»DER GENERALSEKRETAR IST EINE GROSSE GIFTPFLANZE«
Vor zehn Jahren hieß man europäisch aussehende Ausländer auf den Straßen Pekings herzlich willkommen. Chinesische Kinder hielten es für selbstverständlich, daß ein Europäer, in Rot-China »lange Nase« genannt, ein sowjetischer Experte sein mußte.
Wenn ein Kind einen britischen Diplomaten, einen westdeutschen Geschäftsmann oder einen französischen Journalisten sah, schrie es aufgeregt: »Ein Sowjetmensch«, und sofort versammelten sich Hunderte von Leuten, lächelten, schüttelten die Hände und sagten etwas, das so klang wie »nihau« und »guten Tag« bedeutet. Diese automatische Reaktion blieb auch noch so, als der chinesisch-sowjetische Streit schon in vollem Gange war.
Noch im vergangenen Sommer, als ich zwischen Tausenden von Rotgardisten im Herzen Pekings über den Tien-An-Men-Platz ging, sprach ich mit zwei Mädchen aus dem Süden. Um ihre Reaktionen zu sehen, sagte ich, ich sei aus der Sowjet-Union. Die Mädchen lächelten weiter, eins von ihnen bot mir ein paar Äpfel an.
© 1967, The New York Times News Service.
Vielleicht wußten sie nichts von den Schwierigkeiten, die offiziell noch als ideologischer Streit bezeichnet wurden, oder sie dachten, dieser eine Sowjet-Bürger sei einer der wenigen Glücklichen, die dem »revisionistischen weißen Terror« entkommen sind und die Freiheit in China gewählt haben.
Heute wissen diese beiden Mädchen wahrscheinlich, daß Lächeln und Äpfel nicht angebracht sind, wenn man einen Sowjet-Bürger trifft. Unangenehm ist allerdings, daß die chinesischen Kinder immer noch überzeugt sind, sie hätten Russen vor sich, wenn sie Ausländer sehen (natürlich mit Ausnahme einer kleinen bewundernswerten Minderheit albanischer Genossen). So schreien die Kinder immer noch »Sowjetmensch«, wenn eine »lange Nase« erscheint. Und immer noch bildet sich ein Massenauflauf. Nur ist jetzt das Lächeln durch Buh-Rufe ersetzt, man schlägt wütend gegen den Wagen des Ausländers, man schimpft und spuckt.
Bis zu diesem Monat konnten sich Vertreter kapitalistischer Länder aus den Unannehmlichkeiten heraushalten, indem sie erklärten, sie seien nicht aus der Sowjet-Union. Immer wenn ich durch die Straße fuhr, an der die Sowjetische Botschaft liegt, mußte ich meine Treue zur westlichen Welt, besonders zu Frankreich bekunden, um zu vermeiden, daß die Rotgardisten und andere »Revolutionäre« mich weiterhin bespuckten, beleidigten und womöglich Gewalt anwendeten. Jetzt aber hilft es nichts mehr, Franzose zu sein.
Um zu begreifen, mit welch peinlicher Sorgfalt der Haß gegen die Fremden gelenkt wird, muß man in den Supermarkt für Diplomaten in Wai Tschiao Ta Lo einkaufen gehen, der »ausländischen Freunden« reserviert wurde. In diesem Kaufhaus gibt es Soda, Süßigkeiten, Fleisch, Geflügel und saftiges Gemüse bis hin zu Kaviar, verpackt in Kartons mit der Aufschrift »Lily Cup« New York, USA«.
Eine festliche Atmosphäre scheint zu herrschen. Fahnen, Schilder und bunte Girlanden begrüßen den Käufer. Für den, der chinesisch, russisch oder französisch lesen kann, ist die Begrüßung allerdings weniger herzlich. »Nieder mit dem revisionistischen französischrussischen Komplott«, verkündet ein riesiges Schild neben der Kasse. Über den Ladentischen fordern gelbe und rosa Spruchbänder auf: »Vernichtet entschlossen die Hundeköpfe Breschnew, Kossygin und Tito!«
Ein besonderes Raffinement: Der Ladentisch in der Fleischwaren-Abteilung ist mit einer Warnung dekoriert, die zu der Ware paßt: »Schneidet Kossygin in Stücke!« Über den Fischen hängt ein Schild in englisch: »Bratet den Hundekopf Tito!«
Welche politische Bedeutung die antisowjetischen, antijugoslawischen und antifranzösischen Demonstrationen in Peking auch haben, sie spiegeln in Wahrheit nicht ein gegen die Ausländer gerichtetes Gefühl wider.
Zwar streiken Köche, Chauffeure, Dolmetscher und andere chinesische Angestellte von Ausländern, um gegen die »faschistischen Grausamkeiten« dieser oder jener Regierung zu protestieren. Zwar demonstrieren sie während dieser symbolischen wilden Streiks vor den Büros ihrer ausländischen Arbeitgeber, bedrohen sie mit Fäusten und bespucken sie gelegentlich. Aber nach dem Streik sind dieselben Menschen wieder nützliche und tadellose Hilfskräfte. Demonstrieren ist in Peking eine Aufgabe wie jede andere, sie muß geplant und genau festgesetzt werden.
Der chinesische Demonstrant weiß, wie man Wut durch Disziplin mäßigt. Mit Worten begeht er die größten Exzesse, aber bei der Tat bewahrt er seine Ruhe.
Wenn man sieht, wie er schreit, die Fäuste schüttelt, die sich dem Kinn des Gegners bis auf einen Zoll nähern, aber niemals zuschlagen, niemals eine unsichtbare Grenze überschreiten, dann versteht man, daß sich nichts ereignen wird, was nicht vorher geplant wurde. Sollte das Undenkbare eintreten, dann wäre es nicht zufällig und nicht aus Versehen.
Opfer der Kulturrevolution sind nicht nur Funktionäre geworden. Da ist zum Beispiel der seltsame Fall des Elite-Dungsammlers Schih Tschuang-hsiang. Sein Gewerbe wird in China in Ehren gehalten, weil es einen kostbaren natürlichen Dünger liefert. Außerdem war Schih jahrelang einer der Stars der chinesischen Propaganda und vertrat einen Pekinger Bezirk im Nationalen Volkskongreß.
Sogar nach der Absetzung des Bürgermeisters Peng Tschen brachte die offizielle Presse weiter die mit Schihs Namen versehenen Artikel gegen die Intellektuellen, »die Schwarze Bande": Sie seien gegen seinen Plan gewesen, einen Film über das Leben eines Dungsammlers zu drehen, für den Schih das Drehbuch geschrieben hatte.
Im September lehrte er Rotgardisten, die Peking besuchten, wie man Elite-Dungsammler wird. Die offizielle Nachrichten-Agentur Hsinhua veröffentlichte eine lyrische Abhandlung, in der sie nachwies: Wenn es jemanden gäbe, der auf seine gute Arbeit und die ausgezeichnete ideologische Orientierung stolz sein könne, dann sei dies Schih Tschuang-hsiang.
Plötzlich wurde der Elite-Dungsammler am 15. Januar ein verdammter Dungsammler. Unter dem Gebrüll der Menge, an der etwa alle zehn Minuten ein Gefangener vorbeigefahren wurde, transportierte man ihn auf einem Lastwagen durch Peking. Er hielt den Kopf gesenkt, man hatte ihn auf lächerliche Art und Weise mit einem großen Papierhut herausgeputzt. Er trug ein Schild, auf dem seine revisionistischen Verbrechen aufgeführt waren: Er hatte sein Zimmer mit einer Photographie von sich und Staatspräsident Liu Schao-tschi statt mit einem Porträt des Vorsitzenden Mao geschmückt. Als parlamentarischer Vertreter von Peking hatte er verbotene Geschäfte mit dem Bürgermeister Peng Tschen betrieben.
Die Technik der öffentlichen Schmähung hat Mao 1927 in seinem Bericht über die Bauernbewegung in der Provinz Hunan entwickelt. Bemerkenswert ist, daß im vergangenen Herbst angeordnet wurde, diesen Mao-Bericht zu studieren und die Lehren daraus zu ziehen.
Über Papierhüte und Schmähplakate schrieb Mao vor 30 Jahren: »Das ist etwas Alltägliches. Man setzt einem der örtlichen Tyrannen oder bösen Adligen einen Papierhut auf den Kopf ... Er wird an einer Leine geführt, große Menschenmengen gehen ihm voran und folgen ihm. Manchmal werden Messing-Gongs geschlagen und Flaggen geschwungen, um die Aufmerksamkeit des Volkes zu erregen. Diese Art der Strafe läßt den örtlichen Tyrannen und bösen Adligen mehr als jede andere erzittern. Wer einmal mit einem großen Papierhut gekrönt war, hat für immer sein Gesicht verloren und kann nie wieder seinen Kopf aufrichten.«
Mao fährt fort: »Ein kluger Bauernverband eines Bezirkes verhaftete einen verhaßten Adligen und verkündete, er werde noch am selben Tage gekrönt werden. Der Mann wurde blau vor Angst. Dann beschloß der Verband, ihn nicht an jenem Tage zu krönen: Er würde abstumpfen und sich nicht länger fürchten, wenn man ihn sofort krönte. Besser sei es, ihn nach Hause gehen zu lassen und an einem anderen Tage zu krönen. In der Ungewißheit darüber, wann er gekrönt werde, lebte der Mann in täglicher Spannung und konnte sich weder ruhig hinsetzen noch ruhig schlafen.«
Zum neuen Angriffsziel wurde in den letzten Monaten der reaktionäre »Schwarze Wind des Ökonomismus«, den Liu Schao-tschi symbolisiert. Er beging ein Verbrechen, weil er den Industriearbeitern das Zuckerbrot des materiellen Anreizes anbot: Lohnerhöhungen, einen Jahresbonus oder andere Vorteile.
Der »Schwarze Wind« wollte Chinas Fortschritt mit dem Fortschritt der Industrie verbinden. Dadurch wäre der Widerspruch zwischen der Land- und Stadtbevölkerung verschärft worden. Das aber ist in den Augen Maos und seiner Kulturrevolution eine schwere Sünde in einem Lande, dessen höchste Führer von der Hoffnung besessen scheinen, einen neuen Menschen zu schaffen, der weder Arbeiter noch Bauer, weder Soldat noch Intellektueller, sondern alles in einem ist.
Schon vor der Kulturrevolution waren die chinesischen Großstädte -- nicht nur Peking, sondern auch Schanghai und die Industriezentren der Mandschurei -- verdächtig und wurden von der Propaganda im Vergleich zu den Wundertaten des Muster-Erdölfeldes von Tatsching oder der Brigade von Tatschal herabgesetzt. Das Regime entschied, daß aus diesen beiden in der Wüste geborenen Einheiten, in denen Arbeiter zu Bauern wurden und Bauern zu Arbeitern, in denen der Geist des »Großen Sprungs nach vOrn« noch lebt, das China von morgen hervorgehen müsse.
In dem Bestreben, die Städte herabzusetzen, zeigten viele Plakate in Peking, wieviel der Arbeiter in den Städten verdient, wie wenig dagegen der Bauer. Nach Ansicht der revolutionären Rebellen darf dieser Unterschied nicht länger geduldet werden. Auf einer Wandzeitung in Peking wurden für Angestellte der Eisenbahn Lohnsenkungen von zwölf bis 60 Prozent vorgeschlagen. Ähnliche Plakate erschienen an einigen Fabrikwänden.
Die sichtbaren Auswirkungen der Kulturrevolution im täglichen Leben sind unterschiedlich. Gewiß, die wichtigsten Kaufhäuser haben ein gutes Sortiment an Konsumgütern. Es gibt Fahrräder für 160 Mark, Radios für 80 bis 480 Mark, Fernsehempfänger für 800 Mark, blaue Baumwoll-Regenmäntel für 96 Mark. Der Durchschnittslohn eines Industriearbeiters beträgt aber höchstens 128 Mark im Monat. In der Stadt liegen die Einkommen bei 750 Mark, auf dem Lande ungefähr bei 160 bis 320 Mark im Jahr. Lebensmittel sind, nach westlichen Maßstäben, unglaublich billig -- und auch so reichlich vorhanden, daß die Lebensmittelkarten schon seit langem abgeschafft wurden.
Ablenkung und Unterhaltung gibt es nicht mehr. Die Museen sind geschlossen, Parks und Zoologische Gärten nur vorübergehend geöffnet. Der Stadtbewohner scheint jetzt nur noch zu leben, um zu arbeiten, zu essen und an endlosen Versammlungen und Demonstrationen teilzunehmen.
Nach der Schließung der Pekinger Oper kam das Ende des modernen Theaters und die Abschaffung der beliebten Folklore-Veranstaltungen. Ho Bao-lin, ein großartiger Komiker, der die geheiligten Institutionen mit feinem Spott aufs Korn nahm, ist verschwunden.
In der Kleidung eines Stars der Pekinger Oper pflegte er seinem Gegenüber zu verkünden, er wolle dem Institut für Bewässerung beitreten. Zeigte sich der Angeredete erstaunt, fragte Ho Bao-lin: »Weißt du denn nicht, daß man lernen muß, wie man seine Stimmbänder mit Mao Tal anfeuchtet, wenn man ein großer Schauspieler oder Redner werden will?« Außer dem Gleichklang hat Mao Tal nichts mit dem Namen des Vorsitzenden Mao gemein, es ist farbloses Getränk wie Gin, nur viel stärker.
Die Kinos sind seit dem letzten Sommer geschlossen, und auch damals wurden nur vier Filme in ganz China gezeigt. Drei waren Dokumentarfilme, in denen gezeigt wurde, wie Mao die Massen-Demonstrationen der Roten Garden an sich vorbeiziehen ließ. Der andere Streifen war ein einstündiger Dokumentarfilm über die drei Atomexplosionen in China.
Das Publikum las laut im Chor die Zitate von Mao, die auf der Leinwand aufleuchteten, und begrüßte jeden Atompilz mit Freudengeschrei. Atombomben. so wird in dem Film erklärt, seien Bomben wie alle anderen auch. Man könne ihnen leicht entkommen, wenn man die richtigen Vorsichtsmaßnahmen treffe.
Zum Beweis zeigt die Schlußszene ein Huhn. das in einem Käfig nicht weit von der Explosionsstelle zurückgelassen wurde und nun inmitten blühender Blumen unter dem klaren Himmel von Sin klang ein wunderschönes Ei legt.
Ausländische Musik, ausländische Theaterstücke und literarische Werke werden nicht mehr verbreitet oder aufgeführt. In der Tat sieht es so aus, als sei jegliches künstlerische Schaffen eingestellt worden.
In den größeren Buchläden von Peking liegen in chinesischer Sprache nur Werke von Mao aus, dazu einige Übersetzungen von Marx, Engels und Lenin, einige wenige politische Studien aus Albanien und eine Geschichte der Kommunistischen Partei Indonesiens. Die einzige fremdsprachliche Buchhandlung bietet das gleiche Sortiment und zusätzlich die Werke von Israel Epstein, einem amerikanischen Anhänger des Marxismus-Leninismus, der in China lebt.
Symbol des neuen China ist eine halboffizielle Sensationspresse mit Überschriften wie »Die zwölf Verbrechen des Präsidenten Liu Schao-tschi« oder »Der Generalsekretär der Partei ist eine große giftige Pflanze«. In Interviews beschuldigen Sohn und Tochter des Präsidenten Liu ihren Vater, den chinesischen Staatschef, er habe Parteigelder unterschlagen, damit sich seine Frau bürgerlichen Glanz leisten könne. Er selbst besitze einen goldenen Schuhanzieher.
Die Bedeutung dieser Sensationsmeldungen kann nur begreifen, wer gesehen hat, wie die chinesischen Massen sich um die Zeitungen der Roten Garde oder der revolutionären Rebellen reißen. Sie stehen am Bordstein und lesen sofort vom neuesten Skandal, vom angeblich größten seit der Proklamation der Volksrepublik vor 17 Jahren.
Wenn dann aus den Lautsprechern an allen Ecken die Melodien »Der rote Osten« oder »Die Schiffahrt auf hoher See hängt vom Navigationsoffizier ab« dröhnen, betrachtet die Menge die mit Verurteilten vorüberrollenden Wagen oder liest die Plakate, auf denen die immer blutigeren und unglaublicheren Missetaten und Verbrechen der »Schwarzen Bande« verzeichnet sind.
Welche Bedeutung hat das für die Massen? Wohin steuert China? Wie kann der westliche Diplomat oder Korrespondent das Wahre vom Falschen unterscheiden? Die elf in Peking stationierten japanischen Korrespondenten gehen aus diesem Sackgassenrennen als Sieger hervor. Sie haben zwei Trümpfe: die Sprache und die technischen Einrichtungen.
In der Hauptgeschäftsstraße von Peking, Hsi Tan, dem Zentrum der widersprüchlichen Plakate und der Sensationsgeschichten, sieht man die Japaner nachts spazierengehen, in -der einen Hand eine Taschenlampe und in der anderen ein Mikrophon. Jedem folgt langsam ein Wagen. Sie diktieren die Texte der Plakate ihren Kollegen in den Wagen. Dort werden sie gleich getippt und verkünden kurz darauf der Welt die neuesten Episoden der Revolution. Sie ist -- wie die offiziellen Artikel jeden Tag verkünden -- »etwas Noch-nie-Dagewesenes«.