Kosovo (II): Der etwas andere Krieg
Auch das ist ungewöhnlich an diesem Krieg gegen Verbrechen wider die Menschlichkeit und für das gute Gewissen: Der linke Schriftsteller Günter Wallraff, der sozialdemokratische Ex-Kanzler Helmut Schmidt und der erzkonservative CDU-Mann Alfred Dregger stehen Seit an Seit - für die Bomben. Nicht die Militärs sind die Falken, sondern meist die Männer an den Schreibtischen.
Während viele Politiker im Westen auf Bombardierungen drängen, weil sie sich von ihnen einen schnellen Sieg versprechen, mahnen Generäle. Klaus Naumann, der damalige Vorsitzende des Nato-Militärausschusses, warnt bei Diskussionen über die Optionen des Bündnisses immer wieder, mit Luftschlägen allein sei ein solcher Konflikt kaum zu gewinnen.
Als unsere Politiker Milosevic wissen ließen, dass er mit Bodentruppen nicht zu rechnen habe, gaben sie ihm eine Chance, das Ganze auszusitzen. Milosevic rechnete damit, die Koalition sprengen zu können. Gegen die Nato werde ich militärisch nicht siegen, sagte er mir, als ich Ende Januar mit (Nato-Oberbefehlshaber für Europa) Clark noch einmal bei ihm in Belgrad war. Das sah er realistisch. Aber politisch rechnete er sich eine Chance aus.
Die immer wieder gezeigten Fernsehbilder aus dem Kosovo-Dorf Racak, wo am 15. Januar 1999 über 40 Albaner wahrscheinlich Opfer einer willkürlich mordenden serbischen Soldateska wurden, zwingen zu einer Reaktion. Außenminister Fischer schlägt dringend ein Treffen der Balkan-Kontaktgruppe vor, den Vertretern der wichtigsten westlichen Länder plus Russland, verzichtet aber auf einen deutschen Austragungsort. Er will den »glorious nations«, den Briten und Franzosen, den Vortritt lassen, obwohl Bonn turnusmäßig die EU-Ratspräsidentschaft innehat. Fischer hält das ("aus Rücksicht auf unsere Historie") heute noch für richtig, muss aber erkennen: »Wir Deutschen saßen damit zuerst einmal nur am Katzentisch.« Und so behandelt der jugoslawische Präsident den deutschen Außenminister später bei dessen Besuch in Belgrad auch.
Der ehemalige Häuserbesetzer Fischer hat seine revolutionäre Jugend längst in den Hintergrund gedrängt. Ihn prägen heute politische Machbarkeiten - und Kindheitserzählungen. Seine ungarndeutsche Mutter hat ihm immer wieder Details über die brutalen Vertreibungen der deutschen Volksgruppe am Ende des Zweiten Weltkriegs aus der damals wie heute von Belgrad regierten Vojvodina berichtet.
Der Ex-Sponti versucht nun als Außenminister alles, um dem serbischen Autokraten das Bild des »neuen Deutschen« zu vermitteln. »Ich sagte ihm: Ich habe nichts gegen die Serben, ich habe auch die Kroaten-selige Politik gewisser Vorgänger im Amt nicht zu verantworten. Aber Sie müssen die Vertreibungen stoppen!«
Fischer bleibt die Erkenntnis, dass Milosevic sich durch nichts von seiner mörderischen Politik abbringen lässt. Er sei im Stande, »über Leichen zu gehen«, verkündet Milosevic zynisch, nicht so der Westen. Er könne seine Vertreibungen im Kosovo fortsetzen, wenn die Aufmerksamkeitsschwelle nicht überschritten werde: »A village a day keeps Nato away.« Demokratien dürften auf eine solche Politik nicht mit dem großen Knüppel reagieren, meint Milosevic, sie seien nun einmal schwach.
FRAGE 4: Wer hat die
Verhandlungen von Rambouillet in den Sand gesetzt?
Noch einmal tun alle so, als hätte die Diplomatie eine Chance. Im Jagdschloss Rambouillet bei Paris beginnen am 6. Februar 1999 die Verhandlungen. Die serbische Delegation will sich mit den Albanern gemeinsam nicht einmal in den Verhandlungsraum setzen, geschweige denn Kompromisse ausarbeiten: Sie betrachtet die Repräsentanten der militanten Befreiungsbewegung UÇK, die Teil der kosovarischen Delegation sind, als Terroristen. Gegen den UÇK-Verhandlungsführer Hashim Thaçi (Kommandeur »Schlange") erlässt Belgrad wenig später einen Haftbefehl wegen mehrfachen Mordes. Dass ausgerechnet das serbische Regime solche Anschuldigungen erhebt, muss nicht heißen, sie seien aus der Luft gegriffen.
Im Schloss spielen sich abenteuerliche Szenen ab, irgendwo zwischen Karl Marx und Groucho Marx: Die Kosovaren hätten mehr Zimmer, monieren die Belgrader Kommunisten empört. Sie lassen sich erst dann davon überzeugen, dass es sich um keine geplante Zurücksetzung handelt, als US-Unterhändler Christopher Hill ihnen vorrechnet, dafür sei die Quadratmeterzahl der Serben höher, »und außerdem haben die Albaner weniger und kleinere Toiletten«.
Serbische Verhandlungsführer behaupten heute, das von den westlichen Unterhändlern vorbereitete Papier sei ein »Diktat« gewesen - vor allem der militärische Anhang des Rambouillet-Abkommens, der so genannte Annex B. Dass diese Ansicht auch im Lager westlicher Milosevic-Kritiker Sympathie genießt, liegt vor allem an der Geheimniskrämerei Fischers und der peinlichen Informationspolitik seines Ministeriums. Der Annex wird vielen Parlamentariern erst durch eine Veröffentlichung in der »Tageszeitung« bekannt, viel später als die »politischen« Hauptpassagen.
Es drängt sich der Verdacht auf, der Zusatz könne wegen seiner politischen Brisanz der Öffentlichkeit so lange vorenthalten worden sein. Die damalige Juso-Vorsitzende Andrea Nahles meint, den Serben sei »quasi ein Nato-Besatzungsstatut aufdiktiert« worden. Für die Grünen-Militärexpertin Angelika Beer ist wie für viele Kommentatoren »völlig klar, dass Milosevic so etwas nicht unterschreiben konnte«.
In der Tat sieht der militärische Teil der Abmachung eine eindeutige Einschränkung der Belgrader Souveränität vor: Die Nato-geführte Truppe soll sich in der »gesamten Bundesrepublik Jugoslawien« uneingeschränkt bewegen dürfen und Immunität genießen. Dieser Text war aber nach Auffassung Fischers eine »Maximalforderung«, die noch verhandelbar gewesen wäre. Nachweislich hätten die Serben über den militärischen Annex gar nicht sprechen wollen.
Rambouillet scheitert. An der Härte der westlichen Positionen (EU-Unterhändler Wolfgang Petritsch: »80 Prozent unserer
Forderungen werden durchgepeitscht"); auch an der Haltung der Russen, die Belgrad den Eindruck vermitteln, unter allen Umständen an der Seite der serbischen »Brudernation« zu stehen. Und vor allem an der Uneinsichtigkeit der serbischen Verhandlungsführer wie dem Starrsinn der kosovo-albanischen Delegation.
Am 18. März unterschreiben die Kosovaren bei den letzten Verhandlungen in Paris dann doch, als einzige der beiden Konfliktparteien - auf intensive Bitten und massiven Druck der amerikanischen Außenministerin. »Madeleine Albright kniete förmlich vor den UÇK-Kommandeuren, es war ein unwürdiger Anblick«, erzählt einer, der dabei war. »Sie hat sich in Paris viel weniger um den gewählten Albanerführer Rugova und die anderen Gemäßigten gekümmert. Sie hat damit die Weichen für die zukünftigen Kräfteverhältnisse im Kosovo gestellt. Und, endgültig, für den Krieg - sie wollte endlich mit den Bombardierungen beginnen, und das ging nur, wenn die Fronten klar waren: da die ,guten'' Albaner, dort die ,dämonischen'' Serben.«
Als wär''s ein Showdown in einem Western, darf Amerikas Trouble-Shooter Richard Holbrooke noch eine letzte Warnung vor Ort aussprechen. Nachdem alle 1400 unbewaffneten und zur Hilflosigkeit verdammten OSZE-Beobachter aus der Krisenregion abgezogen sind, fährt er am 22. März 1999 nach Belgrad.
Milosevics Entspanntheit war gespenstisch. Sechs Stunden saßen wir uns gegenüber, und es gab kein Anzeichen eines Nachgebens. Er sprach viel und sehr emotional über serbische Geschichte, speziell über Titos Widerstand gegen Stalin. Sie wissen, was jetzt passiert, wenn ich unverrichteter Dinge weggehe, sagte ich. »Ja, Sie werden uns bombardieren«, war seine Antwort. »Na und? Die Supermacht USA kann alles tun: Wenn Sie an einem Sonntag sagen, es ist Mittwoch, dann ist es Mittwoch.« Wir wussten beide nicht, wie es nach dem Beginn der Bombardierungen weitergehen sollte. Milosevics letzte Worte waren: »Werden wir uns jemals wieder sehen?« Das hängt von Ihren Handlungen ab, sagte ich.
Wenn es denn noch eine Chance gegeben hätte, die jugoslawische Führung ohne Bomben weiter unter Druck zu setzen, dann nur durch ein totales Ölembargo. »Das hätten wir versuchen müssen«, glaubt bis heute Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher. Zwar ist ein Embargo völkerrechtlich einer Kriegshandlung gleichzusetzen und wäre in der Uno gegen den Widerstand Russlands und Chinas nicht durchsetzbar gewesen. Aber ein solcher Bruch internationaler Konventionen ist von anderer Qualität als ein ebenso unautorisiertes Bombardement.
Doch Washington will jetzt den Krieg. Am 24. März erteilt Nato-Generalsekretär Javier Solana den Befehl zu Luftangriffen - die ersten Bomben schlagen bei Pristina im Kosovo ein. Belgrad bricht am Tag darauf die diplomatischen Beziehungen zu den USA, Deutschland, Großbritannien und Frankreich ab. Gleichzeitig gibt Milosevic seinen Streitkräften den Befehl, die seit langem laufende Vertreibungskampagne gegen die Kosovaren zu intensivieren - mit allen Mitteln.
Während die Nato aus 5000 Meter Höhe Bomben wirft, ziehen serbische Mörder und Brandstifter durch das Kosovo. Es sind zwei Kriege, die parallel ablaufen: Am Himmel ist Hightech, auf der Erde Mittelalter. Für die meisten Kosovo-Albaner wirkt sich dieses Muster fatal aus. Am 25. März, in der zweiten Nacht der Bomben, beispielsweise für Bajram Kelmendi. Der kosovarische Menschenrechtsanwalt wird mit seinen beiden Söhnen in Pristina von serbischen Spezialeinheiten festgenommen. Alle drei werden an Ort und Stelle umgebracht.
Erst über einen Monat nach Kriegsbeginn verhängen die Europäische Union und die Nato ein Ölembargo gegen Jugoslawien. Bis dahin haben nicht nur russische Firmen an der Lieferung der Rohstoffe verdient und Belgrads Widerstandskraft gestärkt, sondern auch griechische und amerikanische. Bald darauf sollen Nato-Bomber Ölraffinerien und Öldepots angreifen: Es wird zerstört, was man gerade erst geliefert, womit man gerade noch selbst Profite gemacht hat.
FRAGE 5: Warum war die Nato auf
diesen Krieg so schlecht vorbereitet?
Das wird in wenigen Tagen vorbei sein«, verspricht US-Außenministerin Albright kurz nach dem Kriegsbeginn. Nato-Oberbefehlshaber Clark sieht eine gute Chance, den Job in 72 Stunden zu erledigen. Auch in der Bonner Regierung herrscht große Zuversicht, Milosevic werde schnell einknicken: »Ein kleiner Rauchpilz über einer Radarstation reicht für diesen Feigling.« Am skeptischsten äußert sich US-Präsident Clinton: »Das wird kein 30-Sekunden-Werbespot.«
Die Nato hat ursprünglich drei Phasen für die Bombardierungen auf dem Balkan geplant. Die erste Phase sah nur Operationen gegen die radargestützte Flugabwehr Jugoslawiens vor, um die Lufthoheit am Himmel über Jugoslawien zu sichern. In der zweiten Phase sollten die Angriffe auf das Gebiet südlich des 44. Breitengrads (also unter Ausschluss Belgrads) ausgeweitet werden und auch Waffenlager und Nachschublinien einschließen. In der dritten Phase sollten militärisch bedeutsame Ziele in ganz Jugoslawien, auch in Belgrad, angegriffen werden, einschließlich militärischer Hauptquartiere und Elektrizitätswerke.
Die Bündnispartner rechneten spätestens in Phase drei mit Milosevics Kapitulation oder seiner politischen Entmachtung. Und ließen völlig die Gefahr außer Acht, dass Moskau den Serben massiv zu Hilfe kommen könnte. Nach der Drohung Boris Jelzins an die Nato vom 9. April 1999 schien das immerhin nicht mehr ausgeschlossen. Der Kremlherrscher warnte das Bündnis vor dem Einsatz von Bodentruppen, was »einen europäischen Krieg, möglicherweise sogar einen Weltkrieg« auslösen könnte.
Vor allem aber rechnen weder die Nato-Führung noch die Regierungen in Washington, London, Paris oder Bonn mit Milosevics Reaktion auf die Bomben: Der Diktator verschärft die Vertreibungen im Kosovo. »Ich kenne niemanden, der dies in diesem Ausmaß für möglich gehalten hätte«, sagt Nato-Generalsekretär Solana. Aber wahr ist auch: Viele Kosovaren schließen sich den Flüchtlingstrecks nach Mazedonien und Albanien aus Angst vor dem Tod aus dem Himmel an. Kurzfristig zumindest verschlimmern die Bombardierungen das Leid derjenigen, für die sie doch durchgeführt werden.
Der Plan A der Nato sah keine »Störung«, keine unangenehme Überraschung der Gegenseite vor. Einen Plan B der Nato aber gab es nicht.
Ein solches Szenario hätte einen Bodenkrieg mit dem Risiko großer eigener Verluste einschließen müssen: Nur so war das serbische Morden zu beenden. Wäre ein solches Alternativ-Szenario bekannt geworden, »hätte es einen öffentlichen Aufschrei in 19 Nato-Ländern gegeben, und man hätte nie mit den Bombardierungen beginnen können - also verdrängten wir die Möglichkeit« (so ein hoher Nato-Offizieller).
Das erklärt allerdings kaum, warum es beim Beginn des Krieges nicht einmal in den Schubladen der Nato einen Alternativ-Entwurf gab. Später, als alles vorbei ist, räumt Admiral James Ellis, Kommandeur der Nato-Streitkräfte in Südeuropa, in einer internen Sitzung selbstkritisch ein: »Wir haben die ganze Operation falsch angepackt.«
Die Kampfhandlungen beginnen, wie ein Nato-Verantwortlicher sagt, »mit symbolischen Piksern statt mit dem großen Hammerschlag«. Auch Oberbefehlshaber Clark fühlt sich manchmal als ein gefesselter Kriegsherr. »Mehr als hundert Stunden« hat er nach eigener Einschätzung mit seinem Gegner Milosevic zusammengesessen und bei Slibowitz und Kaffee Konsequenzen angedroht. »Sie werden das Kosovo verlieren, und wenn es Ihnen so wichtig ist wie Ihr Kopf, wie Sie sagen, dann werden Sie einen Kopf kürzer.«
Clark hat Milosevic zuletzt - so steht es im Geheimprotokoll seiner Belgrader Gespräche - sogar persönlich gedroht: »Sie werden es nicht mögen, wenn ich Sie bombardiere. Ich werde Sie bis in Ihr Schlafzimmer hinein verfolgen.«
Doch Clark muss, anders als er in Belgrad vorgegeben hat, Rücksichten nehmen: auf die Regierung in Washington vor allem, denn er ist auch Befehlshaber der US-Streitkräfte in Europa; ein wenig auch auf den Nato-Generalsekreär Solana und seinen Militärausschuss, mit dem er, zumindest theoretisch, alle Bombenziele absprechen sollte; auf die Stimmung in den 19 Nato-Mitgliedstaaten.
U. S. Air-Force-General Michael Short gehört zu denen, die von Anfang an über Kreuz sind mit der Nato-Taktik. Immer wieder macht Scharfmacher Short die Vorgesetzten in Washington darauf aufmerksam, dass seiner Meinung nach gleich am Anfang ein »Knockout Punch« gegen die Nervenzentrale in Belgrad nötig ist. Nun sitzt Short im italienischen Nato-Luftwaffenstützpunkt Vicenza in seinem Hightech-Kommandoraum und quält sich durch die ersten Bombennächte.
Abgedunkelt ist der Einsatzraum, nur die Computerschirme leuchten. Rote, grüne und gelbe kaulquappenähnliche Symbole huschen über die elektronischen Karten; hunderte sind es, jedes das Symbol eines Nato-Flugzeugs oder einer feindlichen Stellung in Jugoslawien. Es ist zu schlechtes Wetter, sagt sich der Mann, der im Vietnamkrieg 276 Feindeinsätze flog und im Golfkrieg die Angriffe von F-15-Jagdbombern befehligte. Man müsste sie zurückrufen.
General Short vertraut Freunden an, was er in solchen Momenten noch denkt: In einem dieser Flugzeuge da draußen sitzt mein Sohn.
»Der Krieg hatte für mich eine persönliche Dimension«, gesteht Short später einem Komitee des US-Senats mit tränenerstickter Stimme. »Mein Sohn flog 40 Missionen im Kosovo in seiner A-10. Er wurde von einer (serbischen Flugabwehrrakete) SA-13 getroffen. Er rief mich in dieser Nacht von einem abhörsicheren Telefon aus an, und seine ersten Worte waren: Sag''s bitte Mama nicht.«
Short schildert auch, wie dramatisch und gleichzeitig todbringend prosaisch sich manchmal die Kommunikation zwischen seinem Kommando und den Piloten über feindlichem Gebiet gestaltet hat. Wenn die Männer in ihren Maschinen sich ihrer Sache nicht sicher sind, lassen sie sich zu ihm durchstellen. Der General, so feinfühlig im Umgang mit den Seinen, kennt wenig Mitleid mit der serbischen Zivilbevölkerung. Short beim Interview:
»Boss, ich sehe ein Dorf, und ich kann Panzer neben den Häusern erkennen. Was soll ich tun?«, fragten mich beispielsweise die Piloten. Ich sagte dann: Greif die Panzer an. Und wenn der Pilot dann irrtümlich ein Haus traf, so war das nicht seine, sondern meine Verantwortung.
Der Luftkriegsexperte gibt solche Ratschläge, obwohl er überhaupt nichts hält von dieser Strategie des »Panzer-Ausknipsens«. Er sieht es als Verlust von Zeit und Material an, mit den großen Bombern wie der B-52 gegen Milosevics Artillerie im Kosovo vorzugehen. Er ahnt, dass viele Raketen nur von den Serben aufgebaute Panzer-Attrappen trafen und dass Milosevics Generäle ihr wirklich wichtiges Kriegsgerät versteckt halten. Er will ohne Rücksicht auf Verluste der Schlange den Kopf abschlagen - im Zentrum Belgrads.
Als die Nato schließlich nicht mehr irgendwelche Panzer auf Landstraßen, sondern das Hauptquartier der Sonderpolizei in Belgrad bombardiert, kann Short seine Triumphgefühle kaum zurückhalten. Nach Informationen der »Washington Post« kommt es zu einem scharfen Wortgefecht zwischen den amerikanischen Generälen.
»Jetzt geht es endlich ums Kronjuwel«, sagt Short. »Für mich ist das Kronjuwel das Kosovo, wenn unsere B-52 darüber hinwegdonnern«, entgegnet Clark. Darauf Short kühl: »Wir beide wissen seit Wochen, dass wir verschiedene Juweliere haben.« Vier-Sterne-General Clark, noch kühler, behält gegenüber seinem Drei-Sterne-Kollegen das letzte Wort: »Mein Juwelier ist ranghöher.«
Weil es solche tief greifenden Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Nato gibt; weil der Krieg sich so unerwartet in die Länge zieht und das Flüchtlingselend eher verschlimmert; weil es fast zwangsläufig beim Bombardieren aus großer Höhe zu Fehltreffern und zivilen Opfern ("Kollateralschäden« heißt dafür das Unwort der Militärs) kommt, wird eine andere Schlacht immer wichtiger: die Schlacht um die öffentliche Meinung.
FRAGE 6: Hat auch die Nato
Zahlen gefälscht und
die Öffentlichkeit getäuscht?
Winston Churchill sagte diesen zynischen Satz: »Die Wahrheit ist im Krieg ein so kostbares Gut, dass es von Leibwächtern geschützt werden muss: den Lügen.« Und Winston Churchill kannte noch nicht einmal die Macht des heute allgegenwärtigen Fernsehens, das allzeit Antworten erwartet - auch auf Vorgänge, die noch nicht abgeschlossen sind.
Vom ersten Moment des Krieges lügt Milosevic in Belgrad, dass sich der Balkan biegt. Dabei bedient er sich der elektronischen Medien, die er vollständig kontrolliert; die gedruckte Presse interessiert ihn weniger (und so hält er es bis heute). Er setzt Falschmeldungen vom Abschuss deutscher »Tornado«-Maschinen in die Welt und fabuliert von desertierenden US- und Bundeswehr-Soldaten.
Als seine Luftabwehr tatsächlich einen der hochmodernen amerikanischen Tarnkappen-Jagdbomber vom Himmel holt, flimmern die Bilder von den Trümmern - westlichen Sendern zur Verfügung gestellt - tagelang über die Fernsehgeräte der Welt. Auch bei den Bildern der Bombenopfer hat das serbische Staatsfernsehen de facto ein Monopol, weil Milosevic unabhängig recherchierende westliche Reporter nicht frei arbeiten lässt.
Am Anfang der Bombardierungen sind 57 Prozent der Deutschen noch für diese Luftangriffe; in den meisten Nato-Ländern gibt es knappere Mehrheiten, in Griechenland halten von Anfang an mehr als die Hälfte aller Befragten den Waffengang für einen Fehler. Nato-Strategen und westlichen Politikern ist klar, dass die Bilder von zivilen Opfern und abgeschossenen Nato-Flugzeugen die Stimmung kippen lassen könnten.
Jeden Tag sei mit einem Umschwung im Westen zu rechnen, hämmert Milosevic seinen Männern in der kleinen Beraterrunde ein: »Wir haben in diesem Krieg den längeren Atem.« Doch zwei Dinge schätzt der ebenso schlaue wie skrupellose Taktiker in Belgrad falsch ein: Die Nato-Bomben und die grausamen Taten serbischer Milizen im Kosovo forcieren die Vertreibungen so sehr, dass auch das Elend und die Erzählungen der Flüchtlinge zu einem bewegenden »Medienereignis«, zu einem »TV-Drama« werden.
Und Milosevic verkennt seinen Feind, wenn er denkt, der spiele immer sauber: Für Erfolge an der Propagandafront greifen auch führende Demokraten im Westen gelegentlich zu fragwürdigen Mitteln.
Als besonders vorschnell mit Sensationsmeldungen fällt der deutsche Bundesverteidigungsminister auf. Rudolf Scharping spricht Anfang April von »ernst zu nehmenden Hinweisen auf Konzentrationslager« im Kosovo. Dass das Stadion von Pristina in ein KZ mit 100 000 Menschen verwandelt worden sein soll, kommt Experten auf Anhieb unglaubwürdig vor. Bilder deutscher Aufklärungs-Drohnen widerlegen dann bald die von UÇK-Führer Thaçi propagandistisch gestreute Behauptung.
Am 27. April 1999 präsentiert Scharping auf einer Pressekonferenz als neuen Beleg für serbische Gräueltaten die Bilder eines Massakers an Kosovaren. Die Nachrichtenagentur Reuters, stellt sich schnell heraus, hat ähnlich grauenhafte Fotos dieses Verbrechens in dem Dorf Rugovo schon drei Monate vorher veröffentlicht. Zweifelsohne handelte es sich um eine brutale Tat, nicht zu rechtfertigen. Aber laut Reuters waren die Toten keine Zivilisten, sondern UÇK-Kämpfer, umgebracht aus Rache für einen getöteten serbischen Offizier.
Der Flüchtlingsstrom schwillt in den ersten Kriegstagen immer mehr an, die Bundeswehr leistet beim Aufbau von Lagern in Mazedonien einen wichtigen Beitrag für die Menschen. Verteidigungsminister Scharping, von den Erzählungen der Vertriebenen sichtlich berührt, schürt in der Öffentlichkeit Emotionen für die Nato-Bombardierungen. Dabei gibt er Gräuelberichte von Betroffenen als Fakten weiter: Die Täter »spielen mit abgeschnittenen Köpfen Fußball, zerstückeln Leichen, schneiden den getöteten Schwangeren die Föten aus dem Leib und grillen sie«.
Scharping sucht darüber hinaus fieberhaft einen Beweis dafür, wie langfristig die Serben ihre verbrecherische Politik im Kosovo schon geplant haben.
Ich entschied, dass unsere Fachleute die Flüchtlinge befragen und Hinweise auf Kriegsverbrechen, Grausamkeiten und entsetzliche Brutalitäten systematisch zusammentragen und auswerten sollten ... Mich elektrisierte Ende März ein Hinweis darauf, dass das jugoslawische Vorgehen im Kosovo einem seit längerem feststehenden Operationsplan folgt. Ich erhielt am 5. April von (Außenminister) Joschka (Fischer) aus zuverlässigen Geheimdienstquellen ein Papier »Operation Hufeisen« - endlich war der Beweis für die systematische Vertreibung ab Herbst 1998 da.
Doch die Quelle des Papiers ist dubios. Wie der SPIEGEL erfuhr, wurde der Plan den Deutschen von Sofias Außenministerium zugespielt und stammt aus der Giftküche des bulgarischen Geheimdienstes - die Bulgaren, einst berühmt für die Regenschirm-Attentate ihrer Schlapphüte, bemühten sich während des Kosovo-Kriegs besonders um Nähe zur Nato: Sie wollen bald in die Organisation aufgenommen werden.
Der Beleg für die Echtheit des Dokuments ist nach den Worten Scharpings, dass sich »im Nachhinein alle Einzelheiten verifizieren ließen«. Vieles spricht dafür, dass Milosevic nach dem Muster vorging, das der Plan vorgibt. Ob es allerdings eine schriftlich fixierte Belgrader »Operation Hufeisen« gab, wie vom deutschen Verteidigungsminister behauptet, bleibt mehr als fraglich.
Im Brüsseler Nato-Hauptquartier lenkt ein Nachrichtenprofi die Informationspolitik. Doch auch er gerät zunehmend in Schwierigkeiten.
Der Brite Jamie Shea hat an der Elite-Universität von Oxford über »European Intellectuals and the Great War 1914-1918« promoviert und doziert gelegentlich auch als Politologe. Doch seine berufliche Karriere hat er innerhalb des westlichen Verteidigungsbündnisses gemacht. Seit 1993 ist er Nato-Sprecher - und nun oberster Kriegsberichterstatter.
Dies war der erste Medienkrieg: Alle Journalisten waren auch Soldaten. Es gehörte zu meinen Aufgaben, sie zu munitionieren, die Lauterkeit unserer Kriegsmotive und unserer Aktionen zu zeigen. Das wurde nach den Fehltreffern und dem Tod der Zivilisten problematischer, zumal ich nicht alle Informationen hatte. Die eine Hälfte der Journalisten hasste meine Briefings, die andere Hälfte mochte sie. Ändere dich bloß nicht, sagte ein Kollege zu mir, sonst hassen dich 100 Prozent.
Shakespeare-Fan Shea peppt seine Pressekonferenzen mit Zitaten seines Lieblingsdichters auf, bemüht auch den konservativen Philosophen Edmund Burke, den Sänger Frank Sinatra und den Entfesselungskünstler Houdini. Und er hat ein Sprüche-Standardrepertoire: Alle Nato-Ziele sind militärisch. Kollateralschäden sind minimal. Die Allianz steht felsenfest. Den Diktator Milosevic ernennt Shea zum »Großen Schrecken unserer Zeit«, vergleicht die Felder von Kosovo mit den kambodschanischen »Killing Fields«. Dabei sind, wie man heute weiß, die meist von der UÇK gelieferten Zahlen ermordeter Landsleute oft reine Propaganda. In Trepca beispielsweise, wo die Albaner ein von Serben begangenes Massaker mit 700 Toten reklamieren, ließ sich nicht die Spur eines einzigen Opfers finden.
Alle überzogene Rhetorik nützt nichts, als im Verlauf des Krieges die tragischen Irrtümer der Nato-Piloten zunehmen. Am 5. April 1999 tötet eine fehlgeleitete Bombe in Aleksinac 17 Menschen. Am 12. April wird die Eisenbahnbrücke bei Leskovac angegriffen, in dem Augenblick, als ein Zug über sie fährt: mindestens 14 Tote. Am 14. April attackieren Nato-Flugzeuge bei Djakovica einen Flüchtlingstreck mit Albanern, unter die sich möglicherweise serbische Militärs mit ihren Fahrzeugen gemischt hatten: über 70 Tote.
Nato-Stellen werfen zunächst Nebelkerzen, entwickeln Theorien, wonach die Serben den Konvoi beschossen hätten. Nato-Pressesprecher Shea, ein Triumphator bei Erfolgen und ein Jongleur bei Trefferzahlen, gibt erst 24 Stunden später zu, dass die Nato den Treck irrtümlich bombardiert habe: »Das war mein schwerster Tag.«
Die Unterrichtung der Presse durch die Nato ist langsam und unvollständig. Sheas Mitstreiter überbieten sich an Inkompetenz. Der italienische General Giuseppe Marani, dessen Englisch kaum für eine Taxifahrt durch New Yorks Little Italy ausreicht, tut sich besonders unrühmlich hervor. Auf die Frage eines jugoslawischen Journalisten nach den Giftwolken über Belgrad durch die Bomben auf Industrieanlagen findet Marani die denkwürdige Antwort: »Krieg ist niemals gesund.«
In Brüssel wird ein zusätzliches Nato-»Media Operation Centre« (MOC) gegründet, formal zur Unterstützung Sheas. Die neuen »Spin Doctors« sind kaltschnäuzige PR-Profis, von denen einige den Wahlkampf der britischen Labour-Partei gemanagt haben. »Blairs Rasputin«, der Schotte Alastair Campbell, zieht die Sache an sich. Nun werden in seinem »Kriegsraum« jeden Morgen die - durchweg - positiven »Botschaften des Tages« vorbereitet.
Was vom MOC erwartet wird, zeigt ein geheimes Memo der französischen Regierungssprecherin, das vom »wachsenden Zweifel« der Öffentlichkeit ihres Landes am Krieg handelt: »Kann uns das MOC mit Artikeln beistehen und bei der Platzierung in den französischen Medien helfen?«
Der deutsche General Walter Jertz, von der Bundesregierung Anfang Mai als zusätzlicher Nato-Sprecher nach Brüssel geschickt, ist eine löbliche Ausnahme: Seine Briefings sind kühl, sachlich, informativ. »Ich habe Jertz befohlen, er solle sofort nach Deutschland zurückkommen, wenn er nicht alle Informationen, auch von den Amerikanern, erhielte«, sagt Verteidigungsminister Scharping.
Legt man diese Kriterien ernsthaft an, hätte Jertz keinen Tag lang in Brüssel verweilen dürfen - dann hätte aber auch Nato-Generalsekretär Solana in Deutschland um politisches Asyl nachsuchen müssen. Ein hoher Brüsseler Diplomat formulierte Solanas Wissensstand über die Bombenziele und den Kriegsverlauf auf dem Balkan so: »Ein Drittel wusste er, ein Drittel wusste er nicht, ein Drittel wollte er nicht wissen.«
Die Amerikaner dachten gar nicht daran, ihre Informationen mit dem Rest der Nato zu teilen oder sich gar mit den anderen Mitgliedsländern abzusprechen.
FRAGE 7: Wie wurden die
Bombenziele ausgewählt, und
wer hatte ein Veto?
Für diejenigen, die darüber entscheiden, wo die Bomben auf dem Balkan einschlugen, ist es ein virtueller Krieg. Seine Fixpunkte sind Videokonferenzen. Seine Führer: in Brüssel der amerikanische Nato-Oberbefehlshaber in Europa, General Clark; in Washington das Pentagon mit Verteidigungsminister Cohen, das State Department mit Außenministerin Albright - und deren oberster Kriegsherr, Präsident Clinton. In Statistenrollen: alle Nicht-Amerikaner.
»Aber das entspricht doch nur der militärischen Leistungsstärke«, sagt ein hoher amerikanischer Nato-Funktionär. »Was wollen denn die Europäer? Wir flogen im Kosovo-Krieg 80 Prozent aller Angriffe, wir hatten als Einzige die Satellitenaufklärung, die modernsten Waffen, die smarten Bomben. Wir bestimmten mit unserer Hightech praktisch 100 Prozent der Bombenziele - und da sollten die alles mitbestimmen?«
Clark leitet jeden Kriegsmorgen um neun in seinem Büro in Mons bei Brüssel eine Videokonferenz mit den Kommandeuren der Nato-Streitkräfte. Am Anfang steht die Manöverkritik, die Auswertung der Bombenangriffe des Vortags. Dann projizieren Nachrichtenoffiziere Schaubilder mit potenziellen künftigen Zielen auf die Leinwand.
Gelegentlich wird, etwa über serbische Stellungen, der Rat von UÇK-Kommandeuren vor Ort eingeholt. Das geschieht meist per Handy: Clark hat die Trupps der albanischen Befreiungsarmee nicht mit moderneren Kommunikationsmitteln ausgestattet, die Nato will einen Hauch von Distanz bewahren. Die militanten Albaner brüsten sich in ihren von der CIA mitbezahlten Ausbildungslagern ohnehin schon, die Nato sei »ihre Luftwaffe«.
Clark muss häufig Paris oder London - seltener Bonn - davon überzeugen, dass bestimmte Ziele »legitim« sind. Ein Völkerrechtsexperte untersucht zusätzlich, ob der Nato keine Anklage wegen Kriegsverbrechen in Den Haag droht.
Die Diskussion beim Ziel Hauptquartier der Sozialistischen Partei Serbiens in Belgrad, Ende April, läuft beispielsweise so ab:
Zunächst beginnt ein Offizier mit der Vorstellung des Kriegsziels. Die vorgelegten Basisinformationen geben Aufschluss über die Lage und die Baubeschaffenheit des Ziels; die Priorität des Ziels (in diesem Fall: Kategorie eins). Es folgt die Analyse der zweckmäßigsten Bekämpfung: Trefferwahrscheinlichkeit bei verschiedenen Bombenarten, Anflugwinkeln. Dann eine Schätzung möglicher Kollateralschäden (hoch). Im Gebäude könnten sich aufhalten: 50 bis 100 Regierungs- oder Parteileute; außerhalb 250 Anwohner oder Spaziergänger.
Das Ziel wird zurückgestellt wegen französischen Einspruchs. Es kommt zur Wiedervorlage, als ein Weg gefunden war, der Zivilisten kaum gefährdet. Schließlich wird das Parteigebäude bombardiert und am 21. April um 3.15 Uhr morgens weitgehend zerstört - ohne Opfer.
Öfter schaltet Clark in diesen Konferenzen Nato-Generalsekretär Solana zu und bittet ihn, Bedenken gegen einzelne Ziele im Direktgespräch mit den widerspenstigen Regierungen auszuräumen. In wenigen Fällen - in Belgrad-Stadt, in der Teilrepublik Montenegro - besteht Frankreichs Präsident Chirac auf seinem Veto-Recht und setzt es durch. Doch meistens gewinnt Clark beim Feilschen und Finassieren.
Anschließend geht Clark regelmäßig zur zweiten Morgenkonferenz, die er nach Aussage von Mitarbeitern »um vieles lieber mag«. Bei dieser Besprechung ist er nur mit Washington verbunden: Der amerikanische Nato-Oberbefehlshaber und der US-Generalstab legen die Angriffsziele fest, die mit dem B-2-Tarnkappenbomber von Luftwaffenbasen in den USA aus angeflogen werden. Alle diese Operationen erfolgen nicht über die Befehlskette der Nato. Die US-Luftwaffe hält die Informationen gegenüber den Verbündeten geheim.
So geschieht es auch mit dem Cyberkrieg. Auf dem Balkan gelingt es einer geheimen Einheit von amerikanischen Elektronikexperten offenbar, die Computer der jugoslawischen Flugabwehrsysteme teilweise durch Phantominformat ionen (Fachterminus: »offensive hacking") zu manipulieren. Milosevics Radaroffiziere sehen auf ihren Monitoren feindliche Flugzeuge aufblitzen, wo in Wahrheit nur leerer Himmel ist.
General Clark, dem der Einsatz der elektronischen Kriegführung nicht weit genug ging, beklagt vor einem US-Senatskomitee nach Ende des Krieges, dass die Nato nicht »alle Methoden, Milosevic elektronisch zu isolieren«, genutzt habe. Er zeigt sich bei der Anhörung davon überzeugt, dass die Kriege der Zukunft verstärkt im Cyberspace geführt werden.
Experten denken dabei nicht nur an die »Umleitung« computergesteuerter Feindwaffen durch eingeschleuste Viren, sondern auch an die mögliche Paralysierung aller Bankverbindungen oder die Manipulation feindlicher TV-Sendungen.
Doch die Entscheidung darüber, was ein legitimes Ziel im Feindesland ist, kann kein Computer abnehmen - es ist immer auch eine Frage der Moral.
FRAGE 8: Hatte die Nato das
Recht, Belgrads Fernsehstudios
zu zerstören?
Am 23. April 1999 schlagen morgens um 2.06 Uhr in der Belgrader Innenstadt mehrere Bomben in das Gebäude Aberdareva-Straße Nummer eins ein und zerstören den Eingangsbereich und die oberen Stockwerke völlig. 16 Menschen sterben, 3 werden schwer verletzt, 13 leicht. Alle sind Journalisten oder Fernsehtechniker, die in dem Gebäude ihrer Arbeit nachgehen: Es ist das Zentrum des serbischen Staatsfernsehens (RTS).
Die Nato nennt RTS eine »Propagandamaschine« Milosevics, mit der er seine Bevölkerung unterdrückt und sie desinformiert - also ein »legitimes Kriegsziel«. Internationale Menschenrechtsgruppen und Journalistenverbände leugnen nicht die einseitige Ausrichtung von RTS, sehen aber in dem Angriff dennoch einen Sündenfall und protestieren scharf. Vor allem der Tod der Kollegen empört.
Die TV-Nachrichtenredakteurin Marija Mitrovic, 29, gehört zu denen, die in der schrecklichen Nacht Dienst tun. Sie erinnert sich genau. Sie spricht über ihre Erlebnisse noch heute wie im Stakkato:
»Ein Blitz, ein Donner. Dann war das Licht aus, und überall Chaos. Zwischen den Zimmern fehlten die Wände. Ich stolperte über die Beine eines Kollegen, den ein Zementblock erschlagen hatte. Manche schrien, manche wimmerten. Irgendwie hangelte ich mich an einem Stahlseil das Treppenhaus hinunter und taumelte ins Freie.«
»Die ganze Vorderfront des Hauses war weg. Wie ich ins Krankenhaus kam, weiß ich nicht mehr. Ich hatte nur Schnittwunden. Dann riefen schon die Verwandten aus Chicago an, sie hatten alles auf CNN gesehen. Sie müssen wissen, ich bin in den USA aufgewachsen, dort, wo die Bomber herkamen.«
Marija Mitrovic hat keiner gewarnt. Aber die Führung von RTS und einige Kollegen der Fernsehjournalistin wussten von einem bevorstehenden Angriff. Amerikanische Journalisten, die häufig RTS-Material benutzten und in dem Belgrader Gebäude ein und aus gingen, hatten eine Warnung erhalten. Sie gaben sie weiter.
Erst hieß es, der Angriff sollte in der Nacht zum 22. April erfolgen. Die Bomber waren tatsächlich schon unterwegs. Als die Nato erfuhr, dass viele Journalisten über Nacht in den RTS-Studios arbeiteten, drehte sie noch einmal ab. Nun erhielt RTS-Generaldirektor Dragoljub Milanovic über Mittelsmänner eine unmissverständliche Warnung - doch er glaubte nicht oder wollte nicht glauben, dass die Nato das Gebäude in der Innenstadt angreifen könnte.
Mehrere Journalisten, die ebenfalls von einer bevorstehenden Attacke gehört hatten, weigerten sich, nachts Dienst zu tun. Der RTS-Direktor drohte - so erzählen Zeugen - jedem mit Kündigung, der sich unentschuldigt fern hielt. Redakteurin Mitrovic, die vom Informationsministerium erst nach langem Zögern die Erlaubnis zum Interview mit einer Publikation aus dem Westen bekommt, hält für ausgeschlossen, dass ihr Chef so etwas verschwiegen hätte. Aber sie bestreitet nicht, dass Angehörige der Opfer sich weigerten, an offiziellen Trauerfeierlichkeiten teilzunehmen. Dass sie dem RTS-Chef Milanovic einen bösen Brief geschrieben haben.
»Die Trauer hat die Menschen blind gemacht«, sagt die Nachrichtenredakteurin mit den traurigen Augen. Sie ist kürzlich befördert worden.
MITARBEIT: SIEGESMUND VON ILSEMANN,
ALEXANDER SZANDAR
Im nächsten Heft
War der Angriff auf die China-Botschaft doch kein Irrtum? - Ein Insider erzählt von der Nacht, in der Milosevic einknickt - Die »Jedi«-Ritter proben den Bodenkrieg - Die Bilanz und die Lehren des Krieges
* Bei der einseitigen Unterzeichnung desKosovo-Friedensabkommens am 18. März 1999: Veton Surroi, IbrahimRugova, Hashim Thaçi, Rexhep Qosja.