DIE GEGENWART DER VERGANGENHEIT SERIE - TEIL 12 DIE RETTER DER ENGEL VON BUDAPEST
Im Sommer 1944 machte sich ein junger Schwede auf in das von Deutschland besetzte Ungarn: Er wollte Juden retten. Die Alliierten waren kurz zuvor in der Normandie gelandet, die Rote Armee hatte ihr Land befreit. Die letzten Schlachten gegen die Deutschen begannen.
Und Hitler? Hunderttausend Zwangsarbeiter für den Bau seiner Wunderwaffen hatte er geordert, ausgerechnet in Juden sah nun der furchtbarste Judenmörder der Weltgeschichte die letzte Chance für sich selbst vor dem Zusammenbruch seiner Tyrannei. Sein oberster Vollstrecker Heinrich Himmler bot 200 000 aus Ungarn.
Die Regierung in Budapest lieferte doppelt so viele, nämlich die Angehörigen gleich mit, Frauen, Kinder, Alte - die meisten kamen zunächst nach Auschwitz, vor allem Arbeitsunfähige wurden dort in den Gaskammern getötet. Als Ungarns Staatschef Miklós Horthy davon erfuhr, stoppte er die Deportationen am 7. Juli 1944.
Am selben Tag flog Raoul Wallenberg, 32, von Stockholm nach Berlin, stieg in die Bahn und kam zwei Tage später in Budapest an. Im Hotel Gellért nahm er Quartier.
Seine Regierung hatte den Kaufmann zum Gesandtschaftssekretär ernannt, womit er diplomatische Immunität genoss. Bis dahin hatte er mit Politik, gar der großen, nichts zu tun gehabt - anders als seine beiden Onkel Jacob und Marcus Wallenberg, die über ein Banken- und Industrieimperium verfügten. Anders auch als Großvater Gustav, Botschafter in der Türkei, der sich der Halbwaise Raoul annahm, ihn auf Weltreisen schickte und zu Großem erkor.
Auch Raoul sollte Bankier werden, bei der Stockholmer Enskilda-Bank seiner Onkel. Dazu aber besaß er weder Lust noch Begabung, wie sein Zeugnis nach einem Bankpraktikum in Haifa ausweist. Er studierte Architektur in den USA, brach ab und klagte seinem Onkel Jacob: »I have neither job, nor money, that is depressing.« Raoul Wallenberg stieg in dem vom Krieg verschonten Schweden in den Delikatessenhandel - Gänseleber, Gewürze - ein, mit Erfolg, dank seines erfahrenen Kompagnons Kálmán Lauer, eines gebürtigen Ungarn.
Lauer suchte nach Beistand für seine in der Heimat verbliebenen jüdischen Verwandten. Und Wallenbergs Stockholmer Büronachbar Iver Olsen suchte einen unausgelasteten jungen Mann mit großem Namen und besten Verbindungen, der sich für ungarische Juden verwenden sollte. Olsen fungierte als Stockholmer Filialleiter des amerikanischen Kriegsflüchtlingskomitees WRB, das direkt dem Stab des Präsidenten unterstand. Er empfahl Wallenberg, der vom WRB zunächst mit 150 000 Dollar ausgestattet wurde. Und die mittlere Begabung ohne innere Ausrichtung verwandelte sich in den Engel von Budapest, an den die Nachwelt mit Ehrfurcht denkt.
In und um Budapest waren über eine viertel Million Juden zurückgeblieben. Wallenberg versorgte viele mit Lebensmitteln, sammelte schließlich 15 000 besonders Gefährdete in 31 Häusern, die er für exterritorial erklärte - neutrale Inseln unter blaugelber Flagge, mit Krankenhaus, Kindergarten und gemeinsamer Küche.
Und er griff zu einem Rettungsanker, den die schwedische und Schweizer Gesandtschaft, Rotes Kreuz und Nuntius, Spaniens und Portugals Vertretungen bereits praktizierten: Wer immer irgendwelche Auslandskontakte andeuten konnte, und sei es eine »lange Geschäftsverbindung mit Schweden«, der empfing einen Schutzpass mit Aussicht auf Visum und Ausreise.
Bis Ende Juli 1944 hatte Schweden bereits an die 650 solcher kostbaren Papiere ausgestellt, die den Besitzer zudem vom Tragen des Judensterns befreiten. Die Schweizer Gesandtschaft konnte als Interessenvertreter Englands mit mehreren tausend Zertifikaten das Recht zur Einreise in Palästina bestätigen. Über Rumänien gab es eine Möglichkeit, in die Türkei und weiter in den Nahen Osten zu entkommen.
In Budapest war aber auch SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann vom Berliner Reichssicherheitshauptamt aufgetaucht. Er konterkarierte Wallenbergs Rettungsmaßnahmen mit der schriftlich festgehaltenen Tücke, »die Judenevakuierungen so beschleunigt durchzuführen, dass die für die Auswanderung in Betracht kommenden Juden bereits vor Erledigung der Formalitäten abtransportiert sind«.
Wallenberg hatte ein Büro mit 16 Zimmern gemietet und eine »Humanitäre Abteilung« seiner Gesandtschaft eingerichtet, in der er anfangs 12, am Ende 340 Angestellte beschäftigte, hauptsächlich Juden, die dadurch geschützt waren. Dieser Apparat mit Registratur, Kasse, Archiv nahm Ausreiseanträge entgegen, überprüfte und bescheinigte sie und suchte nach kleinsten Lücken im mörderischen Netz, das Eichmanns Sonderkommando über die ungarischen Juden geworfen hatte.
Der Schwede baute einen Informationsdienst auf, um Termine von Transporten und jegliche Vorhaben der Regierung zu erkunden. Dabei erfuhr er auch mancherlei, das über seine Solidarität mit jüdischen Verfolgten hinausging. So sollen ihm polnische Offiziere, die 1939 nach Ungarn übergetreten waren, Namenslisten der von den Sowjets in Katyn erschossenen Kameraden in den Safe gelegt haben.
Von Staatschef Horthy erwirkte Wallenberg sogar das Recht, Sammelpässe und 800 Papiere mit diesem Text auszustellen: »Die Kgl. Schwedische Gesandtschaft in Budapest bestätigt, dass der Obengenannte im Rahmen der - von dem Kgl. Schwedischen Außenministerium autorisierten - Repatriierung nach Schweden reisen wird. Der Betreffende ist auch in einem Kollektivpass eingetragen. Bis Abreise stehen der Obengenannte und seine Wohnung unter dem Schutz der Kgl. Schwedischen Gesandtschaft in Budapest.«
Wallenberg ließ zusätzlich 2000 solcher Formulare herstellen. Die Drucker fertigten heimlich noch mehr, was die Aktion in Gefahr brachte - die Pässe wurden für Tausende Pengö auf dem Schwarzen Markt gehandelt.
Im September akzeptierten die Ungarn 4500 Schutzpässe; Wallenberg hatte inzwischen über 6000 ausgestellt. Und das obwohl sich viele Zuständige in Schweden, sogar die jüdischen Gemeinden, wenig geneigt zeigten, »eine allzu große Zahl von Juden zu empfangen«, wie Wallenberg es formulierte.
Sein WRB-Betreuer Olsen meldete nach Washington, das schwedische Außenministerium sei »etwas unruhig« über Wallenbergs Aktivitäten und empfinde »vielleicht, dass er mit zu großem Aplomb die Sache angefangen hat«. Der Teilhaber seiner Firma in Stockholm schrieb an Wallenberg: »Dankbarkeit für Deine Arbeit wirst Du hier wahrscheinlich nicht finden.«
Doch das Wunder, das allerdings Wallenberg später womöglich das Leben kostete, geschah: Auch die SS respektierte die Schutzbriefe für die Juden. Derart sind ungefähr 50 000 Juden dem ihnen von Deutschen zugedachten Los entkommen.
Dafür gab es einen Grund. Das Ende seiner Herrschaft vor Augen, gebar Himmlers Hirn eine seltsame Idee: Durch das Angebot, eine Million Juden gegen Lieferung von 10 000 Lkw freizulassen, hoffte der Massenmörder allen Ernstes, mit den Westalliierten in Verhandlungen einzutreten - befangen in der eigenen Propaganda-Mär, ein »Weltjudentum« bestimme die Politik in Washington und London. Außer dem spät gegründeten WRB rührte sich seitens der Regierenden dort keine Hand für die Juden in deutscher Gewalt.
Himmler suchte als eigenen Fluchtweg vor dem Untergang einen raschen Separatfrieden im Westen: Der Winkelzug lautete, dass die Militärlastwagen nur an der Ostfront eingesetzt werden sollten. Das bedeutete höchsten Alarm für die Sowjets.
Ein Moskauer V-Mann, der sich Kutusow nannte, observierte Wallenberg in der schwedischen Gesandtschaft. Er konnte erfahren, wie Eichmann im August wieder einen Transport nach Auschwitz schickte und Wallenberg noch auf dem Bahnhof mit Schutzpässen winkte, Namen rief und Opfer aus den Güterwagen holte.
21 000 Juden waren zudem nicht nach Auschwitz, sondern direkt ins österreichische Lager Strasshof verbracht worden, wo sie das Ergebnis von Himmlers Tauschhandel abwarten sollten. Die ungarische Gendarmerie hatte sie aller Habe beraubt, mit Sommerkleidung lebten sie in ungeheizten Bruchbaracken, schlecht verpflegt. Wallenberg orderte für sie in Schweden gebrauchte Kleider und Papierwesten.
Eichmann sah sich in seinem Bluthandwerk behindert. Er trachtete Wallenberg nach dem Leben. Der schwedische Attaché Lars Berg arrangierte ein Treffen bei einem Abendessen, während dessen Eichmann den »Judenhund« Wallenberg warnte: »Ihr schwedischer Diplomatenpass wird Ihnen nicht helfen, wenn ich es für notwendig erachte, Sie aus dem Weg zu räumen. Auch ein neutraler Diplomat ist nicht gegen Unglücksfälle gefeit.« Nur knapp entging Wallenberg dem Zusammenstoß seines Pkw mit einem deutschen Lkw.
Am 25. August 1944 wollte Eichmann die massenhaften Deportationen wieder aufnehmen. Wallenberg erfuhr rechtzeitig davon und sorgte für einen energischen Protest aller neutralen Missionschefs in Budapest bei der ungarischen Regierung »gegen dieses von Anfang an ungerechte und in der Ausführung unmenschliche Vorgehen«. Die Verschleppung unterblieb, zumal am 23. August die rumänische Regierung die Front wechselte und Deutschland wie auch Ungarn den Krieg erklärte. Doch dann untersagte Himmler alle weiteren Deportationen, schließlich sogar den Gasmord in Auschwitz.
Im Oktober stellte die SS noch einmal einen Transport zusammen, der gewöhnlich 3000 Opfer umfasste. Es war gewiss auf Wallenbergs Einsatz zurückzuführen, dass nur 152 Juden nach Auschwitz gelangten. 79 von ihnen starben sofort im Gas.
Gleichzeitig kommandierte Eichmann rund 17 000 Juden per Bahn und 27 000 zu Fuß an die österreichische Grenze ab, zum Schanzen eines Südostwalls gegen die heranrückende Rote Armee. Wallenberg befreite viele noch auf dem Budapester Güterbahnhof, begleitet von seinem Fotografen Thomas Veres (siehe Interview Seite 128). Er folgte den Todesmärschen mit dem Auto und holte Tausende Opfer zurück.
»Zum ersten Mal schöpfte ich wieder Hoffnung«, berichtete hernach eine Gerettete. »Er zeigte uns, dass wir keine Tiere waren, dass sich jemand um uns kümmerte. Die entscheidendste Erfahrung für uns war, dass er selbst kam, persönlich. Für uns blieb er stehen, für jeden Einzelnen von uns.« Die schwedische Gesandtschaft telegrafierte nach Stockholm:
Die Ausgehungerten, Kranken, Unglücklichen (von 12-jährigen Kindern bis zu 74-jährigen Frauen) zogen ohne Ausrüstung, zerfetzt und schmutzig dahin ... Wallenberg stellte eine kleine Hilfsstation mit Medikamenten auf. Auch die transportable Küche ließen wir mit den entsprechenden Lebensmitteln dort. Wallenberg mischte sich unter die unglücklichen Menschen, fragte sie aus, verteilte unter den Todgeweihten Zigaretten, Rum und Esswaren. Auf unserem Rückweg sahen wir am Wegrand an vielen Stellen Leichen der zu Tode gehetzten und von den Pfeilkreuzlern ermordeten Menschen.
Die Pfeilkreuzler, einheimische Faschisten, übernahmen Mitte Oktober 1944 die Regierung in Ungarn. Der neue Innenminister erklärte alle Schutzbriefe und Auslandspässe für ungültig. Aber der Ehemann einer Wallenberg-Verbündeten, Baron Gábor von Kemény, war Außenminister geworden und strebte nach internationaler Anerkennung seines Regimes.
So sagte er Wallenberg zu, dass »jüdische Inhaber von schwedischen schwarzen Pässen, provisorischen Pässen und Schutzpässen bis auf weiteres entsternt werden«, auch keine Zwangsarbeit leisten müssten, und 4500 dürften das Land verlassen. Er drohte: Wenn Schweden seine Regierung nicht völkerrechtlich anerkenne, »werden alle unter schwedischem Schutz stehenden Juden in der Donau ertränkt«.
Die Regierung wurde nicht anerkannt, die ungarischen Faschisten jagten die Juden: Sie fesselten jeweils drei aneinander und erschossen den mittleren am Donau-Ufer, so dass alle ins Wasser stürzten.
Wallenberg eilte an den Tatort. Er ließ vier seiner Mitarbeiter zu den Überlebenden schwimmen und sie wieder herausziehen. Dann fuhr er sie in sein Krankenhaus.
Am 8. Dezember schrieb Wallenberg seiner Mutter: »Die Lage ist aufregend und abenteuerlich. Banditen lungern in der Stadt herum, prügeln, foltern und erschießen Leute. Unter meinem Personal habe ich allein 40 Fälle von Abführungen und Misshandlungen gehabt.« Er fügte noch einen Satz hinzu, der auf die Motivation eines etwas naiven, erlebnishungrigen Menschen aus gutem Haus hindeutet: »Im großen Ganzen sind wir aber guter Laune und freuen uns des Kampfes.«
In einer Protestnote an die neue Regierung schilderte er, wie Juden in der Radetzky-Kaserne geprügelt und erniedrigt würden: Einen »wollte man zwingen - unter Androhung der sofortigen Hinrichtung -, die WC-Schalen mit der Zunge zu reinigen«.
Die Pfeilkreuzler sperrten schließlich über 70 000 Budapester Juden in ein Ghetto. Wallenberg versorgte viele mit Nahrung und Medikamenten. Faschisten drangen ein, marodierten und mordeten, ein Massaker stand bevor. Wallenbergs Autorität bewirkte, dass Wehrmachtsgeneral Gerhard Schmidhuber das Ghetto unter deutschen Schutz stellte. Widerstandsgruppen ließ Wallenberg Waffen, Munition und Geld zukommen.
Die zivile Courage eines Einzelnen vermag in Kriegs- und Terrorzeiten die Feigheit und Verrohung von Millionen aufzuwiegen - als ein Signal der Hoffnung. »Die schwedische Budapest-Gesandtschaft hat die Deportation von mehr als 300 000 Juden gestoppt«, rühmte ein Repräsentant der Jewish Agency in einem Interview mit »Dagens Nyheter« am 11. November 1944. Die USA ernannten Wallenberg 1981 zu ihrem Ehrenbürger, ebenso Kanada und Israel. Ihm wurden in New York, London und Budapest Denkmäler errichtet.
Von anderen Nothelfern der verfolgten Juden unterscheidet sich Wallenberg durch seine Herkunft aus einer betuchten, bekannten Familie - und durch das Schicksal, das ihm nach dem Kriege beschieden war.
Mitte Januar 1945 erreichte die Rote Armee Budapests Stadthälfte Pest bis zum Donau-Ufer. Wallenberg machte sich auf nach Debrecen in das Hauptquartier des Sowjetmarschalls Rodion Malinowski. Zuvor fuhr er noch zu seinem zweiten Büro, wohl um den Safe zu leeren, nun unter sowjetischer Begleitung, und dann endgültig in Richtung Debrecen. Seitdem ist Raoul Wallenberg verschwunden.
Sämtliche Nachforschungen blieben ohne Resultat. Die Sowjetregierung erteilte wechselnde, auch erweislich falsche Auskünfte. Obwohl Vize-Außenminister
Wladimir Dekanosow im Januar 1945 erklärt hatte, Wallenberg sei unter den Schutz der Roten Armee gestellt worden, log im August 1947 dessen Kollege Andrej Wyschinski, der berüchtigte Ankläger aus den Schauprozessen, »dass Wallenberg sich nicht in der Sowjetunion befindet und dass er uns unbekannt ist«.
Nach späteren Verlautbarungen war Wallenberg zu diesem Zeitpunkt allerdings schon tot: Erst 1957 behauptete die Sowjetregierung, laut einem Archivdokument sei ein gewisser »Walenberg« am 17. Juli 1947 in der Lubjanka, dem Moskauer Hauptquartier der Geheimpolizei, einem Herzversagen erlegen.
Doch entlassene Gefangene wollten Wallenberg noch später getroffen, mindestens fünf ihn im Zuchthaus Wladimir gesehen haben, andere im Moskauer Gefängnis Lefortowo oder auf dem Weg ins Zwangsarbeitslager Workuta im Hohen Norden. Als Nobelpreisträger Andrej Sacharow vor Ort recherchierte, befand er die meisten dieser Aussagen für gefälscht.
Ein Professor Alexander Mjasnikow raunte 1961 auf einer Ärztekonferenz in Moskau einer schwedischen Kollegin zu, Wallenberg lebe in einer Nervenklinik nahe der Hauptstadt. Auf Nachfragen widerrief Mjasnikow und starb bald danach.
Im Wendejahr 1989 übergab das KGB Wallenbergs Halbschwester Nina Lagergren Asservaten, die zufällig in der Lubjanka von einer Ablage mit altem Büromaterial heruntergefallen waren: Pass, Führerschein, Zigarettenetui, Terminkalender und die Registrierkarte jenes Gefangenen, nach dem die Welt bis heute sucht.
Der ehemalige Vizechef der sowjetischen Auslandsspionage Pawel Sudoplatow - ein Killer und Bombenleger im eigenen Land -, behauptete nun in seinen Memoiren, Wallenberg sei gleichzeitig Agent der Amerikaner, der Briten und der NS-Deutschen gewesen. Weil er nicht auch für die Sowjets habe spionieren wollen, habe man ihn mit einer Giftspritze umgebracht (zu jener Zeit hatte Josef Stalin offiziell die Todesstrafe vorübergehend abgeschafft).
Ein amerikanischer Agent? Der Stockholmer WRB-Vertreter Iver Olsen, der Wallenberg betreut hatte, war gleichzeitig Resident des US-Geheimdienstes OSS. Er hatte ihm eine Liste mit WRB-Vertrauensleuten in Budapest mitgegeben. Ein Geheimdiensttelegramm vom 7. November 1944 aus dem US-Hauptquartier in Süditalien nennt Wallenberg als möglichen Ansprechpartner eines US-Konfidenten. In einem Rechtsgutachten zur Klage des Wallenberg-Halbbruders Guy von Dardel 1984 beim Washingtoner District Court gegen die UdSSR steht in der Tat: »In Ungarn sammelte Wallenberg auf Wunsch der US-Regierung wesentliche Informationen über die Kriegsanstrengungen der Nazis und das Maß des Rückgangs gegen Kriegsende. Wallenbergs Stellung als Mitarbeiter, Beobachter und Informationsquelle hinter den feindlichen Linien war für unser nationales Interesse, den Krieg so schnell und effektiv wie möglich zu beenden, lebenswichtig.«
Oder war der Mann, der sich wie kein anderer dem Holocaust widersetzte, gar ein deutscher Agent? In der Kreml-Perspektive musste er in diesen Verdacht geraten. Als sich der Pfeilkreuzler-Terror - wohl im Dezember 1944 - auch gegen Raoul Wallenberg richtete, gab ein Vertreter des US-Geheimdienstes OSS eine Meldung nach Washington, die jetzt der SPIEGEL im CIA-Archiv gefunden hat: »Höre im Außenministerium ... dass Legationssekretär Wallenberg von schwedischer Gesandtschaft sich unter deutschen Schutz (Waffen-SS) gestellt habe.«
Für den Tausch Juden gegen Sonderfrieden - »Blut für Ware«, wie Eichmann höhnte - hatte Himmler 1944 einen eigenen Verhandlungsführer nach Budapest geschickt, den SS-Standartenführer Kurt Becher. Nebenher sollte er einen großen Rüstungsbetrieb billig unter SS-Kontrolle bringen: den Manfred-Weiss-Konzern. Dieser Deal gelang, dafür durften die Eigentümer, auch jüdische, samt drei Dutzend Verwandten nach Portugal ausreisen.
Auch Raoul Wallenberg wollte nebenher in Budapest über den Verkauf der Manfred-Weiss-Betriebe reden, damit sie nicht in deutsche Hände fielen. Hinter sich hatte er seine beiden Onkel Jacob und Marcus, die den Krieg für ihre europäischen Wirtschaftsinteressen nutzten.
Drei Wochen vor seiner Abreise hatte Wallenberg in Stockholm mit dem Direktor der ungarischen Werke verhandelt. In Budapest traf er mehrmals auch Becher, besorgte für Juden aus dem Weiss-Konzern Schutzpässe und war offenkundig auch mit Himmlers größerem Tauschgeschäft befasst: Wallenberg versuchte, so legte Staatschef Horthy in seinen Memoiren nieder, »bei den Deutschen für die Juden einen freien Abzug nach Palästina zu erwirken, was ich auf dem Wege über meine Kabinettskanzlei - aber leider ohne Erfolg - voll unterstützte«.
Die Briten lehnten Himmlers Tauschgeschäft mit einem Dementi ab, das sie am 20. Juli 1944 in der Londoner »Times« veröffentlichten. Doch die Kontakte blieben.
Die beiden Wallenberg-Onkel hatten bereits einschlägig mitgemischt, und zwar zunächst sogar für die Sowjets - sie sollten im »Winterkrieg« 1939/40 vermitteln und taten das 1944 bei Finnlands Waffenstillstand. Wahrscheinlich erfuhr man aber auch in Moskau von dem eigenartigen Gesprächskanal, der über den Widerständler Carl Goerdeler nach Stockholm führte, zu den Wallenbergs - und von denen zu den Briten, zu Churchill.
Im Vernehmungsprotokoll nach dem Juli-Putschversuch und seiner gescheiterten Flucht nach Schweden sagte Goerdeler am 14. August 1944 aus, Jacob Wallenberg habe ihn im Jahr zuvor in Berlin besucht und ihm den Standpunkt der höchsten autoritativen Seite Englands dargelegt: dass »die Engländer zu einer Politik bereit seien, die die Sowjets östlich der alten polnischen Ostgrenze zum Stehen bringe und auch die baltischen Staaten nicht unter den Sowjeteinfluss fallen lasse«.
Neffe Raoul in Budapest war also für die Sowjets ein hoch verdächtiger Mann - und ein kostbares Pfand. Als er schon in der Moskauer Lubjanka steckte, am 21. Februar 1945, erschien bei Onkel Jacob in Stockholm der deutsche Diplomat Fritz Hesse mit einem Verhandlungsangebot für den Westen in letzter Stunde, samt Freilassung von nun noch 500 000 Juden. Hesse übermittelte Jacob Wallenberg zudem
die Drohung, andernfalls werde Hitler ganz Deutschland den Russen überlassen. Das würde Hitlers Tod bedeuten, trug er vor, aber Deutschland als Teilstaat der UdSSR erhalten. Jacob Wallenberg winkte ab, so erzählte es Hesse später US-Vernehmern, denn: »Blind vor Hass und gefangen in ihrer eigenen Propaganda, sind weder die Briten noch die Amerikaner bereit, die Gefahr eines zukünftigen kommunistischen Deutschland zu erkennen.«
Der Repräsentant des Jüdischen Weltkongresses in Stockholm brachte danach Hesse noch zu dem örtlichen WRB-Vertreter, eben Raoul Wallenbergs Verbindungsmann Olsen. Ihm bot er wieder die Ausreise aller Juden an, dazu die Warnung vor einer russischen Herrschaft über Europa. Zwei Tage später stand die ganze Sache in der Zeitung; die Briten hatten die Sowjets zudem unmittelbar unterrichtet.
Nach dem Putsch gegen Gorbatschow trat 1991 eine russisch-schwedische Untersuchungskommission zusammen, um Wallenbergs Schicksal aufzuklären. Noch vor Ablieferung des Berichts rehabilitierte der russische Generalstaatsanwalt Wladimir Ustinow im Dezember 1999 Wallenberg. Die Umstände seines Todes hätten sich nicht ermitteln lassen, befand er. Dabei hatte der Leiter der Rehabilitierungskommission, Gorbatschows alter Kampfgenosse Alexander Jakowlew, kurz vorher verkündet, Wallenberg sei von der Geheimpolizei hingerichtet worden.
Als Jakowlew 1988 noch Politbüromitglied war, erzählte er dem Atomphysiker Andrej Sacharow, Grund der Verhaftung Wallenbergs sei ein Tauschhandel von Militärfahrzeugen gegen Juden gewesen.
Neun Jahre nach Aufnahme ihrer Recherchen, im Januar 2001, legte die schwedisch-russische Kommission ihre Berichte vor - und enttäuschte. »Wir haben kein endgültiges Ergebnis«, äußerte kleinlaut der schwedische Ko-Vorsitzende Hans Magnusson. »Nichts Neues«, befand Raoul Wallenbergs Halbschwester Nina Lagergren, 86, gegenüber dem SPIEGEL: »Das wird uns nicht überzeugen.« Die russische Arbeitsgruppe in der Kommission bestand aus Beamten des Außenministeriums, Polizisten und einem Militärarchivar. Sie waren auf 37 Seiten zu dem Schluss gekommen, Wallenberg sei am 17. Juli 1947 in der Lubjanka verstorben; ungeklärt bleibe, ob durch Herzversagen, Erschießen oder Gift.
Der 206-Seiten-Report der schwedischen Arbeitsgruppe resümierte hingegen detailgetreu den bisherigen Kenntnisstand und ließ die Möglichkeit offen, Wallenberg habe für die USA gearbeitet. Auch mochte die Kommission »nicht ausschließen«, dass Wallenberg noch länger lebte.
Alle Fragen bleiben offen. Moris Wolff, Anwalt der Wallenberg-Familie, forderte den amerikanischen Präsidenten Bill Clinton in dessen letzten Amtstagen auf, bei Wladimir Putin zu eruieren, ob Raoul Wallenberg womöglich noch am Leben sei.
Dann wäre er jetzt 88 Jahre alt - ohne zu wissen, dass er Patriarch einer mächtigen Wirtschaftsdynastie wäre, die rund 50 Prozent einer Holding im Börsenwert von 12,2 Milliarden Dollar hält.
Fritjof Meyer ist SPIEGEL-Redakteur in Hamburg.
»Warum gab es so wenige Wallenbergs? Das Andenken
an ihn sollte ein Ansporn sein für andere, ebenfalls
zu handeln, für künftige Generationen, für uns alle.«
Uno-Generalsekretär Kofi Annan, 1998
»Sie sagten, sein Name ist Wallenberg? Sie wissen gut, dass wir den Befehl gegeben haben, die Schweden sollten geschützt werden ... Ich verspreche Ihnen, dass die Sache untersucht und aufgeklärt werden soll.«
Josef Stalin zu dem schwedischen Botschafter Staffan Söderblom, 1946
* 1944 in Kanada.* Mit Wallenbergs Pass in Moskau 1989.