»Der Feind ist verschwunden«
SPIEGEL: Monsieur Baudrillard, jeden Tag präsentiert uns das Fernsehen pausenlos den Krieg. Was können wir sehen, wenn wir diese Bilder betrachten: die Wirklichkeit oder nur Täuschung und Simulation?
BAUDRILLARD: Im Fernsehen hat man es nie mit der Realität zu tun im Sinne eines echten, konkreten Kontaktes. Das Medium macht die Wirklichkeit virtuell, das heißt, es übersetzt sie in flüchtige, austauschbare elektronische Bilder, die sich der Erfahrbarkeit entziehen.
SPIEGEL: Aber der Krieg findet statt.
BAUDRILLARD: Es sind nicht nur die Medien, in denen sich dieser Krieg verflüchtigt - der Krieg selbst nämlich ist nicht real.
SPIEGEL: Wie das?
BAUDRILLARD: Das Virtuelle beherrscht nicht nur die Medien, es hat auch das Wirkliche angegriffen. Der Golfkrieg wird elektronisch geführt. Der Feind als Gegenüber, der persönliche Feind ist verschwunden. Der Kriegsschauplatz ist für die Beteiligten nur auf den Schirmen ihrer Radare und Zielvorrichtungen präsent. Die Kriegsereignisse selbst sind ins Ungewisse geraten.
SPIEGEL: Die Ungewißheit liegt doch an der Zensur.
BAUDRILLARD: Dieser Krieg brauchte eigentlich keinen Zensor. Die Bilder zensieren sich selber. Auch wenn keine Informationen zurückgehalten würden, wäre es uns wohl nicht möglich, aus den Momentaufnahmen eine Vorstellung zu entwickeln über das, was geschieht. Im Rausch der elektronischen Bilder, die sich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten, hat das Wirkliche keine Zeit zu passieren.
SPIEGEL: Aber es gibt doch Momentaufnahmen, etwa Bilder von zertrümmerten Häusern und verletzten Zivilisten, in denen man die Wirklichkeit des Krieges erkennen kann.
BAUDRILLARD: Man muß immer die Gleichgültigkeit der Menschen in Rechnung stellen. Die Überzahl von Bildern vernichtet alle Imagination. Man kann sich nicht einfühlen, nicht interpretieren. Man hat keine Zeit dazu. Im Reich der Bilder gibt es zudem keine Kriterien _(Das Interview führten die Redakteure ) _(Nikolaus von Festenberg und Claudius ) _(Seidl. ) für das Wahre und das Falsche. Man erlebt alles wie ein Drehbuch. Wir sind in einer großen Produktion.
SPIEGEL: Ob mit oder ohne Drehbuch - wenn über Tel Aviv die Raketen anfliegen, dann ist das für die Israelis doch kein Kino.
BAUDRILLARD: Ich habe gehört, daß die israelischen Behörden die Bevölkerung davor warnen, bei Nacht auf die Straße zu gehen, um am Himmel den Kampf zwischen Patriots und Scuds zu betrachten. Nach dem ersten Schrecken sind die Leute dazu übergegangen, den Raketenkrieg auch als Spektakel zu nehmen. Das geht sehr schnell. Das ist so etwas wie mentale Verdauung. Selbst dort virtualisiert die mediengeprägte Rezeptionsweise den Krieg.
SPIEGEL: Ein Krieg mit Toten und Verletzten kann doch niemals eine gute Show sein.
BAUDRILLARD: Auch Verwundete und Tote stören nicht das allgemeine Spektakel. Wir wissen nicht, ob der Tod als Bild nicht manipuliert ist.
SPIEGEL: Aber den USA geht es in dem Krieg nicht um ein Spektakel, sondern darum, die Macht eines aggressiven Diktators zu brechen. Dafür setzen die alliierten Truppen ihr Leben ein.
BAUDRILLARD: Die wahre Herausforderung heißt nicht Saddam Hussein. Die wahre Herausforderung geht vom islamischen Fundamentalismus aus. Chomeini wollte ein Duell, ein Spiel auf Leben und Tod mit den westlichen Werten.
SPIEGEL: Saddam spielt nicht auf Leben und Tod?
BAUDRILLARD: Saddam ist bloß ein Falschspieler. Er ist vom Westen genährt worden, er lebt vom Westen, er funktionalisiert den Islam für seine Ziele, genauso wie er es mit den Emotionen der arabischen Massen tut, die er für seine Zwecke als Geiseln nimmt. Ich glaube, er ist in vielen Dingen ein Komplize des Westens.
SPIEGEL: Sie scherzen.
BAUDRILLARD: Nein. Mir scheint es manchmal, als habe der Westen den Konflikt mit diesem west-östlichen Zwitterwesen nur heraufbeschworen, um die Dinge zu verwischen.
SPIEGEL: Welche Dinge?
BAUDRILLARD: Die Amerikaner haben ein Interesse an einer Blockade oder Neutralisierung des Islams im Ganzen.
SPIEGEL: Dessen radikalste Repräsentanten den amerikanischen Teufeln den Heiligen Krieg erklärt haben . . .
BAUDRILLARD: Die Amerikaner nehmen diese Feindschaft nicht ernst. Sie können einfach nicht begreifen, daß die Welt böse sein kann. Sie sind so egozentrisch, daß sie sich den anderen nicht als anders vorstellen können.
SPIEGEL: Wozu brauchen sich die Amerikaner ihren Gegner vorzustellen? Sie wollen ihn doch nur bekämpfen.
BAUDRILLARD: Die Amerikaner kämpfen nicht als Krieger, sondern als Missionare. Sie haben ein gutes Gewissen und ihre Allmacht - das ist ihre ganze Weltanschauung. Deshalb gibt es für diesen Krieg im wortwörtlichen Sinne keinen Grund: Die Gegner stehen nicht auf dem gleichen Grund, nicht auf dem Boden derselben Wirklichkeit. Amerika nimmt die Herausforderung des anderen nicht an. Es kann den sogenannten Feind nur neutralisieren, aber nicht besiegen.
SPIEGEL: Nimmt denn der Islam die Herausforderung durch den Westen an? Scheuen nicht die fundamentalistischen Moslems die Konkurrenz mit der westlichen Lebensart?
BAUDRILLARD: Das muß man verstehen. Sie wollen nicht in diese virtuelle und mediale Welt, in diese Gesellschaft voller Simulation und Ungewißheit hineingezogen werden. Es mag sein, daß wir im Westen die Moslems manchmal dafür verachten. Aber sie haben eine viel größere Verachtung für uns.
SPIEGEL: Aber die gegensätzlichen Kulturen und Religionen müssen doch nach irgendwelchen universell gültigen Regeln friedlich miteinander auskommen.
BAUDRILLARD: Frieden ist vielleicht nur eine Utopie. Das Gleichgewicht in anderen Gesellschaften funktioniert nicht über die Neutralisierung jeder Gewalt. Dort spielt man die Gewalt aus, oder man sublimiert sie durch Rituale, Opfer und Magie. Moderne, rationale Gesellschaften haben diese Austragungsformen von Gewalt liquidiert. Und jetzt stehen wir ohne symbolische Abwehrkräfte den Herausforderungen der nicht-modernen Gesellschaften gegenüber.
SPIEGEL: Das Überlegenheitsgefühl des Westens, zumindest was den Golfkrieg betrifft, scheint ungebrochen.
BAUDRILLARD: Es beruht auf dem Glauben, wir kennten die Wirklichkeit der Welt, sie sei das, was man materiell realisieren könne. Andere Kulturen nehmen das Illusionäre, die Träume als nicht minder reale Bestandteile der Welt ernst und versuchen damit magisch oder spielerisch umzugehen. In unserer hyperrealistischen Medienwelt rächt sich diese Verdrängung: Wir leiden unter deren Illusionskraft, doch wir haben nicht mehr die Mittel, sie zu beherrschen. Ja, da haben wir keine Kultur mehr.
SPIEGEL: Viele Jugendliche überfällt angesichts dieses undurchschaubaren Krieges eine tiefe Sehnsucht nach erfahrbarer Wirklichkeit. Junge Deutsche halten es vor dem Fernseher nicht mehr aus und protestieren auf der Straße gemeinsam gegen den Krieg. Junge Engländer zieht es vom Bildschirm ins Rekrutierungsbüro. Findet da eine Flucht aus dem Bann der Medien statt?
BAUDRILLARD: Ja. Natürlich haben wir alle eine tiefe Sehnsucht nach dem Realen. Wir sind nicht einverstanden mit der reinen virtuellen Welt. Wir sehnen uns danach, durch diese Glaswand zu brechen. Aber das Protestieren ist auch nur eine Szene im Drehbuch der Medien. Selbst wenn wir uns vor dem Fernsehen ekeln, geraten wir tiefer und tiefer in dessen Bilderwelt. Das ist ein paradoxer, katastrophaler Prozeß.
SPIEGEL: Wie ist das zu verstehen?
BAUDRILLARD: Natürlich gibt es diesen Willen zum Realen, zur Aktion, zurück zu den Kategorien des Körpers und des Geistes, zu Wille und Begehren, zu allem, was menschlich ist und uns an die Wirklichkeit knüpft. Aber es gibt heute so viele Mittel, diese Sehnsucht einzufangen und sie in Virtualität aufzulösen.
SPIEGEL: Ist es also Ihrer Meinung nach auch nur die Sehnsucht nach der Wirklichkeit, die die Soldaten dazu bringt, in diesen Krieg zu ziehen?
BAUDRILLARD: Wenn überhaupt etwas real ist, dann müßte es eigentlich der Krieg sein. Und deshalb ist es interessant zu beobachten, wie dieser Krieg in den Abgrund des Virtuellen fällt. Ich weiß, es klingt fast metaphysisch, aber vielleicht ist dieser Krieg nur ein Test, ob es noch Kriege geben kann.
SPIEGEL: Findet dieser Test nicht nur in Ihrem Kopf statt?
BAUDRILLARD: Wir sind gezwungen, uns mit dem Krieg als Imagination auseinanderzusetzen, weil wir dafür keine Sprache, keine Erzählung haben. Und keine Bilder. Ein Krieg ohne Bilder, eine tiefe Enttäuschung für alle.
SPIEGEL: Oder nur für den professionellen Pessimisten Baudrillard?
BAUDRILLARD: Alles läuft so schnell ab durch diese Elektronik, in Echtzeit, alles ist in einen Kurzschluß geraten. Es gibt nicht mehr diese Distanz vom Ereignis zum Bild zum Urteil. Diese Unmittelbarkeit macht den Krieg so obszön, so pornographisch. Wir sind in einem Clip, wo alle Bilder durcheinanderkommen und wo es folglich keinen Standpunkt geben kann.
SPIEGEL: Vielleicht kommt jetzt mehr Klarheit auf: Wir haben gehört, Sie hatten das Angebot, als Berichterstatter am Krieg teilzunehmen.
BAUDRILLARD: Ich ernähre mich vom Virtuellen. Wenn man mich ins Reale schicken würde . . . (lacht). o *VITA-KASTEN-2 *ÜBERSCHRIFT:
Jean Baudrillard *
ist unter den postmodernen französischen Philosophen der bekannteste - und sicherlich auch der umstrittenste. Seinen Gegnern gilt er nur als »Modephilosoph«, er selbst bezeichnet sich als »Verwalter der theoretischen Leere«. Baudrillard wurde 1929 in Reims geboren, er lebte ein Jahr als Französischlehrer in Tübingen, und er beteiligte sich 1968 an der Mai-Revolte, deren Scheitern auch bei ihm tiefe theoretische Spuren hinterließ. Der enttäuschte Linke entdeckte allenthalben Täuschungen und Simulationen, seine Aufsätze und Essays kreisen um den Zweifel an der Wirklichkeit und Erfahrbarkeit der modernen Welt, die für ihn nur eine mediale, eine vorgetäuschte Welt sein kann. Neben der Simulation ist »das Virtuelle« sein zentraler Begriff. Als virtuell bezeichnet die Physik solche Elementarteilchen, deren Existenz nur indirekt bewiesen werden kann. Für Baudrillard ist die Virtualisierung ein Prozeß, den die Medien ausgelöst haben: Die unmittelbare und sinnliche Wahrnehmung der Welt wird unmöglich, die Medien rücken die Dinge in eine Sphäre des Scheinbaren und Beliebigen, vom Indikativ in den Irrealis.
Das Interview führten die Redakteure Nikolaus von Festenberg undClaudius Seidl.