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DDR / DEUTSCHLAND II Der Fakt

aus DER SPIEGEL 1/1967

(siehe Titelbild*)

Den Durst auf Bier und die Lust am Skat, Rührseligkeit unterm Tannenbaum und Ekstase auf dem Fußballplatz, den Gartenzwerg vorm Haus und die »Fledermaus« von Strauß, hin und wieder eine Grippe-Epidemie -- das haben im Jahre 1967 die Deutschen jenseits der Zonengrenze mit ihren Brüdern und Schwestern im Westen noch gemein. Viel mehr nicht.

Die Zeitungen, die sie lesen; die Schulen, die sie besuchen; das Geld, das sie verdienen; das Recht, dem sie sich beugen; die Armee, der sie dienen -- alles ist anders als bei den anderen. Und eben .dies scheint unabänderlich: Schon ist das zweite Deutschland älter als die Weimarer Republik, älter als das Tausendjährige Reich. In diesem Jahr wird die DDR, wo man im Gegensatz zur Bundesrepublik mit 18 mündig wird, volljährig.

Nichts, deutet darauf hin, daß dieser entfremdete Sproß in absehbarer Zeit in den Schoß der Nation zurückkehren könnte oder wollte. Er mag von denen, die ihn für einen Kretin halten, nichts wissen. Walter Ulbricht, Chef von Deutschland II: »Die DDR ... bedarf zu ihrer eigenen Entwicklung nicht der westdeutschen Bundesrepublik.«

Ausgerechnet jetzt, da -- vielleicht zu spät -- im Westen nach einer fruchtlosen Politik des Kalten Krieges die Einsicht wächst, daß die Einheit der Nation nicht gegen, sondern allenfalls

* Von oben nach unten: Volksarmee-Parade vor der Humboldt-Universität in Ost-Berlin; DDR-Schulklasse in Dresden; DDR-Urlauber am Schwarzen Meer; DDR-Bürger beim Letkiss-Tanz.

mit der DDR erreichbar ist, flieht die kommunistische Staatspartei SED in den Separatismus.

Im letzten Jahr forderte die SED das Gespräch mit der westdeutschen SPD -- und zuckte zurück, als die Bonner Sozialdemokraten sie beim Wort nahmen. Sie forderte die Konföderation der beiden deutschen Staaten -- aber als SPD-Vize Herbert Wehner eine deutsche Wirtschaftsgemeinschaft vorschlug und die Idee eines Deutschen Bundes zumindest für diskutabel hielt, wehrte Walter Ulbricht ab: Die »revanchistische Bundesrepublik« sei nicht konföderationswürdig.

Ausgerechnet jetzt, da Bonns Sozialdemokraten als Teilhaber der Großen Koalition eine sinnvolle Wiedervereinigungspolitik einleiten könnten und Herbert Wehner gelegentlich schon die »sogenannte DDR« schlicht DDR ohne Anführungszeichen sein läßt, sieht die SED im Westen nichts Neues. Nun treibe die SPD, schrieb das SED-Zentralorgan »Neues Deutschland«, mit der CDU die »alte Revanchepolitik«.

Aber die schwarz-rote Gemeinsamkeit, im Osten unter Anspielung auf Bonns Notstandsübung in der Eifel als »Bunker-Koalition« verschrien, liefert der SED nur einen aktuellen Vorwand. Schon im letzten Sommer hatte die SED-Jugendorganisation FDJ eine Offerte des westdeutschen Studentenverbandes VDS zu offiziellen Gesprächen ausgeschlagen und einen Studentenaustausch abgelehnt. Und im Dezember wertete der Präsident der (Ost-) Deutschen Akademie der Wissenschaften, Professor Werner Hartke, eine Einladung des »Kuratoriums Unteilbares Deutschland« zur Jahrestagung in West-Berlin als »unverschämte Zumutung«.

Jetzt wollen die Kommunisten nicht mehr, was -sie jahrelang gefordert haben: Deutsche an einen Tisch.

Es ist ihr spätes Bekenntnis zu einer längst vollzogenen Trennung. Kein Wegweiser in der DDR nennt die Namen westdeutscher Städte. Kein jedermann zugängliches Kursbuch verzeichnet die Züge, die in den Westen fahren. Kein DDR-Stadtplan wird mehr gedruckt, auf dem noch die Straßen West-Berlins verzeichnet wären.

Das DDR-Regime läßt aus dem Westen keine Zeitung herein und keinen Bürger in den Westen hinaus -- außer Omas und Opas ohne Wert für die Produktion. Es schützt Land und Leute vor dem Eindringen der Maul- und Klauenseuche aus Westdeutschland (durch das Auslegen von Desinfektionsmatten an sämtlichen Grenzübergangsstellen) ebenso wie vor dem Import von Gemüsekonserven, Taschenkalendern und Zinnsoldaten.

Die DDR lebt in und von der Isolation. Sie hat das größte Truppenkontingent aller ehemaligen Siegermächte im Lande (20 Sowjet-Divisionen). Sie verschanzt sich in Berlin hinter der Mauer, gegenüber der Bundesrepublik hinter einer 1381 Kilometer langen Grenze mit Stacheldrahtzäunen, Minenfeldern, Laufgräben, Wachttürmen.

Es ist die am schärfsten bewachte Grenze der Welt: weil nur so das eigene Staatsvolk am Exodus gehindert werden kann -- das ist ihr wahrer Zweck; weil nur so die westliche Aggression abgewehrt werden könne -- das ist ihre Rechtfertigung in der DDR-Propaganda.

Diese kommunistische Version war einleuchtend, solange John Poster Dulles in Washington und Konrad Adenauer in Bonn die »Befreiung« Osteuropas weissagten. Aber sie überzeugt nicht mehr, da wieder einmal ein -- seit dem Kommunistischen Manifest von Marx sprichwörtliches -- Gespenst umgeht in Europa.

Diesmal ist es das Gespenst der Entspannung. Die Blöcke bröckeln. Franzosen und Polen erneuern alte Freundschaft. Westdeutsche und Rumänen erwägen den Austausch von Botschaftern. Die deutsche Frage ist weder den Amerikanern noch den Russen einen Atomkrieg wert. Der »Knochen im Hals« ist für beide Weltmächte nicht mehr das 2,2-Millionen-Dorf West-Berlin, wie es Nikita Chruschtschow einst sah, sondern das 730-Millionen-Reich China.

Und nichts fürchten die ostdeutschen Kommunisten mehr, als daß die Sowjets ihren 50 Jahre westwärts gerichteten Blick nun nach Osten kehren könnten; Denn das ist die Existenzangst der DDR: daß sie sich in einer solchen Welt des Wandels als kommunistisches Bollwerk in Europa erübrigen könnte.

Um dieser Gefahr zu entrinnen, hat die SED die von ihr beherrschte DDR im letzten Jahr zum Honigtopf des russischen Bären gemacht. Während alle anderen Ostblockländer Moskau immer mehr Unabhängigkeit abtrotzten, band sich die DDR in ihren jüngsten Wirtschaftsvereinbarungen enger als je an den Kreml.

Zum -Jahreswechsel verriet die SED das Motiv: »Die feste Verbundenheit der DDR mit der Sowjet-Union ... ist die wichtigste Voraussetzung für eine wirksame Verteidigung unserer nationalen und staatlichen Souveränität.«

Es ist Souveränität eines Staates, der von den Sowjets 1949 in die Welt gesetzt, beim Aufstand 1953 mit Panzern geschützt und beim Mauer-Bau 1961 konfirmiert wurde. Er reicht von Kap Arkona auf der Ostsee-Insel Rügen bis zur Gemeinde Schönberg im Süden Sachsens. Er ist flankiert von polnischem Deutschland im Osten (Pommern, Schlesien) und Bonner Deutschland im Westen (Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Hessen, Bayern). Auf 108 174 Quadratkilometer \Reichsrest herrscht eine Partei, die nie an die Macht gewählt wurde, aber dem Volke keine Wahl ließ. Die Bevölkerung von Mecklenburg, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen -- heute insgesamt 17 Millionen -- kennt seit 1933 nur zwei Herrscher: Adolf Hitler und Walter Ulbricht. Ein« Viertel aller Deutschen lebt seit einer Generation politisch unter Kuratel.

Die abendländische Stammtischformel« die Kommunisten seien keinen Deut anders oder gar besser als die Nazis, läßt freilich, den Kernpunkt außer acht, daß der rote Totalitarismus nicht gespeist wird von Rassenfimmel oder deutschnationalem Größenwahn. Was einander ähnelt, sind Stilmerkmale der politischen Praxis.

* Der Präsident des NS-Volksgerichtshofs, Roland Freisler, in »Deutsche Justiz« 1940: »Gegenstand des Strafgesetzes soll und kann im Dritten Reich nur sein, was normgemäß vorher die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei als im Wege des Strafverfahrens notwendig zu verfolgen bezeichnet hat. Die Norm für das Gesamtverhalten, der deutschen Menschen ... wird ... von der grandiosen Volksführungsorganisation der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei bestimmt."> Der Dekan der Juristischen Fakultät der Ost-Berliner Humboldt-Universität, Professor Erich Buchholz, in »Neue Justiz« 1961: » ... unser sozialistisches Recht ist als Instrument der staatlich herrschenden Arbeiterklasse ein spezifischer Ausdruck der führenden Rolle der Partei ... Verletzung und Mißachtung unserer Gesetzlichkeit bedeutet daher letztlich Verletzung bzw. Mißachtung von Parteibeschlüssen ...«

Dennoch wähnen sich die deutschen Kommunisten von der NS-Epoche weiter entfernt als westdeutsche Demokraten mit ihren Globkes und Vialons. Während die vielbeschworene Bewältigung der Vergangenheit in der Bundesrepublik zu einer mühsamen und letzten Endes vergeblichen Anstrengung geraten ist, fühlen sich in der DDR Regime wie Bevölkerung frei von braunem Ballast.

Die literarische Auseinandersetzung mit deutscher und nicht nur »faschistischer« Schuld, wie sie sich im Westen sogar als Bestseller -- etwa Heinrich Bölis »Billard um halb zehn« -- verkaufen läßt, findet im Osten nicht statt. Wiedergutmachung wird nicht geleistet, als ob es Nazis nur zwischen Rhein und Weser gegeben hätte.

»Auferstanden aus Ruinen«, hat sich die DDR, wie es in ihrer Nationalhymne heißt, ganz »der Zukunft zugewandt«. Mit der Vergangenheit, so sagt der greise DDR-Literat Arnold Zweig, »sind wir fix und fertig«. »Man hat sie nicht bewältigt. Man hat sie ausgekotzt.«

So hat sich dieser Staat von jedwedem historischen Gewölle erleichtert. Unternehmer wurden enteignet, Großgrundbesitzer vertrieben, Bauern in Genossenschaften gezwängt. Was blieb, war der preußische Drill in einer Armee, in der allerdings heute -- da sie die drittstärkste des Ostblocks ist -- keine Generale der alten Wehrmacht mehr kommandieren.

Es gibt zwar noch 4265 kleine industrielle Privatbetriebe, aber der Wert ihrer Jahresproduktion beträgt nur 1,9 Milliarden Mark -- gegenüber 78,2 Milliarden Mark der Volkseigenen Betriebe (VEB). Es gibt zwar noch 13 839 privat wirtschaftende Bauern und Gärtner, aber sie verfügen nur über eine landwirtschaftliche Nutzfläche von 389 972 Hektar -- gegenüber sechs Millionen Hektar der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) und der Staatsgüter.

Das Gesundheitswesen wurde verstaatlicht; heute dürfen sich Ärzte nur noch ausnahmsweise privat niederlassen. Dem neuen sozialistischen Recht verschafft der Staat in 16 Strafvollzugsanstalten und 32 Haftarbeitslagern Geltung. Den 17 Millionen Bürgern aber stehen zur Wahrung ihrer Rechtsansprüche nur insgesamt 594 Anwälte zur Verfügung; damit hat die DDR nur halb so viele Rechtsanwälte wie allein West-Berlin.

Das gesamte, vorzüglich organisierte und qualitativ hochwertige Bildungssystem -- 8261 staatliche Kindergärten, 8883 Polytechnische Oberschulen*, 1130 Berufsschulen, 44 Universitäten und Hochschulen -- ist so konstruiert, daß nicht nur gründliches Fachwissen, sondern auch marxistische Ideologie vermittelt wird. Pädagogische Maxime laut SED-Zeitung »Freiheit": »Wir brauchen sozialistische Persönlichkeiten, die sich gleichermaßen durch hohes Fachwissen und einen festen Klassenstandpunkt auszeichnen.«

»Unser Teil Deutschlands«, sagt Walter Ulbricht, »wurde gründlich umgestaltet.« Das ist der Fakt, wie er es sächsisch ausdrücken würde.

So gründlich wurde umgestaltet, daß mehr als drei Millionen Bürger diesem

* In der DDR ist das herkömmliche deutsche Schulsystem (Volksschule, Mittelschule, Oberschule) abgeschafft. Standardschule ist die sogenannte Allgemeinbildende Polytechnische Oberschule, eine Zehnjahres-Schule. Die sogenannte Erweiterte Oberschule, eine Zwölfjahres-Schule, führt zum Abitur, das außerdem über Berufsschulen, Betriebs- und Dorfakademien sowie (für Erwachsene) über Volkshochschulen und Abendlehrgänge erreicht werden kann.

Staat davonliefen. Und heute wären es, die Flüchtlingsrate von 1960 (knapp 200 000) zugrunde gelegt, schon mehr als vier Millionen -- wenn Ulbricht am 13. August 1961 in Berlin nicht die Mauer hätte bauen lassen. Trotzdem sind seitdem 24 500 DDR-Bürger durch den Stacheldraht in den Westen geschlüpft; 117 Flüchtlinge wurden seitdem erschossen, weitere 20 kamen in Minenfeldern um.

Die Deutschen seien besessen, schrieb George Bernard Shaw einmal, jede Sache so weit zu treiben, daß etwas Schlimmes daraus wird. Auch die deutsche Art, Kommunismus zu machen, hätte ihn dazu inspirieren können.

Über das Wohl und Wehe des Arbeiter-und-Bauern-Staates entscheidet in letzter Instanz das höchste Führungsgremium der SED, das Politbüro. Ihm gehören 14 ordentliche Mitglieder und fünf Kandidaten an, die jeweils für einen bestimmten politischen oder fachlichen Bereich verantwortlich sind. An jedem Dienstag um elf Uhr versammeln sie sich zu Ost-Berlin im Haus des SED-Zentralkomitees, der früheren Reichsbank-Zentrale am Werderschen Markt, zum großen Rat.

Sie sind formell gleichberechtigt, aber Ministerpräsident Willi Stoph, 52, hat de facto mehr Einfluß als etwa Erich Mückenberger, 56, der SED-Bezirksvorsitzende von Frankfurt/Oder. Und das Wort von Kurt Hager, 54, dem Chef-Ideologen der SED, hat mehr Gewicht als das von Herbert Warnke, 64, dem Vorsitzenden des DDR-Gewerkschaftsbundes (FDGB).

Mächtiger als alle zusammen: Staatsratsvorsitzender und Partei-Chef Ulbricht, 73, und sein potentieller Nachfolger Erich Honecker, 54, der als Sicherheitsbeauftragter der SED und Kontrolleur des Partei-Apparates die Nummer 2 im Staate ist, obwohl er kein Staatsamt innehat, und der im Laufe der letzten Jahre immer mehr Einfluß auf den politischen Kurs der DDR gewann.

Die Beschlüsse der 14 Verschworenen werden nach einem Verfahren gefällt, das äußerlich dem des amerikanischen Schwurgerichts gleicht: Es wird so lange diskutiert, bis Einstimmigkeit erreicht ist. Das einstimmige Votum in die Tat umzusetzen, ist Aufgabe der DDR-Regierung und der neun Sekretäre (Hauptabteilungsleiter) des SED-Zentralkomitees (ZK) mit ihren Hunderten von Mitarbeitern. Die Chefs im Sekretariat des ZK wiederum sind stets Mitglieder oder Kandidaten des Politbüros (siehe Graphik Seite 37).

Diese Politbürokraten, obgleich einst allesamt Arbeiterfunktionäre, haben an der Spitze ihrer Klasse jeden Kontakt zur Masse verloren. Sie wohnen in einer mauerbewehrten Festung, in der 1960 erbauten Prominentensiedlung Wandlitz 15 Kilometer nördlich von Berlin. Sie fahren in kugelsicheren sowjetischen Tschaika-Limousinen mit verhängten Fenstern, begleitet von je zwei Leibwächtern.

Das Privatleben eines DDR-Politikers -- was er ißt und wie er ist, woran er krankt und was er liest, was er verdient und ob er"s verdient -- wird gehütet wie ein Staatsgeheimnis. Niemand soll beispielsweise wissen, daß Walter Ulbricht eine Datscha am Großen Döllnsee (SPIEGEL 37/1966) und Erich Honecker die komplette Verwandtschaft im Westen hat (siehe Kasten Seite 36); daß der Ost-Berliner Oberbürgermeister Friedrich Ebert, 72, gerne trinkt und die Politbüro-Größe Alfred Neumann (1,98 Meter) wegen seiner Vorliebe für proletarische Kopfbedeckungen im Apparat kurz »Mütze« geheißen wird.

Umgekehrt will die SED-Prominenz über ihr Volk alles wissen -- was es denkt und »wie es fühlt. Auskünfte holt sie ein mit Hilfe der weitverzweigten Organisation der Partei und des Staatssicherheitsdienstes. Vor allem aber läßt sie -- seit zwei Jahren -- vom parteieigenen Institut für Meinungsforschung geheime Analysen anfertigen.

Leicht ließ sich so die Gewißheit verschaffen, daß die Untertanen noch längst keine Muster-Kommunisten sind, die Ministerpräsident Stoph mit Eigenschaften ausgestattet wissen möchte wie »Liebe zum sozialistischen Vaterland« und »sozialistischer Einstellung zur Arbeit«.

Wohl sind 1,6 Millionen DDR-Bürger Mitglied der SED, doch die meisten gehören nur zur Klasse der Mitläufer, die politische Nachteile vermeiden und berufliche Vorteile erlangen wollen. Zwar pauken die Studenten widerspruchslos ihr Pflichtpensum Marxismus, aber die meisten tun es nur, um ihr Examen nicht zu gefährden. Wohl genügen die Jungbürger der allgemeinen Wehrpflicht, aber an der Grenze dürfen, sie neuerdings nur noch zu dritt· patrouillieren, weil die Partei nicht einmal zu Doppelposten Vertrauen haben kann. Jeden Tag springt ein Grenzer in die Freiheit.

Die DDR-Bürger mucken nicht mehr auf gegen das Regime. Sie lieben es auch nicht. Sie nehmen es hin.

Ein mißlungener Aufstand, die Gewißheit, im Lande bleiben und sich dort redlich nähren zu müssen, und schließlich der schon 20 Jahre währende Prozeß der Gewöhnung haben ein spezifisches Bewußtsein erzeugt, das sich mit Prokommunismus ebensowenig umschreiben läßt wie mit Antikommunismus: Die anderen Deutschen haben mit ihrem Staat und mit der führenden Partei einen Burgfrieden auf der Basis gegenseitiger, mißtrauischer Duldung geschlossen.

Eine der wenigen gründlichen Untersuchungen über die DDR konstatiert dies speziell für die akademische Jugend*. Der DDR-Kenner Ernst Richert, 54 ("Das zweite Deutschland"), kommt in einem neuen Buch zu dem Schluß, das Gros der DDR-Studenten sei weder klassenbewußt noch widerständlerisch »noch auch nur -- was angesichts des finanziellen Engagements des Staates verständlich wäre -- der Obrigkeit dankbar«.

Richert läßt es dahingestellt, ob sich aus der »Hinnahme des Regimes« schon so etwas wie ein eigenes Staatsbewußtsein gebildet habe oder entwickle. Wichtiger erscheint ihm: »Das, was einem da, wie selbstverständlich von oben dirigiert, an Arbeitsanforderungen entgegenkommt, wird nicht als fremd, nicht als Zumutung empfunden. Und in dem Maße, in dem das geschieht, verlieren »die da oben« den Charakter der Fremdgewalt.«

Weiter:,. Gesellschaftsanalytisch gesehen wird man von einer erstaunlich wertneutralen Leistungsgesellschaft zu sprechen haben, deren Prototyp diese technisch-ökonomische Intelligenz ist: effektorientiert, einordnungsbereit.« Alles in allem, ein »Arrangement mit Vorbehalten«.

Für den Durchschnittsbürger bedeutet dieses Arrangement, daß er bei einem Minimum politischer Willensbekundung und gesellschaftlichen Enga-

* Ernst Richert: »Sozialistische Universität. Die Hochschulpolitik der SED«. Colloquium-Verlag, Berlin; 280 Seiten; 16,80 Mark.

gements ein Maximum an persönlichem Wohlergehen und an kleiner Freiheit zu erreichen sucht.

Die gibt es auch noch in der DDR, wo unter dem Dach des parteikontrollierten Kulturbundes und des staatlichen Turn- und Sportbundes die deutsche Vereinsmeierei blüht wie je -- bei 2589 Angler-Sektionen, bei 600 Zupf- und Akkordeon-Orchestern, bei 5000 Laien-Tanzkapellen. Sächsische Tomahawk-Liebhaber einer Interessengemeinschaft Indianistik« schlugen im vergangenen Sommer in der Karl-May-Stadt Radebeul ihre orgiginalgetreuen Indianerzelte auf. Freilich: Karl-May-Bücher werden in der DDR nicht gedruckt, ihre Einfuhr ist verboten.

Man darf sich in der DDR nach Beatle-Art die Haare wachsen lassen, aber doch nicht ganz so lang, sonst kommt unter Umständen die Polizei und läßt sie abschneiden -- so geschehen auf der Karl-Marx-Allee in Ost-Berlin (SPIEGEL 46/1965). Man darf sich ein Auto absparen, aber nicht damit renommieren, wenn man in einer Heiratsanzeige ein »nettes, liebes, häusliches Mädchen mit guter Figur« sucht -- sonst kritisiert die rote Familienzeitung »Wochenpost«, die Reklame mit einem »Statussymbol« entspringe »überholter bürgerlicher Vorstellung.«

Für viele heißt das Rezept, das Beste aus den »sozialistischen Errungenschaften« zu machen, die ihnen die SED beschert hat. Sie wissen, daß ihre Gewerkschaft FDGB ihnen noch nie eine Lohnerhöhung erkämpft hat; aber für eine 100-Mark-Urlaubsreise an die Ostsee (13 Tage, alles inbegriffen) ist sie ihnen immerhin gut genug. Sie machen Sonderschichten -- aber nicht, um sich als »Aktivisten« feiern zu lassen, sondern um die ausgesetzten Geldprämien zu kassieren. Es kommt ihnen zupaß, daß die SED das bürgerliche Bildungsprivileg abgeschafft hat; und konsequent nutzen sie die Bildungschancen, ein neues Privileg zu ergattern: das Klassenprivileg der Intelligenz.

Denn in dieser DDR-Gesellschaft von Gleichen sind manche gleicher als andere. Die extrem dünne Oberschicht -- Führungskader der Partei und Regierungsbürokratie, Industriemanager, renommierte Wissenschaftler, profilierte Künstler -- trägt sowohl den Staat als auch Maßgeschneidertes aus dem Ausland. Ein Sonderkontor des DDR-Ministerrats versorgt sie mit Spitzenerzeugnissen des DDR-Exports und gediegenen Importen, etwa BMW-Sportwagen aus München oder Dessous aus Paris. Diese Oberschicht trifft sich in Reservaten bürgerlicher Behaglichkeit wie dem »Dresdner Club« (Präsident: Renommierphysiker Manfred von Ardenne), in dem man Whisky trinken und sogar den SPIEGEL lesen kann. Kalauer der Creme: »Ex oriente lux, ex occidente luxus.«

Die breitere Schicht der Werktätigen Intelligenz -- Ingenieure, Ärzte, Architekten, Lehrer -- verdient im Durchschnitt doppelt soviel wie Arbeiter. Der besondere Vorzug dieser Klasse: die pensionsähnliche »Intelligenzrente«, die ihr als Altersruhegeld 60 bis 80 Prozent des Endgehaltes sichert.

Und die schlichten DDR-Bürger, die dem Arbeiter-und-Bauern-Staat zum Namen verhalfen, haben zumindest die Gewißheit, daß für die elementarsten Bedürfnisse gesorgt ist. Kartoffeln (Kilo-Preis: 0,17 Mark), Roggenbrot (0,52 Mark) und Braunkohle (Zentnerpreis: 1,70 Mark) sind so billig wie kaum sonstwo in Europa.

Ebenso verblüffend waren bislang die Preise für Dienstleistungen: ein Herrenharrschnitt (halblang) 90 Pfennig, eine Kilowattstunde Haushaltsstrom acht Pfennig und Neubaumieten zwischen 0,65 und 1,10 Mark je Quadratmeter. (Als Folge einer jetzt abgeschlossenen »Industriepreisreform« erhöhten sich zum 1. Januar neben den Preisen für zahlreiche Waren (SPIEGEL 36/1966) auch die Neubaumieten um gut zehn Prozent.)

Fast alles andere aber ist teurer als im Westen. Ein Nyltesthemd kostet in der DDR mindestens 75 Mark, ein Liter Benzin 1,50 Mark, ein 1000-Kubikzentimeter-Zweitakter vom Typ »Wartburg« 16 950 Mark.

Ein DDR-Arbeiter muß drei Stunden und zehn Minuten für ein Paar Nylonstrümpfe arbeiten, ein Bundesdeutscher 44 Minuten. Das Ost-West-Gefälle im Arbeitsaufwand: bei Fernsehgeräten 838 Stunden zu 236 Stunden, bei Automobilen (1,2 Liter Hubraum) 6368 Stunden zu 1306 Stunden, bei einem Kilo Bohnenkaffee 29 Stunden zu vier Stunden. Noch immer floriert in der DDR der Beziehungskauf unter dem Ladentisch. Und rare Ware wie Totlettenpapier kaufte SED-Fernseh-Agitator Karl-Eduard von Schnitzler bis zum Mauer-Bau in West-Berlin.

Gleichwohl lebt der DDR-Bürger nicht schlecht. Er hat genug, aber er vermißt die Verführung, auswählen zu können. Die Planwirtschaft beschert fast alles -- aber an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten. Etwa: Gibt"s russische Pelze, fehlen Tomaten; wo der Käse frisch ist, schrumpeln die Gurken.

Von einem Massenwohlstand wie in der Bundesrepublik kann nicht die Rede sein. Noch immer geben ostdeutsche Normalverbraucher auf die Frage, was wohl Karl Marx dem deutschen Volk hinterlassen habe, die Antwort: »Der Bundesrepublik das »Kapital«, der DDR das Kommunistische Manifest.«

»Der erste Eindruck, den man von der DDR gewinnt, ist der einer bedrückenden, alles überziehenden grauen Schäbigkeit. Es scheint, als sei der Krieg erst vorgestern zu Ende gegangen«, schreibt der Israeli Amos Elon, der in seinem jüngst veröffentlichten Buch »In einen heimgesuchten Land« (SPIEGEL 40/1966) den zweiten deutschen Staat beklemmend anschaulich porträtiert*.

Daß der Putz von den verwahrlosten Mietshäusern bröckelt, in den Städten noch immer die Kahlschläge des Bombenkriegs sichtbar sind, mitunter die Leute nach Bananen Schlange stehen und Pferdefuhrwerke über betagtes Kopfsteinpflaster holpern -- das alles ist für ihn »abwechselnd rührend oder gespenstisch«. Und auf dem Alexanderplatz in Ost-Berlin, in den zwanziger Jahren Nabel der verwegensten Metropole Europas, nimmt nach Elons Beobachtungen der Verkehr ungefähr die Dichte »einer türkischen Provinzstadt an.«

So sieht es aus, wenn man aus der Glitzerwelt des Westens kommt. Für den Osten aber ist die DDR, zumindest wirtschaftlich, eine Attraktion -- ein Land, in dem man besser einkaufen kann als in Omsk, Krakau oder Debre-

* Amos Elon: »In einem heimgesuchten Land«. Kindler-Verlag, München; 320 Seiten; 19,80 Mark.

zin. Pariser Parfüms, amerikanische Zigaretten, schottischen Whisky gibt es, wenn auch zu exorbitanten Preisen, in staatlichen »Exquisit«-Läden, die in Polen oder Rußland nicht ihresgleichen haben. Und von einem Kunststoff-Zweitakter wie dem »Trabant« (7850 Mark) aus dem sächsischen Zwickau kann der Bulgare noch immer nur träumen.

Kein Ostblock-Staat hat ein Welthandelsforum wie die DDR mit der Leipziger Messe. Das zweite Deutschland hat den höchsten Lebensstandard im sozialistischen Lager. In der DDR rollen mehr Autos (66 Einwohner je Pkw) als in Polen (135) oder Ungarn (254). Dort wird mehr verdient (durchschnittliches Arbeitnehmereinkommen: 633 Mark) als im gesamten Ostblock.

Die DDR ist, nach der Sowjet-Union, die zweitstärkste Wirtschaftsmacht des Ostblocks. Der Wert der Industrie-Produktion stieg im Durchschnitt Jahr für Jahr um fast zehn Prozent -- von 34 Milliarden Mark im Jahr 1950 auf 135 Milliarden im Jahre 1965. Traditionell leistungsfähige Industriezweige Mitteldeutschlands -- etwa die Chemie (Leuna) oder die Optik (Zeiss-Jena) -- wurden wieder weltmarktfähig. Neue Industrien wurden aus dem Boden gestampft, so das Braunkohlen-Kombinat Schwarze Pumpe bei Hoyerswerda, das Erdölverarbeitungswerk Schwedt an der Oder, Großwerften in Wismar und Rostock, wo innerhalb von zehn Jahren ein Überseehafen entstand.

Es war, wie SED-Chef Ulbricht sagt, »ein wahres Kunststück«. Und das um so mehr, als das Land -- wie alle osteuropäischen Staaten -- keine Marshall-Milliarden entgegennehmen durfte, im Gegensatz zur Bundesrepublik von seiner Besatzungsmacht ausgeplündert wurde und bis zum 13. August 1961 ganze Armeen von Arbeitskräften verlor,

Reparationen, Besatzungslasten und Flucht-Verluste haben die DDR nach West-Schätzungen 100 Milliarden Mark gekostet. Ulbricht selber kommt auf 120 Milliarden. »Dieser Betrag«, so erklärte er 1965 vor dem SED-Zentralkomitee, »setzt sich zusammen aus den Reparationen, die die DDR für ganz Deutschland geleistet hat, unseren Verlusten an Nationaleinkommen durch Produktionsausfall, durch den gesellschaftlichen Aufwand für den Unterhalt, die Erziehung und die Ausbildung der abgeworbenen Kader, durch Grenzgängerei in West-Berlin, durch den Schwindelkurs und den Schmuggel nach West-Berlin sowie einige andere Verluste.«

Aber: Geradeweil diese Rechnung im Prinzip richtig ist, war es ein aberwitziges Unterfangen, als sich die Staatsführung der DDR. vornahm, die Bundesrepublik wirtschaftlich zu überrunden. So lautete in den fünfziger Jahren die »ökonomische Hauptaufgabe« der SED. Und der Siebenjahrplan von 1959 setzte das Ziel, »Westdeutschland im Pro-Kopf-Verbrauch... zu überholen«.

Drei Jahre später wurde der Siebenjahrplan stillschweigend aufgegeben. Und heute, da er erfüllt sein müßte, ist von der ökonomischen Hauptaufgabe nicht mehr die Rede. Die DDR steht jetzt bei der Quantität der angebotenen Konsumgüter im Jahre 1958 westdeutscher Zeitrechnung, bei der Qualität im Jahre 1954. Auch in der DDR wurden Wohnungen gebaut (60 000 im Jahre 1966), Straßen angelegt und Städte erneuert. Aber mit der Bundesrepublik konnte sie nicht Schritt halten. Moderne Fassaden und sorgfältig restaurierte historische Gebäude an der Ost-Berliner Prachtstraße Unter den Linden sind -- vorerst -- nur mehr helle Tupfen in der tristen DDR-Landschaft.

Was die gewaltigen Anstrengungen der DDR, auf deren Gebiet sich die Industrieproduktion pro Kopf der Bevölkerung seit 1936 verdoppelt hat, so kärglich erscheinen läßt, ist nichts weiter als die fatale Nachbarschaft der prosperierenden Bundesrepublik (siehe Graphik). Was immer die DDR ökonomisch leistet, die Bundesrepublik ist ihr voraus -- wie der Swinegel dem Hasen in der Fabel. Selbst die Kühe geben in der Bundesrepublik mehr Milch (3642 Kilo jährlich) als in der DDR (2949 Kilo jährlich).

Unerreichbar und doch stets gegenwärtig ist der gelackte Wohlstand, dessen Abglanz allabendlich zur Reklame-Zeit des westdeutschen Fernsehens in die Wohnstuben der DDR-Bürger fällt. Wenn die Ostdeutschen ein Westpaket öffnen und »ihm etwa ein Stück Butter entnehmen, dann versetzt sie weniger die fette Gabe in Verzückung als die glitzernde Stanniolverpackung -- ein Luxus, den sich ihr Staat nicht leisten kann.

Und mag in Bonn alles drunter und drüber gehen -- das satte »Wir sind wieder jemand« (Ludwig Erhard) vermittelt einen Schimmer nationalen Selbstbewußtseins, wie es in der DDR bislang nicht aufkam: in einem Staat, der lediglich von 13 kommunistischen Ländern der Welt völkerrechtlich anerkannt wird (die Bundesrepublik hat volle diplomatische Beziehungen zu 94 Staaten) und der in eben neun nicht-kommunistischen Staaten Generalkonsulate, in weiteren zehn staatliche Handelsmissionen unterhält*.

Ebensowenig können sich in dieser Nachbarschaft die DDR-Bürger der Faszination einer wenn auch unzulänglichen, so doch offenen Gesellschaft entziehen, in der über alles geredet, geschrieben und über fast alles gespottet werden darf. Die moderne Kunst findet in der DDR nicht statt. Ein bißchen Böll, ein bißchen Faulkner ist erlaubt. Aber vorerst gibt es weder ein Buch von Graß zu kaufen noch ein Stück von Ionesco zu sehen. Und Tatsache ist, daß in den letzten Jahren aus der DDR -- obschon sie sich Renommierbühnen wie Felsensteins Komische Oper oder Helene Weigels Brecht-Theater leistet -- kein künstlerischer Impuls nach außen drang: im Gegensatz zu Polen, wo avantgardistische Filme und kühne Graphik entstanden; im Gegensatz zur Tschechoslowakei, wo neue Formen des modernen Theaters entwickelt wurden.

Es war denn auch kein Zufall für die DDR, daß -- während des Jahres 1965 --

* In weiteren zwölf nicht-kommunistischen

Staaten, darunter auch zehn Nato-Ländern, durfte die DDR lediglich Niederlassungen ihrer Kammer für Außenhandel -- Repräsentanz der staatlichen Außenhandels-Unternehmen -- errichten.

die einzige Rebellion seit 1953 in der Welt des Geistes versucht wurde. Die Rebellen waren keineswegs Feinde des Kommunismus. Die Schriftstellerin Christa Wolf ("Der geteilte Himmel"), Kandidatin des Zentralkomitees der SED beklagte sich »über Gängelei, über Banausentum«. Professor Robert Havemann, Altkommunist, Naturwissenschaftler, Philosoph, stellte in seinen Vorlesungen die Dogmen der marxistischen Lehre in Frage und plädierte für eine Demokratisierung der Partei (SPIEGEL 52/1965).

Der bärtige Parteibarde Wolf Biermann löckte wider den Stacheldraht. Er sang landauf, landab:

... Besucht mich abends mal Marie Dann geht Villon so lang Spazieren auf der Mauer und Macht dort die Posten bang Die Kugeln gehen durch ihn durch Doch aus den Löchern fließt Bei Franz Villon nicht Blut heraus Nur Rotwein sich ergießt

Dann spielt er auf dem Stacheldraht Aus Jux die große Harfe

Die Grenzer schießen Rhythmus zu Verschieden nach Bedarfe ...

DDR-Filmleute drehten Lichtspiele, in denen die SED-Losung »Von der Sowjet-Union lernen, heißt siegen lernen« verspottet ("Lots Weib"), ein Volkspolizist -- Symbol der Staatsgewalt -- ins Wasser geworfen ("Spur der Steine") und die drakonische Strafjustiz der ersten Nachkriegsjahre kritisiert wurde ("Das Kaninchen bin ich").

Der Partei paßte die ganze Richtung nicht. Wieder Ordnung zu schaffen, hielt sich SED-Sicherheitschef Erich Honecker für berufen. Er, der schon früher als FDJ-Führer eine Abneigung gegen Studenten und sonstige Brillenträger hatte. Der Mann, der alle, die beim Eisbemessen und Skatspielen nicht mithalten wollen, auch für ideologisch dubios hält, machte nun kurzen Prozeß: Unter der Anklage des »lebensverneinenden, spießbürgerlichen Skeptizismus« (Honecker) wurde Erzfeind Havemann aller seiner Ämter enthoben, aus dem Hörsaal verbannt und aus der Partei ausgestoßen. Seine Ost-Berliner Wohnung mußte er räumen. Biermann erhielt Auftrittsverbot und mußte sich außer Landes einen neuen Broterwerb suchen -- als Autor Prager Kleinkunst-Bühnen. Freche Filme wurden von den Spielplänen abgesetzt, andere in den Studios beschnitten.

Aufsässiger Intellektueller Herr zu werden, hatte die SED die Macht. Aber während« sie im Innern die »Gegenwart, die nach Veränderung schreit« (Biermann) in die Fasson zwängen konnte, die ihr genehm war, erwies sie sich als hilflos gegenüber den Veränderungen, die sich ringsum in der Welt und zumal im Osten vollzogen. Denn im letzten Jahr, kaum war die Kultur-Razzia abgeschlossen, entdeckte die SED, was ZK-Mitglied Alfred Kurella »massive revisionistische Tendenzen bei unseren Bundesgenossen im sozialistischen Lager« nannte.

Die Rumänen nutzten den Streit zwischen Moskau und Peking, ihre nationale Souveränität hervorzuheben, und begannen, West-Politik zu Lasten der DDR zu treiben: Ihr Vorschlag, die Militärblöcke in Europa aufzuweichen, ließ das Sicherheitsbedürfnis des SED-Staates außer acht; ihr Drängen nach diplomatischen Beziehungen zu Bonn schwächte die rote Abwehrfront gegen die Bundesrepublik.

Zu spät intervenierte die SED. Vergeblich stemmte sich Ulbricht im Block > gegen die Hoffnung auf Entspannung: »Es ist unverkennbar, daß die

... Bundesrepublik alles nur in ihrer Kraft stehende unternimmt

den Zustand der Spannungen in Europa zu konservieren«;

* gegen den östlichen West-Kurs im Außenhandel: »Es hieße die Gesetzmäßigkeit des Klassenkampfes unterschätzen, wenn jemand glaubt, in erster Linie durch wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den kapitalistischen Ländern ... zur höchsten volkswirtschaftlichen Effektivität zu gelangen.«

Denn unter den westlichen Handelspartnern der Tschechen wie der Polen stand Bonn mittlerweile an erster Stelle. Und im devisenträchtigen Touristen-Geschäft Ungarns, Rumäniens und Bulgariens wurde die Deutsche Mark aus der Bundesrepublik Haupteinnahmequelle.

Vergebens klagte »Neues Deutschland« zum Jahreswechsel, »ob Mitglieder von Bruderparteien nichts Besseres zu tun haben, als den deutschen Marxisten-Leninisten in den Rücken zu fallen«. Doch weder mit Parteibeschwerden noch diplomatischen Demarchen gelang es der SED, den »teuren Kampfgefährten« (Honecker) den Weg nach Westen zu verlegen: Rumäniens Außenminister Manescu widersetzte sich einer DDR-Sprachregelung und weigerte sich öffentlich, die Bonner Regierung »faschistisch« zu nennen. Polnisches Heizöl rollte weiter nach West-Berlin, obschon die DDR den Transporten einen Umweg über die Bundesrepublik vorschreibt und Warschau mit den Mehrkosten von zehn Westmark je Tonne belastet.

Und als im Oktober letzten Jahres der sowjetische Parteichef Leonid Breschnew in einer -- bis heute geheimgehaltenen -- Rede den Ostblockführern im Kreml klarmachte, daß sich Rußland angesichts der täglich wachsenden chinesischen Gefahr auf den Fernen Osten konzentrieren müsse, überkam die DDR-Oberen im nahen Osten der Horror vacui.

In dieser Situation benahm sich die DDR wie ein Mädchen, das sich sitzengelassen wähnt. Sie lief dem Angebeteten hinterher und bot jedes Opfer an. Sie erklärte sich bereit, den Sowjets einen Großteil ihres Export-Potentials zu verpfänden, obgleich Parteiökonomen bereits ein Jahr zuvor gewarnt hatten, die

enge Bindung an die Sowjets könnte die DDR-Wirtschaft überfordern.

Damals ging es um den Abschluß eines neuen, wesentlich erweiterten Randelsvertrags« der über fünf Jahre fast die Hälfte aller DDR-Exporte der Sowjet-Union zusichern sollte (Gesamtwert: rund 30 Milliarden Mark). Die DDR war willens, für diese hochwertigen Waren -- Maschinen, Chemie-Anlagen, elektrotechnische Ausrüstungen: -- Preise zu akzeptieren, die zum Teil unter den Gestehungskosten lagen. Umgekehrt war sie bereit, dafür sowjetische Rohstoffe -- insbesondere Rohöl -- zu Preisen zu importieren, die über dem Weltmarkt-Niveau liegen.

Dieses Projekt verlangte Kapazitäten, welche die DDR-Industrie nicht besaß, und Liefertermine, die sie nicht einhalten konnte. Der Planungschef der DDR, Erich Apel, erkannte das. Er wehrte sich dagegen, die DDR-Wirtschaft vollends den Bedürfnissen der Russen anzupassen. Als die Partei seine Einwände überging, schoß er sich eine Kugel in den Kopf (SPIEGEL 51/1965).

Noch am Tag des Selbstmords, am 3. Dezember 1965, wurde der deutsch-sowjetische Handelsvertrag unterzeichnet. »Binnen weniger Monate trat ein, was der »liebe Erich« (Nachruf der Partei) prophezeit hatte. Die DDR war nicht imstande, die Verpflichtungen gegenüber der Sowjet-Union zu erfüllen. Die für Ostdeutschland lebenswichtige Exportwirtschaft hatte ihre Leistungsgrenze erreicht. Die geplante Zuwachsrate im Gesamtexport (Wert 1965: 11,7 Milliarden Mark) wurde 1966 nicht erreicht.

Notgedrungen mußte der Staatshandel geplante Erweiterungen des -- devisenbringenden West-Exports (1965: 3,15 Milliarden Mark einschließlich DDR-Lieferungen im Interzonenhandel) zurückstehen und Westkontingente nach Osten umleiten. Das -aber bedeutete: Die DDR mußte sich einen Teil ihrer bereits geplanten Investitionsgüter-Importe aus dem Westen versagen, obschon sie ihrer zur Modernisierung der Industrie dringend bedarf. Und Ersatz aus der Sowjet-Union ist nicht zu beschaffen. Denn von allen Fabrikausrüstungen und Einzelmaschinen, die von der DDR importiert werden müssen, können die Sowjets lediglich 20 Prozent liefern. --

Dennoch zog die SED die Fessel, die sie der DDR mit dem Vertragswerk angelegt hatte, im letzten Dezember noch fester an. In einer Zusatzvereinbarung verpflichtete sie sich, den strapaziösen Super-Vertrag sogar nur »als Minimalprogramm ... zu betrachten«. So sagte die SED der Sowjet-Union zusätzliche Lieferungen moderner Fischerei-Fahrzeuge und Frachtschiffe. zu.

Die Devise der von Honecker angefeuerten SED-Führung: »Das Politbüro erklärt, daß daraus die Notwendigkeit für alle Partei-, Staats- und Wirtschaftsorgane der DDR erwächst ... unsere vertraglichen Verpflichtungen gegenüber der Sowjet-Union auf allen Gebieten vorbildlich zu erfüllen.«

Diese Vertragsbesessenheit demonstriert beweiskräftiger als alle Bekundungen »unverbrüchlicher deutsch-sowjetischer Freundschaft«, daß die Staatsführung der DDR ihre Moskauer Schutzmacht an der Leine halten will (indem sie sich ihr unentbehrlich macht). Die unausgesprochene und in den Funktionskadern der Partei doch allgegenwärtige Furcht, die DDR könne auf dem Altar der Entspannung geopfert werden, ist Triebfeder dieser Politik.

Auf der letzten Vollversammlung des SED-Zentralkomitees Mitte Dezember fand die sozialistische Urangst in einer Aufforderung des Politbüros an die unteren Parteiorganisationen Ausdruck, sich auf »den Kampf gegen das Eindringen bürgerlicher und feindlicher Einflüsse« zu konzentrieren. Die an das Partei-Chinesisch gewöhnten Genossen wissen, was gemeint ist: »Feindlicher Einfluß« ist die Gefahr aus dem Osten, »bürgerlicher Einfluß« ist die Gefahr aus dem Westen.

In offenkundiger Überschätzung einer gesamtdeutschen Dynamik, die ihnen aus Bonn drohen könnte, beendete die SED das Jahr ihrer Selbstblockade gegenüber dem Westen -- Rückzug vorn Redneraustausch, Ablehnung eines Studentenaustauschs« Abkehr vom Konföderationsgedanken -- mit der Weigerung, den West-Berlinern zu Weihnachten Passierscheine für den Besuch Ost-Berlins zu geben. Sie ließ sogar einen für diesen Monat vertraglich vereinbarten Konzert-Austausch des Leipziger Gewandhaus-Orchesters und des Kölner Gürzenich-Orchesters platzen.

Und klarer als jemals zuvor verkündete das SED-Politbüro zum Jahreswechsel, wie es um die Sache aller Deutschen steht. Der Sieg des Kommunismus, die »historische Wende«, sei -- so hieß es -- im anderen Teil Deutschlands »endgültig und unwiderruflich« geworden: »Das wird ... helfen, vorhandene Illusionen über die Wiedervereinigung ... zu überwinden.«

Und: »Es kommt darauf an, klarzumachen, daß Sozialismus und Kapitalismus sich niemals vereinigen können.«

Klargemacht werden soll das den Bürgern der DDR, die noch einen letzten, schwachen Hauch eben dieser Illusion einer Wiedervereinigung verspüren. Das haben sie auch im Jahre 1967 mit ihren Brüdern und Schwestern im Westen noch gemein. Viel mehr nicht.

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