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FRANKREICH Der Grat

Ein Schatten fällt auf die linke Regierung: Die Arbeitslosigkeit überschritt die Zwei-Millionen-Grenze. *
aus DER SPIEGEL 52/1983

Premierminister Pierre Mauroy stammt aus dem flachen Norden Frankreichs, doch die Bilder für seine Sprache holt er sich gern aus bergigen Gegenden: etwa einen seiner Lieblingsbegriffe, den »Zwei-Millionen-Grat«. Damit bezeichnet der sozialistische Regierungschef die Obergrenze der Arbeitslosigkeit, die Frankreich auf keinen Fall überschreiten dürfe.

Zwei Jahre lang ging die Gratwanderung gut, doch jetzt hat sich Mauroy verstiegen. Ende November wurden erstmals in Frankreich weit über zwei Millionen Arbeitslose gemeldet, 3,1 Prozent mehr als im Vormonat. Und der Weg weist weiter steil nach oben.

Selbst die Regierung scheint den Trend jetzt für unabwendbar zu halten. Nach langem Zögern gestattete sie dem Automobilhersteller Peugeot, bei seiner Tochtergesellschaft Talbot 1905 Mitarbeiter zu entlassen. Das sind zwar tausend weniger, als die Firmenleitung beantragt hatte, doch dazu kommen noch fast 4000 vorzeitige Pensionierungen.

Zum ersten Mal, seit die Linke in Frankreich an der Macht ist, hat sie damit die Beschäftigungspolitik der wirtschaftlichen Wirklichkeit unterworfen. Peugeot mit seinen Töchtern Citroen und Talbot geriet in den vergangenen vier Jahren tief in die roten Zahlen: rund acht Milliarden Franc Verlust.

Im Sommer 1978, als Chrysler-France an Peugeot überging, hatte dessen Marktanteil noch bei 10,2 Prozent gelegen. Aus den Chrysler-Autos wurden Talbots, und deren Marktanteil in Frankreich sank kontinuierlich bis auf gegenwärtig 4,5 Prozent. Vor einem halben Jahr kündigte die Peugeot-Direktion den Abbau von 7371 Arbeitsplätzen innerhalb der Firmengruppe an.

Der pragmatische Wirtschaftsminister Jacques Delors schien die Notwendigkeit einzusehen: »Die Sanierung führt über die Streichung mehrerer tausend Arbeitsplätze.« Doch seine Ministerkollegen und die Gewerkschaften stemmten sich gegen den Schrumpfungsprozeß.

Den Gewerkschaften ging es vor allem darum, sich gegen die Familie Peugeot, ein Symbol des französischen Kapitalismus, durchzusetzen. Der Regierung lag daran, die magische Grenze von zwei Millionen Arbeitslosen nicht sehr zu überschreiten.

Die war nämlich der Stolz der Linken. Seit Januar 1982 war die Zahl der Arbeitslosen in Frankreich ziemlich konstant geblieben, während sie in der Bundesrepublik besonders 1982 stark anstieg. Als im Dezember 1982 die Arbeitslosigkeit in Frankreich gar um 1,4 Prozent sank, verkündete Premierminister Mauroy siegessicher: »Wir haben eine erste Schlacht gewonnen.«

Jetzt wurde das »Ende der Illusionen« (so die linke »Liberation") offensichtlich. Sie konnten nur deshalb so lange blühen, weil die Regierung den Franzosen lange etwas vorgemacht hatte. Sie zauberte dank diverser teurer Maßnahmen Arbeitslose aus der Statistik heraus, besorgte ihnen aber keinen neuen Job.

Der kosmetische Effekt wurde vor allem mit Hilfe von »Solidaritätsverträgen« erreicht: Unternehmen, die solche Arrangements mit der Regierung unterschrieben, konnten Mitarbeiter zwischen 55 und 60 Jahren in den vorzeitigen Ruhestand schicken, wenn sie dafür jugendliche Arbeitslose einstellten. So wurde die Zahl der Arbeitslosen um etwa 250 000 Personen reduziert.

Zusätzlich gerieten an die 300 000 Jugendliche zwischen 16 und 25 ohne Arbeitsplatz erst gar nicht in die Statistik. Der Staat finanzierte ihnen kurze, oft wenig ergiebige Praktika, die ihnen nach der bisherigen Erfahrung zumeist keinen Weg ins Berufsleben öffneten.

So hatte Gaullistenführer Chirac wohl recht, als er die Zahl der Arbeitslosen bei 2,6 Millionen sah - eine halbe Million über der amtlichen Angabe.

Auch amtlich werden die zweieinhalb Millionen bald erreicht sein. Die Statistikbehörde Insee gibt die Zahl der von Mitte 1983 bis Mitte 1984 allein in der Industrie verlorengehenden Arbeitsplätze mit 200 000 an.

Bei Citroen, der zweiten Peugeot-Tochter, sollen in den nächsten Monaten 3000 Arbeitsplätze abgebaut werden. Gleiche Unbill droht einer Reihe anderer staatlicher und privater Betriebe. Beim staatlich kontrollierten Mineralölkonzern Elf-Aquitaine stehen 2000 Arbeitsplätze zur Disposition. Eine Katastrophe bahnt sich bei der Bergbau-Monopolgesellschaft Charbonnages de France an, wo rund 7000 Mann entlassen werden sollen. In der 1981 verstaatlichten Stahlindustrie ist gar von Zehntausenden bedrohten Arbeitsplätzen die Rede, ähnlich bei den Werften.

Premier Mauroy wehrt sich zwar noch dagegen, daß nun auch in Frankreich die Arbeitslosigkeit wieder steigt. »Ich werde keine Politik akzeptieren, welche die Arbeitslosigkeit verschlimmert«, versicherte er - als ob er seine eigene Politik desavouieren wolle.

Denn seit vergangenem März, als die Regierung in Paris von einer Politik der Ausgabenfreude auf Austerität umschaltete, waren die Folgen klar: weniger Nachfrage, gedämpfte Konjunktur und damit mehr Arbeitslose. Eine Abkehr von diesem Kurs steht nicht zur Debatte.

Immer lauter melden aber die Gewerkschaften Widerstand an - wie jetzt bei Talbot. Der kommunistische Arbeitsminister Jack Ralite hielt ihnen zwar entgegen, es handle sich nicht um Entlassungen, sondern um »ein Ausscheiden aus dem Unternehmen«. Doch die Betroffenen, bei Talbot zu 80 Prozent Nordafrikaner, wollten von solchen Spitzfindigkeiten nichts wissen.

Als ein Sprecher der kommunistisch gelenkten Gewerkschaft CGT die von der Regierung abgesegnete Regelung als »Konstruktive Öffnung« begrüßte, erntete er Protest. Seitdem heißt die Forderung der CGT: »Kein Arbeitsloser, kein Arbeiter auf der Straße!«

Die Firmenleitung aber verschickte, von der Regierung gedeckt, schon am Montag voriger Woche die Entlassungsbriefe.

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