SERBIEN Der Fall der Bastille
Der Grenzstein 501 trennt Serbien von der EU. Von »Europa«, wie die Menschen hier sagen. Drüben, hinter der Landesgrenze, liegt im Laternenlicht das ungarische Dorf Röszke. Hüben knirschen die Stiefel von Aleksandar Jelenkovic im hartgefrorenen Schnee.
Für den Offizier der Belgrader Grenztruppen, der da zu Fuß durch die Nacht patrouilliert, ist es kein Streifengang wie jeder andere. Seit Mitternacht dürfen Bürger Serbiens, wie auch die Mazedoniens und Montenegros, ohne Visum nach »Europa« reisen. Die diplomatische Morgengabe der EU für Westbalkan-Bewohner mit fälschungssicherem Pass kommt pünktlich zum orthodoxen Nikolaus-Fest.
»Nikolaus ist Schutzpatron der Reisenden, und mein Sohn, heute vor vier Jahren geboren, heißt nach ihm«, sagt Jelenkovic. Der Grenzschützer ist 27 Jahre alt und hat das Gebiet Ex-Jugoslawiens nie verlassen. »Für meine Generation«, sagt er, »war Reisen bisher so gut wie unmöglich.«
Seit Slobodan Milosevic 1991 die jugoslawischen Erbfolgekriege entfesselte, gilt Serbien als Schmuddelkind Europas: mit Sanktionen belegt, von der Nato bombardiert, von den Nachbarländern Ungarn, Rumänien, Bulgarien durch die EU-Außengrenze abgeschnitten. Dem »Fall der Bastille« vergleichbar sei daher die Aufhebung der Visumpflicht für sein Volk, sagt Vize-Premier Bozidar Djelic. Und Außenminister Vuk Jeremic spricht in der Nacht zum 19. Dezember am Grenzübergang von später Gerechtigkeit: »Endlich gelten für uns die gleichen Regeln wie für andere.«
Hybris und verletzter Stolz klingen da durch, vertraute Töne aus dem Register Belgrader Diplomatie. In Wahrheit gelten »die gleichen Regeln« noch immer nicht für alle, die an der EU-Peripherie leben. Bürger Bosnien-Herzegowinas, Albaniens und der ehemaligen serbischen Provinz Kosovo, der Ukraine auch und Weißrusslands, bleiben von der neuen Reisefreiheit ausgeschlossen.
Die Truppen des Innenministeriums an der nordserbischen Grenze bekommen das täglich zu spüren: Wer für die Einreise ins Reich der EU ein Visum benötigt, aber nicht bewilligt bekommt, der versucht sein Glück querfeldein. Zu Fuß und bevorzugt im Schutz der Nacht.
Auf 627 Kilometer Länge, entlang der Grenzen zu Ungarn und Rumänien, hat Belgrad nach dem Abzug der Armee vor drei Jahren Polizeikräfte in Stellung gebracht. Für 350 Euro Monatsgehalt stellen sich die Männer einem fast aussichtslosen Kampf. Lediglich fünf Geländewagen mit Wärmebildkameras stehen landesweit zur Verfügung. Die Benzinration für den Lada, mit dem die Beamten vom Stützpunkt Martonos aus zum Grenzstein 501 aufbrechen, reicht für 30 Kilometer täglich.
Also stapfen sie, im Halfter Pistolen vom Kaliber neun Millimeter, in den Händen Nachtsichtgeräte russischer Bauart, zu Fuß durch die klirrende Kälte: den Bahndamm entlang, der vom serbischen Dorf Horgos hinüber nach Ungarn führt, oder über die Schneisen im Wald beidseits des hell erleuchteten Grenzübergangs an der Straße nach Szeged.
»Albaner aus dem Kosovo kommen meist in Gruppen und sind organisiert, sie haben Helfer auf beiden Seiten der Grenze«, sagen die Beamten: »Die Afghanen hingegen geben einfach bei Google Maps ihr Ziel ein, und dann laufen sie los.«
Es sind dramatische Bilder, die da von der Wärmebildkamera schemenhaft auf zwei Monitore im Geländewagen des mobilen Grenzschutzkommandos übertragen werden: Ein einsamer Afghane mit aufgespanntem Regenschirm unterwegs Richtung Niemandsland - »wie Mary Poppins«, spotten die Männer, die ihn verhaften; drei Kosovaren, die sich verzweifelt bäuchlings ins hüfthohe Gras drücken, ehe sie aufgespürt und abgeführt werden.
1147 erfolgreiche »Zugriffe« verbuchten die Serben an ihrer Nordgrenze von Januar bis November 2009. Die besser ausgerüsteten ungarischen Kollegen meldeten schon Ende August 1817 festgenommene Illegale. Aufs Jahr gerechnet werden es an die 4000 verhinderte Einreisen nur an diesem Abschnitt der EU-Außengrenze sein. Die Dunkelziffer mit einbezogen, dürften es in den letzten zwölf Monaten zwischen 15 000 und 40 000 Menschen über Ungarn nach Westeuropa geschafft haben.
Beim Grenzschutzkommando in Subotica kennen sie ihre Klientel. 70 Prozent der Aufgegriffenen sind Kosovo-Albaner, gefolgt von Afghanen, Irakern und Schwarzafrikanern. Das Gros nimmt die klassische Balkanroute, die von der Türkei über Kosovo und Serbien nach Westen führt. Subotica, kurz vor der ungarischen Grenze, dient den Fluchtwilligen dann als Sammelpunkt und Sprungbrett ins Glück.
Die 100 000-Einwohner-Stadt, bis 1918 unter dem Namen Maria-Theresiopolis Teil von Österreich-Ungarn, bietet ein sorgsam geknüpftes Netzwerk für Illegale aus aller Welt. Vom Busbahnhof aus, wo Reisende aus Belgrad und anderen Balkanmetropolen ankommen, übernehmen Taxifahrer. Sie setzen ihre Fahrgäste dann entweder an der letzten Tankstelle vor der ungarischen Grenze aus oder in verschwiegenen Etablissements wie dem »Hotel Zimmer«. Das umgewidmete Privathaus von Herrn Varga in der Vladimir-Danic-Straße bietet Obdach für zehn Euro pro Kopf und Tag.
Bei Varga warten in dieser Nacht, da für Serbiens Bürger das Tor nach Europa aufgeht, dichtgedrängt auf Betten und Sofas junge Männer, die zu allem entschlossen sind. Einige haben sich Schleusern ausgeliefert und dafür viel Geld bezahlt, andere versuchen es auf eigene Faust. Alle aber hoffen darauf, dass ihr Augenblick kommt.
Im ersten Stock, über einem Laib Brot und einer Pfanne voll Rührei, kauern eng aneinander fünf Kurden aus S,anliurfa. Schmale junge Männer, deren Anführer Mahmud einst, als Asylbewerber nach Deutschland gekommen, mit seinen Brüdern Restaurants in der Schweriner Innenstadt führte - bis er, zu Besuch in Norwegen, wegen einer Schlägerei ins Gefängnis gesteckt und anschließend in die Türkei abgeschoben wurde.
Mahmud beschreibt die Route, die von Anatolien aus zurück ins EU-Gebiet führt. Start auf dem Basar von Istanbul-Aksaray, wo ein Albaner namens Naim 5000 Euro pro Kopf für die Schleusung kassiert; Abflug nach Tirana, in die Hauptstadt Albaniens; Weiterfahrt im Bus nach Pristina im Kosovo; von dort nach Rozaj in den Bergen Montenegros. Dann mit dem Auto an die grüne Grenze zu Serbien und in 20 Minuten zu Fuß hinüber. Ein ortskundiger Schleuser weist den Weg zum Bus nach Belgrad und weiter nach Subotica.
So weit habe alles geklappt, sagt Mahmud. Doch jetzt, am 36. Tag seit Beginn ihrer Flucht, sitzen er und die vier anderen Kurden noch immer an der ungarischen Grenze fest. Albanische Mittelsmänner haben sie so lange in einer verriegelten Bruchbude festgehalten, bis Mahmud die Polizei alarmierte.
Er hat danach, wie seine Kumpane auch, ein serbisches Gefängnis von innen kennengelernt. Nun sind sie alle zwar wieder in Freiheit, aber ihre Aufenthaltsfrist in Serbien ist abgelaufen, und das von der Familie in der Türkei vorgestreckte Reisegeld geht zur Neige.
Die Angst davor, nach Hause zurückzukehren als einer, der es nicht geschafft hat in den goldenen Westen, ist jedem in der Gruppe anzusehen. Der Jüngste im Zimmer bricht schon beim Gedanken daran in Tränen aus. Alle fünf haben Zettel dabei mit Kontaktadressen für die Zeit nach der Flucht: zwei wollen nach Italien, je einer nach Deutschland, Frankreich und Polen.
Laut sagen sie es nicht, die jungen Kurden, aber ihr Plan ist klar: Sie werden nicht weichen aus Subotica, ohne ihr Glück an der grünen Grenze versucht zu haben.
Ein Stockwerk tiefer im »Hotel Zimmer« liegen Ljuzim und Sami kurz vor Mittag noch in ihren Betten. Die beiden Albaner aus dem Kosovo sind angereist für zwei Tage, angeblich um Arbeit als Lastwagenfahrer zu finden. Der Gesprächigere von beiden räumt ein, schon früher illegal als Elektriker in Italien gearbeitet zu haben. Für ein Handgeld von 1400 Euro hätten die Zöllner bei der Einreise in Bari damals beide Augen zugedrückt.
Und wenn in Subotica derzeit nichts frei wäre für einen Lastwagenfahrer, der kein Wort Serbisch spricht? Wenn stattdessen wieder Italien riefe? »Mi piacerebbe«, sagt der Albaner leise: »Würde mir gefallen.«
In Subotica ist wie kaum irgendwo sonst zu spüren, dass die Außenmauern der Wohlstandsfestung Europa durch die neuen Reiseregelungen einmal mehr verschoben werden könnten. Selbst leiseste Erschütterungen der geopolitischen Tektonik reißen ja im Südosten des Kontinents Gräben auf. Und nun hat Belgrad auch noch am vergangenen Dienstag seinen Antrag auf EU-Mitgliedschaft eingereicht.
Kosovo-Albaner, die noch 2008 ihre Unabhängigkeit von Serbien frenetisch feierten, versuchen inzwischen, sich im südserbischen Albaner-Sprengel rund um Presevo registrieren zu lassen. In der Hoffnung, so Anrecht auf einen Pass aus Belgrad und auf freies Reisen innerhalb der EU zu erwerben. Viele fahren auch gleich auf gut Glück zur ungarischen Grenze. Von serbischer Seite können sie dort nicht zurückgewiesen werden, solange Belgrad die Abspaltung des Kosovo nicht anerkennt.
Die neuen Regeln über den Wegfall der Visumpflicht gelten bisher nur für Menschen mit Wohnsitz in Kern-Serbien. EU-Diplomaten aber regieren den Balkan traditionell mit Zuckerbrot und Peitsche. Belgrad wird deshalb in naher Zukunft wohl den Preis für die Reisefreiheit zu entrichten haben - in Form verstärkter Kontrolle seiner Südwestgrenze.
Von dort, aus dem Kosovo, kommen die meisten Fluchtwilligen. Wer sie fernhalten will, muss einen Schutzwall errichten. Steht der erst einmal, ist es bis zur Anerkennung einer kosovarischen Staatlichkeit nur noch ein Schritt. Und bis zur Reisefreiheit, auch für Kosovo-Albaner, noch ein weiterer, letzter.
Die Geduld, so lange zu warten, hat Bljerim Rama nicht mehr aufgebracht. Mit seiner Frau, zwei Kleinkindern und 14 anderen Kosovo-Albanern bestieg er Mitte Oktober ein Boot auf der serbischen Seite der Theiss - das ungarische Ufer vor Augen. Der Fischerkahn kenterte, nur Rama und seine Kinder konnten sich retten. Elf Leichen, darunter die von Ramas Frau, wurden beidseits des Flusses angespült. Vier Menschen blieben vermisst.
Am mutmaßlichen Schauplatz der Tragödie liegen noch immer drei hölzerne Kähne vertäut. Auf einem stillen Uferstück an der Theiss, von Bäumen umstanden.
Weltabgeschieden und doch dicht an Europa. WALTER MAYR