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JAPAN Der einsame Wolf

Demontage des Regierungschefs in Tokio: In beispielloser Offenheit verlangen Medien und Unternehmer den Rücktritt des einst gefeierten Hashimoto. Trotz teurer Konjunkturprogramme findet der Ministerpräsident kein Rezept gegen die Deflationsgefahr.
aus DER SPIEGEL 19/1998

Das Wiedersehen mit seinem alten Widersacher weckte bei Japans angeschlagenem Ministerpräsidenten Nostalgie. »Wollen Sie heute gar nicht fechten?« frotzelte Ryutaro Hashimoto den ehemaligen US-Handelsbeauftragten Mickey Kantor in seinem Amtszimmer an.

Während des amerikanisch-japanischen Streits um Autoexporte vor fast drei Jahren hatte Kendo-Kämpfer Hashimoto, damals noch Minister für Industrie und Handel, Kantor zu einem symbolischen Zweikampf mit dem Bambusschwert herausgefordert. Das Geschick des Japaners mit der Pomadenfrisur beeindruckte nicht nur die Amerikaner.

Hashimotos Parteifreunde kürten den Fechter Anfang 1996 zum Premierminister: »Ryu-chan« (vertraulich für »Freund Ryutaro"), wie das ganze Land ihn begeistert nannte, schien der richtige Mann, um das Land aus der seit 1990 währenden Wirtschaftskrise zu führen.

Doch seitdem hat das Glück Hashimoto verlassen. Hilflos erlebt er zur Zeit, wie die zweitgrößte Industrienation in einer Deflation zu versinken droht. Erstmals seit dem Ölschock Anfang der siebziger Jahre schrumpfte Japans Wirtschaft im dritten Quartal des abgelaufenen Fiskaljahres. Immer mehr Firmen gehen pleite, die Banken bangen um faule Kredite.

Die Arbeitslosigkeit stieg auf die Rekordhöhe von 3,9 Prozent. Experten halten es sogar für wahrscheinlich, daß bis Ende dieses Jahres mehr als 4,3 Prozent aller arbeitsfähigen und -willigen Japaner ohne Auskommen dastehen werden - ein Alptraum in dem Land, das bisher Vollbeschäftigung wie eine Art Naturgesetz hinnahm und in dem der Staat sich entsprechend wenig um soziale Absicherung scherte.

Das Realeinkommen der Beschäftigten ist seit Hashimotos Amtsantritt um über ein Prozent gefallen. In Tokio verbuchten die Warenhäuser im März Verkaufsrückgänge von über 20 Prozent.

Aus Angst vor der Zukunft horten die einst so konsumfreudigen Japaner ihre Ersparnisse - wegen der Bankenkrise vorzugsweise zu Hause im Schrank. Die amerikanische Rating-Agentur Moody's beurteilt die Aussichten für eine Erholung so finster, daß sie die bisher als stabil bewerteten Staatsanleihen herunterstufte. Die Schuld an der Misere geben die Japaner vor allem einem Mann: Hashimoto.

Das Land gleiche dem Katastrophendampfer »Titanic«, warnte »Yomiuri Shimbun«, mit 14,5 Millionen Auflage größte Zeitung des Landes. »Einst fuhr Japans Wirtschaft mit voller Kraft, jetzt treibt sie in dunkler Nacht auf einem Kurs ohne Seekarte.« Am Ende werde Japan noch die gesamte Weltwirtschaft ins Chaos stürzen. Um alles ins Lot zu bringen, sei es »morgen schon zu spät«.

Der Angriff des traditionell regierungstreuen Blattes trifft Hashimoto besonders empfindlich. Bisher begnügte sich Japans Presse meist damit, dem Volk Beschlüsse der Obrigkeit zu verkünden und zu erläutern. Doch nun, so begründete »Yomiuri« den für japanische Verhältnisse unerhörten Vorstoß, drückten sich die Politiker vor ihrer Verantwortung, und die Regierungsbürokratie sei nach einer Serie von Bestechungsskandalen verstummt. Erst vergangene Woche wurden 112 Beamte des Finanzministeriums bestraft, weil sie allerlei Gefälligkeiten angenommen hatten.

Auch die Firmenbosse mucken auf. Solange Japans Wirtschaft stetig wuchs, ließen sich die Unternehmen von der Regierung willig ihre feste Rolle im Gefüge der »Japan AG« zuweisen. Jetzt kehren international tätige Manager den Part um - und erteilen der kopflosen Führung öffentlich Lektionen.

Am heftigsten griff der Sony-Vorsitzende Norio Ohga, dessen Elektronikkonzern als einer von wenigen Herstellern trotz der Krise Spitzengewinne erzielt, Hashimoto an: Er verglich den Regierungschef mit dem amerikanischen Präsidenten Herbert Hoover zu Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929. Ähnlich wie der glücklose Hoover beschleunige Hashimoto die Talfahrt noch, indem er Verbrauchsteuern erhöhe und dem Staat einen Sparkurs verordne, um das Haushaltsdefizit bis zum Jahre 2003 von derzeit fast 7 auf 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu senken.

Was viele Unternehmer bisher höflich für sich behielten, sprach Seiji Tsutsumi, Vizevorsitzender des Wirtschaftsverbands Keizai Doyukai, unverblümt aus: »Hashimoto sollte abtreten. Der Markt hat ihm sein Mißtrauen ausgesprochen«, so der Manager in Anspielung auf Japans fallende Aktienkurse und den Wert des Yen.

Dabei hatte auch Nippons Industrie den Premier vor zwei Jahren freudig als vermeintlich starken Mann begrüßt. Weil er in der regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP) als »ippiki okami« (einsamer Wolf) aus der grauen Herde ragte, schien Hashimoto bestens geeignet, dem Exportgiganten nötige Strukturreformen zu verordnen.

Doch je härter die früher als »Nummer eins« bewunderte Nation an die Grenzen einer veralteten Wachstumspolitik stößt, um so auffälliger wird das politische Vakuum. Da Hashimoto zwar viele Ankündigungen, aber kaum neue Ideen verbreitet, schlachtet die Klatschpresse ersatzweise sein außereheliches Liebesleben aus. Wenigstens darin scheint der Premier den US-Präsidenten Bill Clinton glatt zu übertrumpfen. Besonders eine chinesische Freundin hatte es den Journalisten angetan - sie witterten darin ein mögliches Sicherheitsrisiko.

Vor allem Washington drängt Japan, seiner ökonomischen Verantwortung besser gerecht zu werden. Zwar hat Hashimoto seinen wachstumshemmenden Sparkurs jetzt aufgegeben und ein erst kürzlich verabschiedetes Gesetz zur Begrenzung der Staatsausgaben zeitweilig außer Kraft gesetzt. Doch mit seinem einsamen Entschluß brachte er mächtige Verbündete in der LDP gegen sich auf: Er hatte gegen die eherne Grundregel japanischer Politik verstoßen, nur im Konsens zu handeln.

Wie seine Vorgänger ist auch Hashimoto ein Gefangener des kollektiven politischen Führungssystems geblieben. Seine LDP, die in Japan noch immer als die ewige staatstragende Partei gilt, ist ein Bündnis von Cliquen, die jeweils ihre eigene Klientel zufriedenstellen müssen. In unzähligen Kungelrunden feilschen oft vergreiste Abgeordnete um die Verteilung der vielen Konjunkturpakete. Am Ende setzen sich meist die Lobbyisten der Bauindustrie durch. Statt in Zukunftsbranchen zu investieren, stellte die Regierung allein in den vergangenen fünf Jahren jährlich 160 Kilometer neuer Brücken im Land auf.

Kein Wunder, daß Experten auch an der Wirksamkeit des vorerst letzten Programms in Höhe von 16,6 Billionen Yen (224 Milliarden Mark) zweifeln. Es ist bereits die siebte Ankurbelung seit Ausbruch der Krise 1990.

In Tokioter Redaktionsbüros ist die Suche nach einem Nachfolger für Hashimoto voll im Gang. »Welcher künftige Premier kann die Börsenkurse heben?« fragte das Magazin »Shukan Bunshun«. Zum Bannerträger kürte es den populären Naoto Kan, Chef der oppositionellen Demokratischen Partei.

Die Personaldebatte belegt die tiefe Ratlosigkeit. Denn auch Kan, der sich als »Mitte-links« bezeichnet, könnte sich wohl kaum aus dem politischen Sumpf in Tokio befreien. Zwar verblüffte er die Japaner vor zwei Jahren als Gesundheitsminister, weil er korrupte Beamte zwang, Akten über den Aidsskandal herauszurücken. Doch Kan sitzt einem brüchigen Bund aus vier Oppositionsparteien vor, viele seiner Bundesgenossen stammen aus der LDP, seine neue Partei wirkt schwächlich.

Auch Ex-Ministerpräsident Yasuhiro Nakasone, Anführer einer konservativen Gruppe in der LDP, würde Hashimoto gern verdrängen. Aber als Ersatz hat er nur Angehörige der alten Garde zu bieten.

Hashimoto ahnt wohl, daß er vorerst keinen Herausforderer fürchten muß. Mit aufreizender Gelassenheit läßt er sich am Wochenende für rund 270 Mark in einem Luxushotel seine pomadige Frisur legen und die Fingernägel feilen. Doch seine Kritiker beeindruckt das sorgfältig gestylte Äußere nicht mehr.

»Ein Wischiwaschi-Premier, der in Zeiten der Krise unsichtbar bleibt, ist überflüssig«, schimpfte »Yomiuri«.

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Japan: Arbeitslosenquote und Wirtschaftswachstum

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