Hamburger »Welt« war es der »Ausverkauf der Freiheit in Santiago": »Alle Versicherungen Allendes, er strebe kein »zweites Kuba« an, sind entweder unehrliche Wortklaubereien oder ein plumpes Täuschungsmanöver für Gutgläubige.«

Heute, nach neun Monaten Amtszeit des Allende-Regimes, sieht die Wirklichkeit anders aus: »Unsere Revolution ist nichts für die Schlagzeilen der Weltpresse, sie ist stupide Kleinarbeit«, so Victor González Maertens, Chef der zentralen Planungsbehörde »Odeplan«, zum SPIEGEL.

In der Empfangshalle des Flughafens Pudahuel -- Rechtsextremisten drohten sie vor einem halben Jahr in die Luft zu sprengen -- drückt ein verschlafener Polizist ohne Formalitäten gleichgültig seinen Visastempel in die Pässe aus Ost und West: Russen, Amerikaner, Chinesen, Brasilianer und Deutsche -- aus Düsseldorf und Ost-Berlin.

Auch ein paar Chilenen sind dabei, verlegene Spätheimkehrer, die das Land aus Angst vor Allende verlassen hatten. Nun wollen sie wieder zurück. »Siga nomás« (Bitteschön), sagt der Beamte.

Mit dem Marsch »Preußens Gloria« zieht wie eh die Leibwache vor der Moneda auf, dem Amtssitz des Präsidenten: die Offiziere in weißen Handschuhen und mit gezogenem Degen. Die martialische Schau kann auch ein lockenmähniger Hippie nicht stören, der sich an die Spitze des Zuges setzt. Er trägt ein Plakat. auf dem steht: »Schafft das Militär ab!

Auch das ist Chile nach neun Monaten Sozialismus: Bars und Restaurants sind überfüllt. Im Warenangebot der Luxusläden zwischen den Einkaufsstraßen Bandera und Mac Iver fehlt kaum ein Artikel. Die Löhne wurden letzten Herbst um 35 Prozent heraufgesetzt. in Chile wird mehr Geld umgesetzt als je zuvor. Sonderkommandos des Gesundheitsministeriums fahnden nach Gangs von Rauschgifthändlern; die Zahl der Süchtigen nimmt rapide zu.

Unter der ersten marxistischen Regierung des lateinamerikanischen Festlandes sind alle Provinzblätter fest in der Hand der Konservativen. Die von der Macht verdrängten Christdemokraten sicherten sich durch Aufkauf einen Zeitungskonzern: auch in den drei Fernsehsendern und 30 Rundfunkstationen allein in Santiago hat sich bislang wenig geändert.

Neu ist aber: Seit Allendes Wahl wird in Chile über Politik gestritten wie in anderen Ländern Lateinamerikas nur über den Fußball -- parteiisch und mit emotionalem Urteil. Selbst im feudalen Polo-Club »San Cristobal in dem politische Gespräche bisher streng verpönt waren, diskutieren verwöhnte Juniorchefs zwischen kandierten Kirschen (Europa-Import) und schwarzen Zigarren (Kuba-Import) über die Auswirkung der Wirtschaftsreform auf die trüben Bilanzen.

Im Stadttheater, das von einem privaten Konsortium gemanagt wird. stürmten Kulissenarbeiter und Schauspieler die Bühne, um dagegen zu protestieren, daß für 60 000 US-Dollar zweitrangige Kräfte aus dem Ausland verpflichtet werden: »Wir brauchen unsere Devisen für nützlichere Dinge!« Aber die Kontrakte sind schon unterschrieben -- vom Bürgermeister Santiagos. der im Konsortium sitzt.

Wunderdoktor oder Engelmacher?

In einer Vorstadtschule von Santiago stiegen rechte Schüler dem linken Direktor wortwörtlich aufs Schuldach -- Demonstration gegen ausgefallene Stunden. Linke Bergarbeiter der Mine Caleras-Prado von Santa Cruz besetzten die Förderkörbe und verlangten von der Volksfront ein Extrageld für die Revolution.

Das früher eher graue Santiago schreit heute in Farben -- grellbuntes Spektrum der Politik, in den Vierteln der Reichen ebenso wie in denen der Armen. Die Pinselkolonnen der Parteien haben keine Brandmauer, keine Fassade, auch nicht die brüchigen Lehmwände der Vorstadtschuppen ausgelassen. um sie mit ihren Parolen zu bemalen

Von den Zeichen an der Wand ist abzulesen, daß Allende -- unter Anspielung auf seinen Beruf als Arzt -- entweder der »Wunderdoktor Chiles« oder der »Engelmacher der chilenischen Zukunft« sei.

In Wahrheit ist dieser Allende. das wird immer deutlicher, wohl weder das eine noch das andere. Was er kurieren will. hat er schon im Wahlkampf überdeutlich gesagt: Abbau der ausländischen Einflüsse und der inländischen Privilegien, gerechtere Verteilung von Einkommen und Besitz und wirksame Hilfe für die Armen.

Für dieses Programm hat der Marxist Allende eine breite Basis -- und insofern mag seine Revolution ein Sonderfall mit begrenztem Modellwert für andere Staaten sein. »Revolution« oder »Sozialismus« sind für die Chilenen seit langem keine Reizworte mehr. Schon Allendes Vorgänger. der Christdemokrat Eduardo Frei, warb mit dem Schlagwort der »Revolution in Freiheit. Allende ersetzte die populäre Parole bündig mit: »Revolution ist Freiheit:«

Der Besitzer eines Kaufhauses, Einwanderer aus Italien und in knapp 20 Jahren reich geworden ("Nennen Sie um Gottes willen nicht meinen Namen, sonst schlägt mir die Konkurrenz die Schaufenster ein"), gibt zu: »Eine gründliche soziale Veränderung ist überfällig. Allende hat das Zeug dazu nur, ob ihm die Zeit reicht --

Von den vier Parteien und zwei Bewegungen, die das Programm der regierenden Volksfront »Unidad Popular« (UP) unterstützen. haben nur die Sozialisten und Kommunisten erklärt sozialistische Ziele. Allende im vorigen Herbst zum SPIEGEL: »Obwohl wir die marxistische Mehrheit haben, werden wir nur mit der Geschwindigkeit von zwei Kilometern laufen. Wie wir mit hundert Stundenkilometern fahren können, werden wir sehen«

Das Tempo ist -- entgegen den Befürchtungen der Reaktionäre und den Hoffnungen der Orthodoxen -- vorerst nicht schärfer geworden. Warum, das erklärt, begründet und wiederholt der Präsident fast täglich vor dem Volk: im Innenhof der Universität vor skeptischen Studenten. in der mahagonigetäfelten Handelskammer vor besorgten Industriebossen, in 2000 Meter Höhe in den Anden vor streikenden Arbeitern der Kupferminen oder auf dem Kongreß der Mapuche-Indianer, die das ihnen vor 90 Jahren geraubte Stammesland wiederhaben wollen.

Es gibt keinen chilenischen Politiker, der so oft am Rednerpult steht wie Allende. Er war nie ein Cicero, ihm fehlt das Charisma eines Fidel Castro oder die gerissene Beredsamkeit eines Perón. Aber wenn er den Massen einhämmert, die Befreiung von Abhängigkeit und Unterentwicklung sei nicht mit Maschinenpistolen auf Barrikaden. sondern nur mit mehr Anstrengung bei der Arbeit zu schaffen, stimmen ihm die meisten zu.

Das scheint um so erstaunlicher, als die Revolutionsregierung die dringendsten sozialen Mißstände -- Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot -- bislang nicht wesentlich bessern konnte. Die Quote der Beschäftigungslosen liegt in der Zwei-Millionen-Stadt jetzt bei 8.5 Prozent; im ganzen Neun-Millionen-Land suchen 400 000 nach einem Job.

430 000 Familien warten auf eine menschenwürdige Wohnung. Die Regierung versprach für 1971 über 70 000 neue Sozialwohnungen -- bis April war noch nicht eine im Bau. Nun sollen kleine Privatfabriken. die der Staat unter Sondervertrag nahm, mit der Montage von 20 000 Fertighäusern helfen.

Den »Rotos« (abschätziger Titel, der einst dem zerlumpten Fußvolk der spanischen Eroberer galt) dauert das zu lange. 5000 von ihnen griffen zur Selbsthilfe, besetzten mit ihren kinderreichen Familien Neubauten in den Villenvierteln und weigerten sich wieder auszuziehen, als die Polizei erschien.

Präsident Allende mußte persönlich eingreifen. Er fuhr in die Siedlung »Villa Presidente Kennedy« zu den Okku-

* Oben: Vina del Mar: unten: Familie Larraín Pena auf ihrer Farm hei Santiago

panten, versprach Abhilfe und überredete sie zum Rückzug. Der Regierungschef: »Wir können nicht zaubern und die Misere, die uns die vorige Regierung hinterlassen hat, über Nacht beseitigen.

Landlose Indios im Süden, von den Revolutionsreden der Regierung bestärkt, besetzten im Morgengrauen die Landgüter ihrer Nachbarn. Sie scherten sich nicht darum, ob deren Betriebsgröße überhaupt unter die Enteignung fiel. Am Stadtrand von Valparaiso und Puerto Montt bauen sich Arbeitslose aus den Brettern der staatlichen Depots Hütten und pflanzen zur Rechtfertigung die chilenische Fahne auf das Dach.

Auf diese ungeduldigen Signale reagierte die Revolutionsregierung mit Brot und Spielen. Kinder und werdende Mütter bekommen, wie eine Wahlparole versprach, täglich kostenlos einen halben Liter Milch, die Bäcker sind durch Dekret zur Produktion eines »Volksbrotes« zum günstigen Einheitspreis verpflichtet. Die billigen Sorten waren entweder steinhart oder ungenießbares Klei-Gummi.

In den Schulen und Kindergärten verteilen staatliche Hilfsorganisationen nicht nur Bücher und Griffel, sondern auch Pullover und Overalls. Mitunter sorgen Jungrevolutionäre der »Mir« (Bewegung der Revolutionären Linken) -- die in Opposition zur Regierung stehen -- für zusätzliche Freiwilligenspenden. Geschäftsleute, die Angst vor angedrohten Plünderungen haben, spendieren das unverkaufte Frischgemüse und stockige Konserven.

Allende, ehemaliger Gesundheitsminister, schickte einen »Volksgesundheitszug« 35 Tage lang durch die ärmlichsten Südprovinzen. Fachärzte, Zahnärzte und Apotheker versorgten die Landarbeiter kostenlos.

Ein »Volkskulturzug«, arrangiert von Popsängern und Schauspielern. brachte Kurzweil in den faden Alltag der Provinz. Ein »Zug für Volkstourismus« fuhr die Familien aus den Elendsquartieren rings um Santiago zu einem kostenlosen Urlaub an die See oder ins Gebirge -- für fast alle der erste Urlaub ihres Lebens.

Teresa aus der Poblacion »Che Guevara«, Mutter von neun Kindern und mit einem Mann geschlagen, der am liebsten jeden Escudo in Schnaps umsetzt, war dabei. Beeindruckt hat sie der Ausflug nicht: »Hinterher ist alles viel schlimmer.«

»Ich habe die Hosen an!«

Sie ist ohnehin auf das Revolutionsprogramm der Regierung nicht gut zu sprechen. »Die Neuen nehmen den Reichen das Land und die Fabriken weg aber was haben wir davon? Früher konnte man als Hilfsgärtner oder als Küchenhilfe immer mal Arbeit finden, aber jetzt spart jeder mit seinem Geld.«

Sie betet jeden Tag zur Jungfrau Maria -- und hofft auf die Kommunisten. »Die werden endlich für Ordnung sorgen«. und sie denkt dabei vor allem an ihren Mann. Von der neuen Regierungsmannschaft kennt Teresa nur Allende und meint, auch er sei ein Kommunist. »Der Doktor« das ist unser Genosse.«

Aber Salvador Allende ist nicht mehr der companero (Genosse) in der schäbigen Lederjacke, der Wahlkämpfer, der, eingekeilt in der Menge, bissig mit seinen Gegnern abrechnete, mit den Yanqui-Imperialisten und den momios (wörtlich: Mumien, sinngemäß: Reaktionäre).

Gleich nach der Wahl tauschte er seinen bescheidenen Familien-Bungalow im Viertel Providencia mit einer freigewordenen Fabrikantenvilla weiter »oben« auf den Hügeln. Die Moneda, so ließ er wissen, sei ihm als Arbeitsplatz zu düster. Politische Gegner kolportieren, er sei in einen Golf-Club eingetreten, der ihm früher die Mitgliedschaft verweigert hat.

Er schätzt heute die Distanz und trägt seine Präsidentenwürde wie einen Hermelin. Auf Versammlungen, auch denen seiner eigenen Partei, erscheint er nach zwei Attentats-Versuchen nur noch mit Gefolge. Zwei Pistolen-Männer, die früher zur »Mir« gehört haben sollen, und ein halbes Dutzend Adjutanten und Sub-Sekretäre bilden die Vorhut.

Die Presse empfängt der Genosse Präsident in pedantischer Regelmäßigkeit zweimal im Monat im goldstucküberladenen Saal der Moneda. Vom erhöhten, plüschbezogenen Thronsessel herab, durch rote Samtkordel abgeschirmt wie ein katholisches Tabernakel, erteilt er den Journalisten strenge Lektionen à la Charles de Gaulle.

Überraschende Empfindlichkeiten sind dann plötzlich im Spiel. Als ein Reporter aus Montevideo von ihm wissen will, worüber er zwei Tage zuvor mit den Militärs verhandelt habe, wird er wütend: Das gehe die Presse nichts an. Er sei als Präsident verantwortlich für die Armee und könne mit den Generalen reden, so oft er wolle. Basta!

Auf einem anderen Meeting läßt er einen chilenischen Redakteur aus dem Saal werfen, der Zweifel geäußert hatte, ob Allende noch stark genug sei, die Flügel der Volksfront zusammenzuhalten. Allende: »Ich habe die Hosen an!«

Ein Revolutionär aus dem Bilderbuch der Linken ist Allende nicht; er ist mehr Machiavelli als Robespierre: »Wer in Chile den Sozialismus unter Umgehung der Gesetze einführen will, erzeugt nur Chaos!«

Alle Reformgesetze stammen von früheren Präsidenten.

Seine Stärke liegt in der gewieften Erfahrung aus über 30 Jahren Kungeln im Kongreß. Er war Abgeordneter, Senator, Senatspräsident und Gesundheitsminister, bevor ihm im vierten Anlauf der Sprung an die Spitze gelang.

Er kennt alle parlamentarischen Tricks und weiß sie zu nutzen. Die Entscheidungen. die Chiles Gesellschaft gründlich verändern, fallen in zermürbenden Redeschlachten im Senat und im Parlament -- in beiden Häusern hat die Volksfront nicht die Mehrheit. Der neue Kongreß (Senat und Parlament) wird erst in zwei Jahren gewählt.

Von lautstarken Oppositions-Parteien mißtrauisch kontrolliert, von der auflagenstarken Oppositions-Presse kritisiert, durch die dritte Gewalt, eine eher konservative Justiz, in Schranken gehalten, quält sich die UP auf dem mühsam langen Marsch durch die Institutionen.

So ist der Genosse Präsident, der den Chilenen in seinen Ansprachen »die Welt von morgen« verspricht, vorerst noch dabei, die von gestern mit allen verfügbaren Mitteln zu reparieren.

Denn alle Gesetze, auf die sich die Regierung bei ihren Reform-Maßnahmen beruft, haben frühere Präsidenten

nicht Allende -- im Parlament eingebracht:

* Das Recht, in privaten Industrie-Betrieben bei mangelhafter Produktion staatliche Treuhänder einzusetzen, ließ sich 1932 Präsident Carlos Dávila geben -- angewandt hat er es nie.

* Das Gesetz zur Enteignung der Großgrundbesitzer setzte Präsident Eduardo Frei durch -- aber seine Agrarreform kam nie richtig in Gang.

* Von Frei aus dem Jahr 1969 stammen auch die Erlasse über die stärkere Mitbestimmung der Gewerkschaften in den Betrieben und das Recht des Präsidenten. Parlamentsentscheidungen durch eine Volksabstimmung zu umgehen -- sie blieben im Aktenschrank.

Das einzige Gesetz, das die Volksfront nach 160 Tagen Beratung verabschiedete, regelt die totale Verstaatlichung der Grundstoff-Industrie -- vor allem der Kupferminen. Auch dafür hatte die Regierung Frei 1966 durch die »Chilenisierung« des Kupferbergbaus (Mehrheitsbeteiligung am Betriebskapital von 51 Prozent durch den Staat) bereits den Weg bereitet.

Nun widersetzten sich die Opposition, die Christdemokraten und sogar die ultrarechte Nationalpartei nicht dem Regierungsentwurf. Denn es gab Anzeichen, daß die US-Teilhaber versuchten, die Produktion zu sabotieren.

Im Bergwerk El Teniente, 2000 Meter hoch bei Rancagua, früher im Besitz der Kennecott -Tochtergesellschaft Braden Copper (USA), ging die Produktion plötzlich um 20 Prozent zurück, obgleich in der Mine erst im Vorjahr zusätzliche Schürfstellen und Schmelzen ausgebaut worden waren. Die Gewerkschaft sprach offen von Sabotage.

Im »Country Club«, Freizeitherberge für leitende Angestellte, verstauben die Golfpokale. Viele Ingenieure packen die Koffer. Im Bergwerk Chuquicamata kündigten 240 amerikanische Techniker. Nachdem Allende auch für das technische Know-how Höchstgehälter festgelegt hat, reizt sie der Job nicht mehr. Englischsprachige Anzeigen im »El Mercurio« werben um »qualifizierte Techniker für lohnenden Einsatz im Ausland«.

Ein US-Konzern, über Tochterfirmen im Besitz von Aktienanteilen an drei der fünf größten

Minen, soll -- so das linksliberale Blatt »Puro Chile« -- 2375 Kilo Gold, in Kupferbarren versteckt, aus dem Land geschmuggelt und 400 Millionen Dollar Steuern hinterzogen haben.

Wenn es ums Kupfer geht, das wissen auch die Oppositionsparteien, hört bei den Chilenen das Verständnis für das Laissez-faire auf. Die 700 000 Tonnen Jahresförderung werden zu 98 Prozent exportiert. Vor allem die Devisen aus dem Kupferverkauf sollen Chiles bessere Zukunft bezahlen: jährlich 800 Millionen Dollar.

Die alleinige Verfügungsgewalt über Chiles Reichtum unter der Erde -- die größten Kupferreserven der Welt -, der Ausbau der Produktion auf 1,2 Millionen Tonnen bis 1973 bei Aufbau einer eigenen Verhüttung gehörten darum zu den populärsten Beschlüssen der Volksfront. Als Allende die totale Verstaatlichung als »Eroberung unserer zweiten Unabhängigkeit« verkündete. stimmte ihm ganz Chile begeistert zu. Am 16. Juli wurde die Nationalisierung der US-Anteile am Kupferbergbau rechtskräftig.

»Große Gewinne bei großem Risiko.«

Die Privatbanken, die den Hauptanteil am Auslandsgeschäft abwickeln und die Kreditvergabe an die mittleren Produktionsbetriebe zu Wucherzinsen monopolisieren, bekam die Volksfront per Theater-Coup in den Griff.

Vor Monaten verkündete die UP« sie wolle alle Banken verstaatlichen. Gleichzeitig aber machte sie den Aktionären das befristete Angebot. ihre Resitzanteile zu Vorzugspreisen aufzukaufen. Ein Enteignungsgesetz gibt es bis heute nicht, aber 11 von 26 Privatbanken stehen bereits unter Staatskontrolle. Mitunter hilft auch die Steuerfahndung nach. 2000 Beamte hat die Regierung zusätzlich auf die Privatwirtschaft angesetzt, und kaum jemand hat ein reines Gewissen.

So bekam die Bank des Zeitungszaren Agustin Edwards schon Mitte Dezember einen staatlichen Treuhänder ins Haus gesetzt, weil sie dem Textilkonzern Yarur unter Umgehung der Gesetze einen Millionen-Kredit an Dollar zukommen ließ. Anfang Mai war es bei Yarur soweit: Die aus dem Libanon eingewanderten Besitzer hatten für ihre 2100 Arbeiter die Produktion gedrosselt, weil ihnen die Gewinnspanne nicht mehr reizvoll genug erschien.

Wie im gesamten Lateinamerika war Chiles Wirtschaft, durch Steuer- und Gewinntransaktionen begünstigt, über chilenische Strohmänner weitgehend in den Händen des ausländischen Kapitals. Ein Großkaufmann zum SPIEGEL: »Hier ist es umgekehrt wie in Asien. Dort gilt: kleiner Gewinn bei kleinem Risiko. Hier heißt die Faustregel: großer Gewinn bei großem Risiko,«

Aus einem Bericht, der im April vor einem Kongreß lateinamerikanischer Industrieller in Mexiko vorgetragen wurde, geht hervor, daß in den Jahren 1956 bis 1965 ausländische Kapitalgeber durch sechs Milliarden Direktinvestitionen Gewinne von rund 8,1 Milliarden Dollar erzielten -- ein Profit von 135 Prozent.

Fünf Prozent der Chilenen verfügten bislang über 27 Prozent des chilenischen Volksvermögens; die Hälfte der Bevölkerung mußte sich in 17 Prozent des Gesamteinkommens teilen. So ist es vordringlichstes Ziel von Allendes Wirtschaftspolitik, den verfilzten Kapitaldschungel der Privatwirtschaft zu lichten und sie von ausländischen Interessenten zu befreien.

Sein Groß-Inquisitor ist Wirtschaftsminister Pedro Vuskovic, Nachkomme serbischer Einwanderer. Er nennt sich einen parteilosen Marxisten und hat sich als Professor der Ökonomie und langjähriger Sekretär der Uno-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (Cepal) auch bei politischen Gegnern einen Namen gemacht.

Er will nicht -- wie europäische Kapitalisten befürchten -- den Privatsektor gänzlich liquidieren und Auslandsinvestitionen radikal stoppen. Für den Staat fängt er nur die großen Fische: die chilenischen Schlüsselindustrien.

Er will aber den privaten Branchen die bisher leicht gemachten Gewinne beschneiden und den Monopolen im

* Links: in der Mine Indio Muerto bei Potresillos: rechts: Chuqnicamata in der Atacama-Wüste.

Land die Möglichkeit nehmen, weiter die Preise zu diktieren. Hemdsärmlig erscheint er häufig auf dem Bildschirm und wiederholt sein Kredo: »Die Sozialbindung des Eigentums hat unbedingten Vorrang vor privater Verfügungsgewalt.«

Weil er an die gültigen Gesetze gebunden ist, erzwingt der Marxist den Wandel durch eine Flut von Dekreten. Er verfügte einen Preisstopp, machte den Produzenten zur Auflage, alle Löhne um mindestens 35 Prozent zu erhöhen, und verbot. Arbeiter zu entlassen.

Resultat: Chiles Unternehmer können die erhöhten Lohnkosten nicht mehr auf die Preise abwälzen. Die Welle der Inflation (jährlich um 35 Prozent) ist vorerst gedämmt.

Der Konsum ist seit dem Frühjahr sprunghaft gestiegen, verändert hat sich die Kundschaft. In den Geschäften rings um die Alameda decken sich vor allem Arbeiter und kleine Angestellte mit Eisschränken, Fernsehgeräten und Möbeln ein.

»Die Minen gehören nicht euch, sondern dem Volk.«

Flau ist das Geschäft mit Fabrikanlagen und Maschinen. Die neuen Steuern für Unternehmer kürzen die Gesellschaftsgewinne bis zu 80 Prozent. Selbst kleine Handwerker scheuen sich wegen der unsicheren Lage. in neue Werkzeuge zu investieren.

Der einzige materielle Anreiz, den die Regierung den Fabrikanten gibt, liegt in der Mengenproduktion oder -- wie die UP es programmiert -- »in der Mobilisierung der materiellen und menschlichen Ressourcen.

Wer nicht mitspielt, das Risiko scheut oder droht, die Produktion einzustellen, bekommt prompt einen staatlichen Interventor (Treuhänder) in den Betrieb gesetzt. Der wacht darüber, daß die Maschinen weiter laufen -- koste es. was es wolle.

Die Unternehmer sind verunsichert, während es den Gewerkschaften schwerfällt, den Arbeitern klarzumachen, daß Chile nicht über Nacht zu einem Schlaraffenland geworden ist. Allende am 1. Mai zu den Bergarbeitern: »Wenn ihr glaubt, die Minen gehören jetzt euch, dann seid ihr im Irrtum: sie gehören dem ganzen Volk.«

Die italienische Firma Carozzi hat nahe Santiago mit Millionenbeträgen eine supermoderne Nudelfabrik aufgebaut. Sie führte neue Weizensorten ein und beteiligte ihre Zulieferer aus der Landwirtschaft am Gewinn. Jetzt soll sie einen Staats-Treuhänder bekommen. weil sie zu den Monopolisten gehört.

Das gleiche gilt für die deutsch-chilenische Firma Gildemeister. Sie importiert seit 30 Jahren Traktoren aus Europa und den USA. Im Krieg half sie der Landwirtschaft Chiles mit eigenen Reparaturbetrieben über die Handelsblockade. Weil sie mehr als 50 Prozent des Marktanteils hält, droht ihr nun ein Interventor.

Die politische Absicht ist zu erkennen -- ökonomisch vernünftig sind die Maßnahmen in vielen Fällen nicht. Spätestens im Herbst wird sich zeigen, ob »die Kühe des Kapitalismus, die wir melken werden« (Allende zum SPIEGEL), dann nicht schon voreilig geschlachtet sind.

Der Apparat der staatlichen Wirtschaftslenkung. den sich Vuskovic in seinem Superministerium an der Plaza de la Constitución aufgebaut hat, ist zu jung und zu unerfahren, um mit der plötzlichen Bürde fertig zu werden: Fast 80 Prozent der Produktion kontrolliert der Staat durch Treuhänder oder Kapitaleinlagen.

So wartet die Firma Cepia S. A. (Robert Bosch) seit einem Jahr auf die Entscheidung, unter welchen Bedingungen sie eine neue Zündkerzen-Fabrik aufbauen kann. Die Maschinen liegen seit Januar auf Lager, die Firma ist bereit, zwei Millionen Mark Startkapital zu investieren. Da sie im Anden-Bereich ohne Konkurrenz ist, könnte sie dem Staat nicht nur Devisen sparen, sondern auch noch welche verdienen.

Die Filiale der US-Firma RCA (Rundfunk und Elektronik), an der Chile schon mit 33 Prozent beteiligt ist, war bereit, ganz aus dem Geschäft auszusteigen. Das aber wollte das Wirtschaftsministerium nicht. Es übernahm die Bankverbindlichkeiten der Radiohändler und überredete sie zum Bleiben. Aus dem Betrieb soll ein Konzern für billige Volksfernseher werden. Trotz ungünstiger und unklarer Bestimmungen hat die Mehrheit der chilenischen Unternehmer inzwischen gelernt, mit den Wirtschaftsmethoden der Volksfront zu leben.

Wie nach den Zeiten der Improvisation das Modell der chilenischen Wirtschaft aussehen soll, zeichnet sich in den Plänen der Automobilindustrie ab. Bisher konkurrieren zehn ausländische Marken durch Lizenzniederlassungen auf dem Markt. Die UP beschränkt die Produktion -- in Firmen mit 51 Prozent staatlicher Beteiligung -- auf drei Proto-Modelle, sie garantiert den Absatz (1980: 100 000 Wagen jährlich) und den Firmen den Gewinn.

Ausländische Markenfirmen wie Fiat, Chrysler, British Leyland und Peugeot haben ihre Angebote für den Bau der genormten Staatskarossen schon abgegeben. Auch das Volkswagenwerk -- so die Auskunft in Santiago -- soll befragt worden sein, habe aber abgelehnt.

Auf dem Land, vor allem in den Südprovinzen, ist das Klima der Veränderung rauher. Hier wird nicht ohne Widerstand verloren, was die chilenische Revolution gewinnen will.

Östlich von Pucón am Villarrica-See besetzten Landlose das nur 90 Hektar große Forstgut von Otto Grübner. Es kam zu einer Prügelei, dann wurde geschossen. Sechs Nahkämpfer mußten ins Krankenhaus, der Freund des Besitzers, RolandoMatus, starb an seinen Verletzungen.

Fast täglich wird in Chiles Süden okkupiert und verteidigt. Landlose. meist Indios vom Stamme der Mapuches, reißen im Morgengrauen die verhaßten Zäune nieder. Farmer, zu Notgemeinschaften zusammengeschlossen, fahren nachts im Jeep mit geladenen Gewehren Patrouille, um ihre Habe zu schützen.

Im fruchtbaren Tal Frontera zwischen Küsten-Kordillere und den Anden geht die »toma« um -- die illegale Besetzung landwirtschaftlicher Betriebe. Über 90 Höfe sind es bisher in der Provinz Cautin, 48 allein in einer Woche in der Provinz Llanquihue.

Die Bauern sind an stumpfsinnige Befehle gewöhnt.

Mit der von Allende angekurbelten Agrarreform hat dieser Buschkrieg wenig zu tun; viele der eroberten Ländereien sind zu klein, als daß sie unter das Enteignungsgesetz fielen.

Die Regierung protestiert, mahnt, droht -- aber bisher nur mit geringem Erfolg. Anfang August erklärte Unterstaatssekretär Vergara: »Die Regierung ist fest entschlossen, mit allen Mitteln des Gesetzes das Recht auf privates Eigentum zu schützen. Polizei und Militär gegen die wilde Landnahme einzusetzen, davor schreckt die Volksfront zurück. Sie will nicht in den Ruf kommen. ausgerechnet unter den Ärmsten der Armen ein Blutbad anzurichten.

Denn die Mapuches haben erklärt: »Wir werden das Land nur als Leichen wieder verlassen.« Und daß ihr Wort ernst zu nehmen ist, dafür gibt es in Chiles Geschichte genügend Beispiele.

Unterstützt werden die Landlosen von der »Mir«. Die auf das Land abgewanderten Stadt-Guerrilleros brachten ihnen die Strategie des Gruppenkampfes bei, auch die schlagkräftige Parole: »tierra o muerte« (Land oder Tod). Jahrzehnte waren die Indianer aus der politischen Diskussion ausgespart. Nun gründen sie ihre eigene Bewegung: »Movimiento Campesino Revolucionario« --

Seit langem auch wird in der staatlichen Gesellschaft zur Durchführung der Agrarreform, »Cora«, über das ideale Modell für die Landwirtschaft gestritten. Knapp 700 Betriebe mit einer Gesamtfläche von 1,7 Millionen Hektar hat die Volksfront seit dem Amtsantritt Allendes enteignet, weitere 455 Güter stehen bis Ende des Jahres auf der Liste. Aber dann wird es noch immer über 2000 Privatbetriebe geben, die wegen ihrer Hektar-Größe unter die Agrarreform fallen.

Die wilden Besetzungen treiben Landwirtschaftsminister Chonchol und Cora-Vizechef David Baytelman zur Eile; im nächsten Jahr soll die staatliche Landnahme abgeschlossen sein.

Chonchol, den viele Chilenen für den eifernden Jakobiner der Landreform halten, war zwei Jahre bei Castro auf Kuba und Mitarbeiter der Uno-Organisation für Landwirtschaft und Ernährung (FAQ). Baytelman kennt die Probleme der kollektiven Landwirtschaft aus Israel.

Die Volksfront muß dabei gegen einen Mythos kämpfen, den sie selbst mit aufgebaut hat: Nur wer über eigenen Grund und Boden verfüge, sei ein freier Mensch. Nun stürmen ungeduldige Campesinos die Parteibüros und verlangen die eigene Parzelle.

Mit dieser Forderung der Landlosen, ihnen durch Parzellierung des Großgrundbesitzes zum lange vorenthaltenen Recht zu verhelfen, haben Kommunisten und Sozialisten den Klassenkampf geführt. Jetzt macht sich die Volksfront über den Boden-Mythos lustig.

Auf der Titelseite einer als Comicstrip aufgemachten Aufklärungs-Broschüre erklärt ein Knirps seiner aufgebrachten Großmutter, warum er sich nicht mehr die dreckigen Ohren waschen will: »Weißt du nicht, daß die Erde denen gehört, die sie bearbeiten?«

Das Land an jene aufzuteilen, die es bearbeiten, kann sich die Volksfront nicht leisten; vor allem aus ökonomischen Gründen nicht. Den Neu-Bauern, bisher gewöhnt, Befehle des Patrons stumpfsinnig auszuführen, fehlen Initiative und Erfahrung. Der Staat hat zu wenig geschulte Agronomen, um eine aufgestückelte Landwirtschaft zu modernisieren und zu kontrollieren.

Darum versucht die Cora -- bislang mit geringem Erfolg -, die ehemals Landlosen auf Staatsgütern und in sozialistischen Genossenschaften zu organisieren. Dort werden ihnen Haus und Garten als privates Eigentum garantiert, der Boden aber nach staatlichen Anbauplänen gemeinsam bewirtschaftet. Landarbeiter Pascual: »Was ändert sich dabei für uns? Nur der Patron!«

Gelöst hat die Volksfront bisher weder das Problem der Zwerge noch der Riesen in Landwirtschaft und Industrie. Dafür reichten weder die Zeit noch die verfügbaren legalen Mittel aus.

Die Zeit drängt. Die Wirtschaft wird bis Jahresende -- so haben die Experten der Ministerien ausgerechnet -- Pro-

* Landarbeiter wählen den Vorstand ihres Bauern-Rats in Gorhea. Provinz Cautín

duktions-Einbußen um durchschnittlich 25 Prozent hinnehmen müssen. Auf dem Agrar-Sektor sagen Volksfront-Gegner sogar einen Verlust bis zu 40 Prozent der Vorjahres-Ernten voraus.

Die Talfahrt ist nur zum Teil mit dem administrativ verordneten Umbau der Wirtschaft, mit den Eingriffen des Staates in die private Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel zu erklären. Die bisher besitzende Klasse -- darüber war sich die Volksfront im klaren -- würde sich für die Enteignung nicht mit erhöhten Anstrengungen bedanken.

Womit die Revolutionäre Allendes aber offensichtlich nicht gerechnet hatten, ist die Unbekümmertheit der Massen. die, von Existenzangst befreit, nun die Früchte der Revolution gleich ernten wollen. Das Chile im Übergang trägt schwer an der Bürde mangelnder Arbeitsmoral.

In einer ungewöhnlich scharfen Philippika machte Allende am 1. Mai vor versammelten Arbeitern die ernüchternde Rechnung auf: Wenn der Schlendrian in den Betrieben nicht sofort aufhöre, »sind in 14 Tagen oder zwei Monaten die Vorräte aufgebraucht«.

Darum sei Chiles neue Revolutions-Parole »Mehr arbeiten und den Gürtel enger schnallen«, denn -- so Allende: Wenn wir auf dem wirtschaftlichen Feld erfolglos bleiben, werden wir auch auf dem politischen Feld nicht gewinnen; das wäre die Enttäuschung für Millionen von Chilenen und für Millionen von Brüdern anderer Kontinente, die auf uns schauen und die uns unterstützen -- in Afrika, Asien und Lateinamerika.

Um den Brüdern in aller Welt, vor allem aber seinen arbeitsunlustigen Chilenen ein Beispiel zu geben, griff der Präsident selbst zum Hobel. Am Sonntag, dem 16. Mai, der für das ganze Land zum »Tag der freiwilligen Arbeit« erklärt wurde, zimmerte er zusammen mit anderen hohen Regierungsbeamten in der Siedlung »Ernesto Che Guevara« beim Häuserbau. Chef der Prominenten-Brigade war der argentinische Architekt Ernesto Guevara Lynch -- der Vater des toten Helden.

Wirtschaftsminister Vuskovic übte sich in einer verstaatlichten Textilfabrik im Tuchweben, Professoren, Studenten, Schauspieler und Dichter rückten zur Feldbestellung aus. Vor den Fernseh-Kameras nähten auf dem Marktplatz der Provinz-Hauptstadt Talca 50 Frauen auf Nähmaschinen 1600 Windeln.

Linke Opposition gegen Allende.

Wirksamer für die Produktivität dürften die mit der Volksfront ausgehandelten Mindest-Leistungen sein -- durch freiwillige Selbstverpflichtung der Arbeiter. Kumpel der Kupferbergwerke« der Kohlengruben und der heruntergewirtschafteten Salpeterminen, Maurer und Dachdecker, Arbeiterräte aus Textilbetrieben und Konservenfabriken und die neu gegründeten Bauernräte gaben dem Präsidenten per Handschlag ihr Wort. das gesetzte Plansoll zu erfüllen.

Selbst unter Allendes politischen Gegnern setzt sich die Meinung durch. daß sie in einer Krise nur das letzte zu verlieren und nichts zu gewinnen hätten. Ein Fabrikant aus Santiago: »Schaffen wir die Durststrecke, wird es nach sechs Jahren wieder Wahlen geben; dann können wir weiter sehen. Schaffen wir es nicht, dann wird Allende zum ersten Opfer einer blutigen Abrechnung.«

Auf blutige Abrechnung mit Allende spekuliert zunächst Chiles extreme Rechte, deren führende Köpfe hinter Gittern sitzen oder außer Landes verbannt sind: Das höchste Gericht verurteilte 69 Verschwörer, die den Mord am Militärchef General Schneider angezettelt hatten.

Viele Reiche resignieren. Fromme Momios, die im Herbst noch auf den Militärputsch hofften, erkundigten sich in den Büros der Fluggesellschaften nach dem Preis eines Charterflugs nach Frankreich. Im Wallfahrtsort Lourdes wollen sie darum beten, »daß Chile nicht kommunistisch wird«.

Aber die KP ist in Chile eine Partei der Ordnung. Penibel darauf bedacht, die Verfassung einzuhalten, wiegelt sie durch ihre Agitatoren aufrührerische Landarbeiter ab und stellt Mitglieder. die an wilden Streiks teilnehmen, vor ein Parteigericht.

Entschlossener, den trägen Ablauf der Revolution durch blutige Signale auf Trab zu bringen, sind militante Guerilla-Trupps mit Mao- und Castro-Parolen -- heimlich im Bunde mit dem linken Flügel von Allendes eigener Partei.

Diesem Flügel gelang es beim Parteitag der Sozialisten. seinen Anführer Altamirano gegen den gemäßigten Favoriten Allendes als neuen Generalsekretär durchzusetzen. Altamirano vor der Präsidentenwahl 1970: »Eine Revolution ohne Gewalt zu führen ist sinnlos.«

Diese Meinung vertritt auch die revolutionäre Mir. Mir-Chef Miguel Enriquez, von Beruf Arzt: »Der Sozialismus hat sich nirgends in der Welt kampflos von den Fesseln des Kapitalismus befreit.« Nur widerwillig waren die Jakobiner bereit, gegen das Versprechen, ihre inhaftierten Genossen freizulassen, mit der Volksfront einen Burgfrieden zu schließen.

Die kampfentschlossene Linke murrt über den bürokratischen Trott und führt die Säulenheiligen der Revolution von Lenin bis Castro als Kronzeugen an, daß die Macht mit dem »Wirrwarr des Legalismus« nicht zu verteidigen ist. Legalist Allende rechtfertigt sich mit dem Säulenheiligen Friedrich Engels:

Persönlich weiß ich genau, um es mit den Wirten Engels« zu sagen, daß die friedliche Entwicklung von der alten zur neuen Gesellschaft in den Ländern verwirklicht werden kann, wo die Volksvertretung sich ganz auf sie konzentriert. Wo man nämlich alles nach der Verfassung tun kann, was man will, da man hinter sich die Mehrheit der Nation hat Weder an Engels noch an den Burgfrieden, sondern allein an ihre Maschinenpistolen hält sich die »Vop« (Organisierte Vorhut des Volkes), eine von der Mir abgesplitterte Untergrundorganisation linker Studenten. Die Polizei behauptet, sie sei von Rechtsextremisten unterwandert.

Ein Modell für Lateinamerika?

Anfang Juni erschossen Vop-Leute auf offener Straße den ehemaligen Innenminister Perez Zujovic, den Exponenten des rechten Flügels der Christdemokraten. Zwei Attentäter wurden bei ihrer Festnahme getötet, ein dritter sprengte sich im Hauptquartier der Kripo von Santiago selbst in die Luft.

Die Motive der Pistolen-Männer sind bisher nicht restlos aufgeklärt. Am glaubhaftesten klingt, daß die Vop mit diesem Mord ein Arrangement linker Christdemokraten mit dem gemäßigten Volksfront-Flügel verhindern wollte.

Einen ersten Erfolg konnte die Vorhut im Untergrund auch verbuchen. Sechs Tage nach dem Mord stimmte die christdemokratische Fraktion im Parlament zusammen mit den Rechten für die Abwahl des Parlamentspräsidenten und seines Stellvertreters, beide Mitglieder der Volksfront.

Bislang waren die Christdemokraten bemüht, sich als regierungsloyale Opposition zu einer wählbaren Alternative gegenüber der Volksfront aufzubauen. Bei den Nachwahlen eines Senatssitzes für die Südprovinzen weigerte sich die Partei. mit den Rechten ein Wahlbündnis zur »antimarxistischen Bürgerfront« einzugehen. Als sich die Christdemokraten in Valparaiso Ende Juli bei einer Regional-Wahl mit den Rechten verbündeten. reagierten die Parteilinken mit einem Massen-Exodus: Zehn Parlamentarier und über 40 Funktionäre -- darunter fast die ganze Spitze der Parteijugend -- kündigten ihre Mitgliedschaft.

Der christdemokratische Präsidentschafts-Kandidat Tomic, mit Allende persönlich befreundet, erklärte in einem Interview, daß seine Partei »angesichts der Realitäten in Chile nur eine Linkspartei war und sein kann«.

Chiles Weg zum Sozialismus, das erscheint nach neun Monaten Amtszeit Allendes außer Zweifel, ist eine Einbahnstraße. Ein Zurück würde das Land ins Chaos stürzen. Wieweit dieser Weg aber nach links führen wird, ist noch nicht entschieden.

In seiner Botschaft an die Nation am 21. Mai, dem Gedenktag an den siegreichen Salpeterkrieg gegen Peru und Bolivien, beteuerte Allende: »Chile geht einen neuen Weg, es bewegt sich ohne Führer auf unbekanntem Terrain, wobei ihm als Kompaß der Glaube an den Humanismus, besonders an den marxistischen Humanismus dient.«

Chiles Revolution ist ein faszinierendes Experiment -- ein Modell für die Emanzipation der Völker ist das zum Staats-Dirigismus neigende Allende-Regime vorerst nicht. Zum Vorbild für die bisher hoffnungslos zerstrittene Linke in Lateinamerika aber ist die parlamentarisch siegreiche Volksfront geworden: In Argentinien und Uruguay verbünden sich die progressiven Kräfte zum unblutigen Kampf um die Macht.

Die Furcht vieler Chilenen, daß der weiße Stern im chilenischen Staatswappen ein roter werden könne, ist der Sorge gewichen, daß die Früchte der Revolution geerntet würden, bevor sie reif sind. »Venceremos« (Wir werden siegen) war der Kampfruf der Volksfront, als sie zum Kampf um die Macht im Staat antrat. Die neue Parole heißt: »Avanzaremos!« (Wir werden vorwärtsmarschieren).

Wohin -- das sagen die Genossen nicht.

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