USA / WAHLEN Der dritte Mann
Drei Monate vor der Wahl des 37. US-Präsidenten ist für Amerikas Politik der Zukunft immer noch schlecht gesorgt.
Zwischen Montana und Mississippi, Kalifornien und Connecticut wünschen Millionen Menschen eine neue Politik. Aber im turbulentesten Wahljahr der jüngeren amerikanischen Geschichte bleibt ihnen vermutlich nur die Wahl zwischen zwei alten Gesichtern, zwei abgestandenen Parteipolitikern: dem entennasigen Richard Nixon und dem breitmündigen Hubert Humphrey.
Etwa 35 000 Besucher werden dabeisein, wenn die 1333 Delegierten der Republikanischen Partei in dieser Woche in Miami Beach ihren Kandidaten für das höchste Amt im Staate küren. Und wenige zweifeln daran, daß dieser Mann Richard Nixon heißt.
Fast doppelt so viele Besucher werden erwartet, wenn die 3099 Delegierten der Demokratischen Partei Ende August in Chicago ihren Fahnenträger bestimmen.
Und wenige zweifeln daran, daß dieser Mann Hubert Humphrey heißt.
Humphreys und Nixons Rivalen sind entweder tot -- wie Robert Kennedy -- oder ohne große Chancen -- wie Eugene McCarthy und Nelson Rockefeller -, weil die von Humphrey und Nixon beherrschten Parteiapparate die Außenseiter boykottieren.
Und dennoch lastet ein Alptraum auf den beiden Favoriten: Sie fürchten, die Wähler könnten einem dritten Mann, dem rassistischen Außenseiter der Gesellschaft, George Wallace, so viele Protest-Stimmen geben, daß erst das Parlament entscheiden muß, wer am 20. Januar 1969 als neuer Präsident in das Weiße Haus einzieht.
Denn nach den komplizierten amerikanischen Gesetzen ist für die Präsidentenwahl nicht die Gesamtzahl der Wählerstimmen entscheidend, sondern die absolute Mehrheit in einem 538 Personen starken Wahlmänner-Kolleg. In diesem Gremium, in dem jeder der 50 US-Bundesstaaten entsprechend seiner Bevölkerungszahl vertreten ist (Vermont stellt beispielsweise drei, New York 43 Elektoren), stimmen die Wahlmänner nicht für den Kandidaten, der im ganzen Land, sondern für denjenigen, der in ihrem Bundesstaat die meisten Stimmen erhielt.
Kommt dabei keiner der Präsidentschaftskandidaten auf die notwendigen 270 Wahlmänner-Stimmen, dann entscheidet das Repräsentantenhaus die Präsidentschaftswahl*.
Zwar mußten die Abgeordneten erst zweimal in der amerikanischen Geschichte einen Präsidenten bestimmen -- 1801 Thomas Jefferson und 1825 John Quincy Adams -, aber 1968 ist die Gefahr, daß es im Wahlmänner-Kolleg keine absolute Mehrheit gibt, größer als je zuvor.
Denn weder Hubert Humphrey noch Richard Nixon finden nennenswerte Resonanz bei den Wählern: Johnsons Vize wurde vorletzte Woche in Los Angeles ausgepfiffen, Eisenhowers Ex-
* In diesem Fall wird für jeden Bundesstaat nur eine Stimme abgegeben, gleichgültig, wie viele der 435 Abgeordneten des Repräsentantenhauses dieser Staat stellt. Dadurch ist es theoretisch möglich, daß die Vertreter der 26 bevölkerungsschwächsten Bundesstaaten mit insgesamt 17,2 Prozent der Einwohner die Vertreter der restlichen 24 Staaten überstimmen, obwohl diese 82,8 Prozent der Amerikaner repräsentieren.
** Um möglichst viele verdiente Parteifreunde nach Chicago schicken zu können, gab die Demokratische Partei mehreren Parteitags-Delegierten nur eine halbe Stimme. So erhöhte sich die Zahl der Delegierten von 2622 auf 3098.
Vize lockt selbst in republikanischen Hochburgen nur wenige Zuhörer in seine Versammlungen.
George Wallace hingegen, einst Gouverneur des Südstaates Alabama, erweckt zumindest Neugier und neuerdings auch Sympathien. Nicht alle Amerikaner, die für den Ex-Boxer Wallace stimmen, stimmen auch für seine reaktionären Ideen vom Verhältnis der Rassen, für seine drakonischen Vorstellungen von »Ruhe und Ordnung« oder für sein demagogisches Programm voll leerer, aber tönender Worte. Viele Amerikaner stimmen einfach für ihn, weil sie gegen Nixon, gegen Humphrey und gegen das Diktat der Parteiapparate sind.
Nixon und Humphrey, so erregen sich diese Kritiker immer wieder, hätten zwar dank der Parteimaschine die nötigen Delegierten für eine Nominierung, aber keine Wähler. Mc-Carthy und Rockefeller hingegen hätten Wähler, aber nur wenig Delegierte.
Tatsächlich sind weit über 60 Prozent der Männer und Frauen, die in Miami Beach und Chicago die beiden Präsidentschaftskandidaten aufstellen, nicht vom Volk gewühlt oder von den Parteimitgliedern delegiert, sondern von der Parteiführung bestimmt, die mit der Entsendung zur National Convention treue Dienste in langen Jahren oder willkommene Spenden für die Parteikasse belohnt**. Diese Delegierten stimmen meist so, wie es der Leiter der Delegation ihres Bundesstaates von ihnen verlangt.
Chicagos Bürgermeister Richard J. Daley beispielsweise, der die demokratische Parteitagsdelegation von Illinois führt, trägt Dutzende von Anstecknadeln mit den Namen der verschiedenen Kandidaten in der Tasche. Hat er sich endlich entschieden, für wen Illinois stimmen soll, verteilt er die Plaketten mit dem Namen dieses Kandidaten an seine Delegierten. »Und die«, so bekannte ein Illinois-Demokrat, »wählen den Mann, dessen Name auf der Plakette steht.«
Ohne Plaketten kommt Daleys Parteifreund, Georgia-Gouverneur Lester Maddox, aus: Gemeinsam mit dem Georgia-Parteichef James Gray stellte er selbst die Delegierten-Liste seiner Wahl für Chicago auf. Andere Parteimitglieder wurden nicht gefragt.
Und da die Männer des Parteiapparates lieber einen Mann des Parteiappartes an der Spitze des Staates sehen, übergehen sie wenn irgend möglich die Außenseiter, die -- wie etwa Kennedy oder Rockefeller -- dank ihrer Persönlichkeit und Finanzkraft zu selbständig auftreten oder die -- wie McCarthy -- der Parteibürokratie den Kampf ansagen.
So kommt es, daß der Parteimarin Hubert Humphrey -- seit vier Jahren Sprachrohr Lyndon Johnsons, seit vier Monaten Prophet einer »Politik der Fröhlichkeit« -- heute schon die meisten Delegierten auf seiner Seite hat. und das, obwohl seine Anziehungskraft auf die Wähler bisher durchaus zweifelhaft ist.
Denn Hubert Horatio Humphrey meldete seine Kandidatur so spät an, daß er sich in den sogenannten Vorwahlen (primaries) keinem Popularitätstest mit Kennedy und McCarthy mehr zu stellen brauchte.
Kennedy und McCarthy gewannen die Vorwahlen. Aber so strahlend auch manche Siege erscheinen mochten -- in den Primaries wird kaum mehr als ein Drittel der Delegierten für den Parteitag bestimmt.
»Das Traurige an den Primaries. so erregte sich jetzt Mike Mansfield, der Führer der Demokraten im Senat, »ist, daß sie in Wirklichkeit furchtbar wenig Bedeutung haben ... Diese überholten politischen Extravaganzen gleichen mehr und mehr einem Zirkus.«
Auf den Nominierungskongressen der Parteien geht der Zirkus weiter. 1912 wurde der Demokrat Woodrow Wilson erst im 46. Wahlgang nominiert, 1924 brauchten die Demokraten gar zwei Wochen und 103 Wahlgänge, um sich auf einen Außenseiter namens John W. Davis zu einigen. Seit 1956 jedoch schafften alle Kandidaten die Nominierung stets im ersten Wahlgang,
Im ersten Wahlgang sollen nach dem Willen der Parteibosse in diesem Monat auch Richard Nixon und Hubert Humphrey nominiert werden. Denn sind die beiden schon in der Öffentlichkeit umstritten, so wollen sie den Wählern wenigstens parteiinterne Einigkeit vorgaukeln.
Zwar spekuliert Nelson Rockefeller darauf, daß er Richard Nixon in Miami Beach in mehrere Wahlgänge zwingen und letztlich sogar besiegen kann. Doch Nixon, schon einmal (1960) im ersten Wahlgang nominiert, weiß: »Dieses Geschäft beherrschen die Leute nur allzugut.«