Zur Ausgabe
Artikel 37 / 83

»Der Freudentaumel wird vorübergehen«

Miroslaw Wojciechowski, Chef der staatlichen Presseagentur »Interpress«, über die Lage in Polen
aus DER SPIEGEL 40/1980

Man hat in der Welt viel über die Wandlungen in Polen zu Papier gebracht. Man hat sie als herrliche Höhenflüge der polnischen Arbeiter dargestellt. Die meisten Berichte waren von Faszination gekennzeichnet, der man sich nur unschwer verschließen kann. Aber diese Berichte waren auch einseitig. Die Ereignisse haben auch eine andere, eine prosaische und farblose Seite. Die Zeit des Taumels und der Emotionen geht langsam vorbei.

Heute entscheidet sich das Schicksal der gesellschaftspolitischen Wandlungen, das Schicksal des Volkes und des Staates auf wirtschaftlichem Feld. Es hängt von einer effektiven und kontinuierlichen Produktion ab.

Infolge gewisser Bedingtheiten arbeitet die Industrie mit etwa 80prozentiger Kraft, auf dem Markt aber werden schon bald 120 Prozent Geldmittel vorhanden sein. Neben dem großen Strom formulierter Forderungen fließt ein nur schmales, zuweilen schwindendes Rinnsal an Versuchen, neue Möglichkeiten ausfindig zu machen, um die Postulate zu erfüllen.

Die Postulate werden mit geröteten Gesichtern, Beredsamkeit und Engagement formuliert. Über Verbesserungen und Produktionssteigerungen wird seltener und leidenschaftsloser gesprochen: Die Produktion, selbst wenn sie bestenfalls zügig abläuft, liegt insgesamt weit unterhalb der Grenze der Bedürfnisse und Erwartungen.

Wenn man sich einmal die gesellschaftspolitische Wirklichkeit Polens vor einem Jahr so vorstellen würde: Die Arbeiter als Mitverwalter der Betriebe mit der institutionellen Garantie der Rechte, um die sie einen dramatischen Kampf geführt haben -- dann würde man sicherlich der Meinung gewesen sein, die Arbeiter, Beamten und alle Werktätigen hätten sich leidenschaftlich an die Arbeit gemacht, um zu zeigen, was man alles vollbringen kann, wenn die Werktätigen authentische, ja souveräne Partner der Staatsmacht sind.

Wenn man sich das alles ein halbes Jahr früher vorstellt, würde man gewiß auch die objektiven Schwierigkeiten in Betracht ziehen: fehlende Rohstoffe, fehlende Ersatzteile, die schwankende Kooperation -- aber was bringt der Pole nicht alles fertig.

Nun stellt sich aber heraus, daß er es nicht fertigbringt, mit der notwendigen, unerläßlichen Leidenschaft zu arbeiten. Das ist nicht seine Schuld, denn es ist nicht so, daß er es nicht fertigbrächte, sondern vielmehr so, daß er es aus verschiedenen objektiven und subjektiven Gründen nicht kann.

Hier geht es nicht um volle Produktivität, denn dafür bestehen oftmals nicht die Grundbedingungen. Es geht um das volle Engagement, um produktive Arbeit unter den gegenwärtigen Bedingungen. Hinderlich sind dabei unter anderem der Freudentaumel und die Euphorie wegen des Sieges über die Bürokratie, über die Gefühllosigkeit, über die verknöcherten Strukturen der Staatsmacht. Dieser Freudentaumel wird vom Rest der Gesellschaft geteilt und wird schnell vorübergehen.

Störend wirkt sich auf die aufopferungsvolle Arbeit auch aus, daß es an Fähigkeit mangelt, die Postulate den Möglichkeiten ihrer Erfüllung gegenüberzustellen, daher dauern Streiks noch an und werden unrealistische Forderungen gestellt. Auch diese Etappe wird bald zu Ende gehen.

Das, was stört, ist auch die Sorge um das Schicksal der neuen Gewerkschaften als Garanten dafür, daß die großen Hoffnungen der Arbeiter erfüllt werden; eine Bürgschaft, daß sich die gemachten Fehler nicht wiederholen und daß die auf leitende Posten neuberufenen Menschen guten Willens von ihren Deklarationen nicht abweichen werden, sich durch schlecht funktionierende Mechanismen der Macht nicht von den programmatischen Richtlinien ablenken lassen.

Der Unwille, die Unfähigkeit, das Mißtrauen und das nur halbe Engagement mancher Organe der Macht und der örtlichen Verwaltung verderben die Beziehungen und beunruhigen die Funktionäre. Sie halten mithin die Spannungen unter den Belegschaften eher aufrecht, statt sie zu lindern.

Die Spannungen sind zudem vorläufig das einzige Instrument, mit dem sich die Arbeiter die fundamentalen Änderungen erkämpft haben und das sie handhaben können. Deshalb auch unternehmen sie nichts gegen die sich verlängernden Streiks und die sich häufenden irrealen Postulate.

Gleichzeitig werden diese Spannungen immer kostspieliger und beginnen die Interessen der Arbeiter selbst zu gefährden. Sie vermindern nämlich die Chancen, die Forderungen der Arbeiter zu erfüllen, weil die Mittel zusammenschrumpfen anstatt zu wachsen.

Aber auch das wird schnell vorübergehen. Die neuen Gewerkschaften werden Selbstvertrauen und das Bewußtsein gewinnen, ein beständiges Element der gesellschaftlich-politischen Landschaft Polens zu sein. Sie werden auch von allen als solches Element betrachtet werden.

Was die Arbeiter hindert, gut zu arbeiten, sind die schlechten, seit Jahren praktizierten Gewohnheiten einer mangelhaft organisierten, nachlässigen und oft überbezahlten Produktion, für die freilich die Arbeiter keine Schuld tragen.

Nach dem Dezember 1970 hat sich die Regierung bewußt für höhere Löhne entschieden, die Produktion und Produktivität überstiegen, um die Arbeitseffektivität anzuregen und die Kaufkraft zu erhöhen. Dies brachte die erwarteten Ergebnisse, die aber leider nicht lange anhielten. Es war S.162 selbstverständlich unmöglich, sich von dieser Lohnpolitik abzukehren, es gab keine anderen wirksamen Mechanismen zur Anregung der Arbeitsproduktivität.

Seit 1972/73 geriet das Gleichgewicht zwischen Löhnen und Produktion immer mehr ins Schwanken. Der unbeholfene und verspätete Versuch, das Mißverhältnis 1976 durch Preissteigerung auszugleichen, endete mit den Streiks in Ursus und Radom.

So ging alles wie gewohnt weiter, was heißt, daß sich die Situation nach und nach verschlechterte. Es kam zu einem stillen gesellschaftlichen Einvernehmen: Die Regierung bezahlte für die Arbeit mehr, als die Arbeit wert war, und die Werktätigen tolerierten die herrschenden Mißstände, die wachsenden Schwierigkeiten auf dem Markt und das sinkende Wachstumstempo des Lebensstandards, dies trotz der äußerst kostspieligen Ausschöpfung der ökonomischen Reserven des Staates und trotz der Auslandskredite.

Diese ungeschriebene Vereinbarung hat die Regierung nicht eingehalten, weil ihre Möglichkeiten an eine Grenze stießen. Das Wachstumstempo des Lebensstandards begann rapide zu sinken. Im Juli kam es zu Streiks, die wirtschaftlichen Charakter hatten und die sich im August in gesellschaftspolitische umwandelten.

Außer ökonomischen Forderungen wurden nun Postulate nach Änderung des Leitungssystems der Wirtschaft laut, nach Gründung unabhängiger Gewerkschaften -- als Garanten der Arbeiter-Interessen und der Dauerhaftigkeit der geforderten Wandlungen.

Die Praxis der Gegenwart zeigt, daß es einfacher ist, das Leitungssystem zu ändern und auch neue Gewerkschaften ins Leben zu rufen, als die Einstellung der Menschen zur Arbeit zu ändern.

Diese Änderung wird, wie zu ersehen ist, die meiste Zeit in Anspruch nehmen. Die Lage fordert von uns, keinen Augenblick zu verlieren, weil im Lande weitere Schwierigkeiten auftreten.

Die Änderung des Verhältnisses der Menschen zur Arbeit und die Mitwirkung bei der Organisation der Produktion werden -- müssen -- früher oder später zu einer ebenso wichtigen Aufgabe der unabhängigen Gewerkschaften werden wie die Vertretung der Interessen der Arbeiter.

Ohne eine so verstandene Rolle der Gewerkschaften ist, bei vergesellschafteten Produktionsmitteln, ein Funktionieren des Staates nicht denkbar. Mit dieser Rolle aber werden die polnischen Gewerkschaften, wenn die an ihr Entstehen geknüpften Hoffnungen der Arbeiter in Erfüllung gehen sollen, sich von den Gewerkschaften des Westens unterscheiden. Noch eine Enttäuschung -- das würde unberechenbare Folgen haben.

Miroslaw Wojciechowski

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 37 / 83
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren