Der Griff in die eigene Tasche
Hinter den derzeit geltenden Sozial- und Steuergesetzen entdeckte der Wissenschaftler das Bild eines seltsam gespaltenen Menschen: »Der Buchhalter Meier« gelte bei den staatlichen Instanzen -- so spottet der Frankfurter Wirtschaftswissenschaftler Wolfram Engels -- »in seiner Arbeitnehmereigenschaft« als »eine edle Lichtgestalt, allerdings so dumm, daß er seine Interessen selbst nicht wahrnehmen kann«. Kaufe er aus seinen Ersparnissen aber ein paar Aktien oder Grundstücke, dann gelte er »für diesen Teil seiner Person« als »ein raffinierter Finsterling, den zu schädigen eine soziale Wohltat ist«.
Das mag polemisch überspitzt sein, aber Tatsache ist: Das Steuerrecht, das Arbeitsrecht, die gesamten staatlichen Eingriffe zur Absicherung der Bürger gegen Risiken wie Krankheit, Alter oder Einkommensverluste sind geprägt von einer merkwürdigen Doppelgleisigkeit.
Da werden etwa die Einkommen aus unselbständiger Arbeit steuerlich anders erfaßt und belastet als die Einkünfte aus unternehmerischer Tätigkeit und Kapital. So muß ein westdeutscher Bürger (verheiratet, ein Kind), der 1980 rund 35 000 Mark im Jahr bezieht (das entspricht etwa dem durchschnittlichen Einkommen aus Arbeitnehmertätigkeit) und beim Finanzamt keine besonderen Werbungskosten, keine einzeln nachzuweisenden Sonderausgaben und keine außergewöhnlichen Belastungen geltend machen kann, genau 3206 Mark an Einkommensteuer bezahlen.
Ein Bürger gleichen Familienstandes und exakt gleicher Einkommensklasse, der seine Einkünfte aus Kapitalvermögen zieht, muß 3392 Mark Einkommensteuer an den Fiskus abführen, also 5,8 Prozent mehr als der Arbeitnehmer mit demselben Verdienst. Wer sein Geld als Gewerbetreibender, etwa als selbständiger Handwerker oder Händler, verdient und nach Abzug aller Betriebsausgaben 35 000 Mark brutto übrigbehält, muß von diesem Betrag eine noch größere Summe an die Staatskasse abgeben: 3562 Mark, mithin 11,1 Prozent mehr als ein genausoviel verdienender Bürger in abhängiger Stellung (der Verdacht, daß Selbständige den Fiskus öfter bemogeln, kann und darf kein Grund für eine höhere Steuerbelastung sein -- jedenfalls nicht in einem Rechtsstaat, in dem Mogelei nicht pauschal vermutet werden darf, sondern im Einzelfall nachgewiesen werden muß).
Der Selbständige, der nach den unerfindlichen Ratschlüssen des Gesetzgebers und der Finanzgerichte nicht als Gewerbetreibender, sondern als etwas Feineres, als freiberuflich Tätiger nämlich, gilt, wird dagegen nicht so hoch belastet: mit dem seltsamen Ergebnis, daß ein selbständiger Maurermeister höhere Steuern zahlt, weil er vom Fiskus unter dem Rubrum »Gewerbetreibender« eingestuft wird, als ein Architekt, der das gleiche verdient, aber als Freiberufler gezählt wird: Bei 35 000 Mark Einkommen muß ein solcher Freiberufler derzeit 3298 Mark Einkommensteuer abführen -- 2,9 Prozent mehr als ein gleichviel verdienender Arbeitnehmer, aber 7,4 Prozent weniger als ein sogenannter »Bezieher von Einkünften aus Gewerbebetrieb« (siehe Graphik Seite 78).
Immer häufiger argwöhnen Wissenschaftler, daß im Steuerrecht der Gleichheitsgrundsatz zunehmend verletzt werde. »Das Steuerrecht«, so schrieb jüngst der Kölner Steuerjurist Klaus Tipke, »entwickelt sich unter dem bestimmenden Einfluß von Parteien und Verbänden eher in die Richtung einer Art von Klassen-Steuerrecht.«
Und nicht nur der Fiskus behandelt die einzelnen Berufsstände durchaus ganz verschieden: Da wird auch das Risiko, daß ein Bürger seine bisherige Einkommensquelle verliert, vom Staat ganz unterschiedlich gesichert.
Ein Arbeitnehmer, der seine Stellung einbüßt, bezieht bis zu einem Jahr lang 68 Prozent seines vorher erzielten Nettolohnes als Arbeitslosengeld aus der staatlichen Arbeitslosenversicherung, für deren Zusagen die Steuerzahler haften, wenn das Vermögen und die laufenden Beitragseinnahmen nicht mehr ausreichen sollten: Für einen verheirateten Arbeitslosen, dessen Ehepartner nicht erwerbstätig ist, beträgt das Arbeitslosengeld derzeit maximal 1987 Mark im Monat, und das steuer- und auch sozialabgabenfrei, denn die Arbeitslosenversicherung zahlt solange die Krankenkassen- und Rentenversicherungsbeiträge weiter.
Selbst der Arbeitnehmer, der länger als ein Jahr stellungslos ist (oder vor dem Verlust seines Arbeitsplatzes nicht so lange beschäftigt war, daß er Anspruch auf Arbeitslosengeld erwerben konnte), bezieht von der voll aus allgemeinen Steuermitteln finanzierten Arbeitslosenhilfe oft noch ein relativ hohes Einkommen: 58 Prozent des vorher bezogenen Nettolohnes, derzeit maximal 1695 Mark netto im Monat für einen Verheirateten.
Ein Selbständiger (etwa ein alter Einzelhändler), der seine Existenz verliert, oder ein Aktionär (etwa ein unterdes arbeitsunfähiger und deshalb von früher angehäuften Ersparnissen lebender Ex-Freiberufler), dessen Wertpapiere plötzlich nichts mehr abwerfen und nichts mehr wert sind, ist auf die Sozialhilfe angewiesen. Und deren S.76 Sätze liegen zumindest unterhalb der höchstmöglichen Arbeitslosenhilfe.
Da werden Aufstiegschancen ganz unterschiedlich gefördert. Ein Facharbeiter, der sich zum Meister qualifizieren und dann selbständig machen möchte, wird ganz anders behandelt als sein Kollege, der zwar auch die Meisterprüfung ablegen, aber weiterhin Arbeitnehmer bleiben will.
Derjenige, der abhängig beschäftigt bleiben möchte, also mit Sicherheit keinen neuen Arbeitsplatz schaffen kann, wird -- nach der seltsamen Logik des Arbeitsförderungsgesetzes -- vom Staat während seines Meisterlehrgangs kräftig unterstützt. Der andere, der sich selbständig machen, also mindestens einen, nämlich seinen neuen Arbeitsplatz schaffen will, bekommt gar nichts. (Da andererseits die Existenzgründung durch verbilligte Kredite gefördert werden soll, ist diese Regelung, die den Erwerb der dazu nötigen Qualifikation hemmt, besonders absurd.)
Warum das so ist, warum der Staat, der jeden Schönheitsoperateur bei der Qualifikation für sein Metier kräftig (durch Übernahme der Kosten für das teure Medizinstudium) subventioniert und Managementlehrgänge mitbezahlt, ausgerechnet die typische Aufstiegsmöglichkeit der Facharbeiter nicht fördert -- das ist ein Rätsel.
Glauben die Politiker, sie hätten die väterliche Pflicht, Facharbeiter durch diskriminatorische Steuer- und Subventionsmaßnahmen von der Gründung einer selbständigen Existenz und dem damit verbundenen Risiko abzuhalten? Oder sind solche Gesetze Gefälligkeiten für die bereits etablierten Firmenchefs, die durchaus ein Interesse daran haben, daß tüchtige Fachkräfte in abhängiger Stellung bleiben und sich nicht etwa gar zu Konkurrenten entwickeln? Niemand weiß es.
Gewiß ist nur: Mit dem Rechtsstaatsprinzip, das eine gleiche Behandlung gleichartiger Fälle vorschreibt, ist eine derart diskriminatorische Steuer- und Subventionspolitik schwerlich vereinbar. Und überdies richtet sie zumindest auf Dauer schwere ökonomische Schäden an.
Vor allem die soziale Rechtspolitik birgt noch weitere Kuriositäten: Ein einzelner Arbeitnehmer kann -- wenn ein Betrieb sich mangels ausreichender Kundschaft verkleinern muß -- unter bestimmten Voraussetzungen noch ohne Abfindung entlassen werden. Allerdings ist der Betriebsleiter verpflichtet, bei der Auswahl der zu Entlassenden betriebsfremde, nämlich »soziale Gesichtspunkte« zu berücksichtigen, also bestimmte Arbeitnehmer zu diskriminieren. Zu den sozialen Gesichtspunkten zählen nach der bisherigen Rechtsprechung auch die Einkünfte und der Gesundheitszustand der Familienangehörigen von Arbeitnehmern sowie die Höhe des Vermögens von einzelnen Belegschaftsmitgliedern --Umstände also, die mit dem Arbeitsverhältnis nichts zu tun haben und den Arbeitgeber wahrhaftig nichts angehen, die er aber auf Verlangen des Betriebsrats herausfinden, also ausspähen muß.
Werden mehrere Arbeitnehmer wegen einer notwendigen Betriebseinschränkung gleichzeitig entlassen, hat jeder Anspruch auf einen vergoldeten Abschied -- im Rahmen eines Sozialplans. (Sozialpläne werden nach der Auffassung mancher Rechtsgelehrten und Richter bereits fällig, wenn in einem Betrieb mit 21 bis 60 Arbeitnehmern sechs entlassen werden müssen.)
Diese Vorschrift gilt selbst dann, wenn die Entlassenen leicht, bequem und sofort einen neuen Arbeitsplatz finden. Und sie gilt trotz der Tatsache, daß die Auszahlung eines Sozialplans manchen Betrieb, der mit kleinerer Belegschaft durchaus noch eine Überlebenschance hätte, in die Pleite treiben und damit auch jene Arbeitsplätze vernichten kann, die anderenfalls noch zu halten gewesen wären.
Logisch ist das alles nicht. Denn: Leidet etwa ein Arbeitnehmer mehr, wenn außer ihm selber noch fünf andere entlassen werden? Der Volksmund zumindest, der da sagt, geteiltes Leid sei halbes, weiß es anders.
Und: Ist der gesamten Arbeitnehmerschaft das Abschiedsgeschenk an Entlassene den Preis wert, den es kostet? Wahrscheinlich nicht, denn der Preis ist hoch.
Die Aussicht bei widriger Marktlage und Entlassungsbedarf hohe Zusatzkosten zu haben, steigert das Unternehmensrisiko. Folglich werden Investoren auch nur bereit sein, Kapital in Produktivvermögen zu stecken, wenn die Risikoprämie höher ist als sonst, und das bedeutet: Das Kapital bekommt tendenziell mehr vom erwirtschafteten Gesamteinkommen, die Arbeit dagegen weniger, die Lohnerhöhungsspielräume werden enger (und wenn die Gewerkschaften S.78 dennoch mehr herauszuholen versuchen, steigt die Arbeitslosigkeit).
Das Faktum, daß so viele (meist neuere) Gesetze denjenigen Bürger privilegieren, der sich in einer größeren Menge aufhält -- zu Lasten der anderen, die vereinzelt sind oder einer nur kleinen, dazu schwer organisierbaren Gruppe angehören, die Tatsache, daß so viele Sozialmaßnahmen den damit Beschenkten am Ende mehr Kosten als Nutzen eintragen, legt bedrückende Fragen nahe: Betrachten die Politiker, die all diese Gesetze beschlossen, die Bürger etwa nur noch als Herde? Nehmen sie nur noch Masse wahr?
Genauer: Schätzen auch die demokratisch gewählten Politiker von heute das Volk ähnlich ein wie die autokratischen Herrscher von gestern und vorgestern: als tumbe Menge »kläglicher Geschöpfe«, die jeden anbeten, der ihnen mehr Brot verheißt (wie Dostojewski den Großinquisitor sagen ließ), ohne zu fragen, woher er es nimmt? Halten sie die Bürger für vergleichbar mit »dummen Kindern«, die ihre Freiheit, sich selber ein Urteil zu bilden, als »furchtbare Last« empfinden, die deshalb leicht mit schön klingenden Schlagworten zu überzeugen sind?
Und das Wahlvolk, in dessen Interesse das alles gewiß nicht sein kann, was ist mit dem? Warum muckt es nicht auf? Warum scheint es den Sprüchen der Politiker und der Parteien, die gern auch ihr allerfragwürdigstes Gesetzeswerk noch zu einer sozialen Großtat verklären, zu glauben? Ist jener Satz von Abraham Lincoln (US-Präsident von 1861 bis 1865), wonach es unmöglich sei, langfristig und »ständig das ganze Volk zum Narren zu halten«, vielleicht doch nicht (mehr) wahr?
Ein in Deutschland derzeit noch wenig beachteter Zweig der Politikwissenschaft versuchte eine Antwort zu finden. Es ist die sogenannte »ökonomische Theorie der Politik«, die von dem Österreicher Josef Alois Schumpeter begründet und während der 60er Jahre von amerikanischen Forschern weiterentwickelt wurde, deren eigentlicher Vater freilich Karl Marx ist. Denn Marx hat »das bedeutende wissenschaftliche Verdienst«, daß er als erster den Staat und die Politiker »aus den Wolken geholt hat, hinunter in die Sphäre der realistischen Analyse« (Schumpeter).
Wie wirklichkeitsnahe politische Analysen auszusehen haben, definierte Schumpeter, der die Marxschen Ideen wieder aufgriff, so: »Politische Maßnahmen ... müssen von des Politikers Interesse her verstanden werden.«
In der Regel sind »politische Parteien ein Team von Leuten, die das Regierungsamt allein wegen des damit verbundenen Einkommens, der Macht und des Ansehens anstreben« -- so die nüchterne Diagnose des amerikanischen Wissenschaftlers Anthony Downs, dessen Schriften zur ökonomischen Theorie politischer (vor allem wirtschafts- und sozialpolitischer) Aktionen in der Fachwelt unterdes als klassische Werke gelten.
Um die begehrten Ämter zu behalten oder zu bekommen -- so Downs weiter --, versuchen Politiker mit Ankündigung oder Durchführung solcher Maßnahmen, die den Bürgern geldwerte Vorteile bringen (oder zu bringen scheinen), Wahlstimmen zu ergattern.
Selbst die Ideologien, die Prinzipien, die Parteien vor sich her tragen, seien -- das ist die These der Forscher -- nur Mittel zum Zweck, etwa vergleichbar den »Warenzeichen der Artikel, die ein Warenhaus verkauft« (Schumpeter); genauso wie ein Kaufladen-Besitzer ein bestimmtes, für ihn charakteristisches Sortiment führt, nicht weil er die Versorgung der Bürger mit diesen Dingen als seinen eigentlichen Geschäftszweck ansieht, sondern weil er glaubt, damit die Kundschaft besser anlocken, also Gewinne leichter maximieren zu können -- so sei es auch mit den Grundsätzen der modernen Parteien.
Wie ein eingeführtes Markenzeichen auf einer Ware der Kundschaft den Glauben vermitteln soll, es sei unnötig, die (damit angeblich schon hinreichend bewiesene) Qualität des Produktes immer wieder kritisch zu testen -- so sollen die schlagwortartigen Ideologien den Wähler dazu bewegen, nicht etwa die konkreten politischen Maßnahmen oder Vorhaben der Parteien kritisch zu überdenken, sondern zu glauben, wer für das eine oder andere schön klingende (aber nie sehr genau definierte) Modell einer guten Welt eintrete, der werde es schon richten.
Und das Verhalten der Wähler, die dabei häufig genug ihre Stimme für recht zweifelhafte Geschenke und recht schwammige Schlagworte hergeben, wird von den Wissenschaftlern so erklärt: Die Bürger, die in ihrem Beruf und bei ihren privaten Kaufentscheidungen durchaus umsichtig sind, sich informieren und abwägen, bevor sie entscheiden, verwenden »auf die Meisterung eines politischen Problems weniger disziplinierte Anstrengung als auf ein Bridgespiel« (Schumpeter).
Der US-Ökonom Kenneth Arrow, der für die Erforschung der Probleme, die bei demokratischen Abstimmungen entstehen, den Nobelpreis bekam, erklärte, warum ein derartiges Verhalten der Bürger -- vom Standpunkt der einzelnen aus -- sogar völlig vernünftig sein kann: weil in großen Demokratien »der Einfluß einer einzelnen Stimme so klein ist« und jeder Wähler das wisse, lohne es sich für ihn nicht, sich ganz genau über die Folgen von politischen Maßnahmen zu informieren.
Denn Informationen kosten Zeit; sich Kenntnisse über das, was in der Politik geschieht, zu verschaffen und logisch richtige Schlußfolgerungen daraus zu ziehen -- das kostet sogar sehr viel Zeit, vor allem dann, wenn sich die Politik in alles und jedes einmischt. Und Zeit ist Geld (oder Verzicht auf Muße). Und je ähnlicher die Politik der miteinander konkurrierenden Parteien ist oder dank ähnlicher Schlagworte zu sein scheint, um so weniger lohnen sich für den Bürger diese Informationskosten.
Die Folge ist eine absurde Situation: »Für jeden einzelnen ist es vernünftig, seine Investitionen (an Zeit und Geld) für politische Informationen zu minimieren, obwohl die meisten Bürger erheblich davon profitieren könnten, S.80 wenn die gesamte Wählerschaft gut informiert wäre (Downs).«
Was für jeden einzelnen vernünftig ist, erweise sich mithin für die gesamte Gesellschaft als unvernünftig, ja schädlich. Die Wähler seien dadurch leicht zu betrügen und mit den Techniken der Reklame zu überreden und zu beschwatzen -- wobei die politische Reklame, wie Schumpeter aufklärte, die Bürger viel nachdrücklicher manipulieren kann als jede Wirtschaftswerbung. Schumpeter: »Das Bild des hübschesten Mädchens, das je gelebt hat, wird sich auf Dauer als machtlos erweisen, um den Absatz einer schlechten Zigarette aufrechtzuerhalten.«
Denn jeder könne überprüfen, ob das einmal gekaufte Produkt wirklich den Werbesprüchen entspricht; jedoch »eine entsprechende wirksame Sicherung« gegen reklametechnische Täuschungsmanöver »im Fall politischer Entscheidungen gibt es nicht«. Vor allem deshalb nicht: Die unangenehmen Folgen einer schlechten Zigarette kann kein noch so geschickter Werber dem Ausland, einer Weltkrise oder ähnlichem anlasten.
Ein Politiker jedoch kann die schädlichen Folgen eines Gesetzes, die ohnedies meist nicht sofort, sondern erst nach einiger Zeit sichtbar werden, dank der Informationsunlust der Bürger leicht auf derartige Ursachen schieben.
Und deshalb bestehe, so Schumpeter, durchaus die Gefahr, daß das ganze Volk zumindest immer wieder »kurzfristig zum Narren gehalten und schrittweise zu etwas verführt werden kann, was es nicht eigentlich will«.
Und diese Gefahr sei dann riesengroß, wenn der politische Sektor vor allem solche Menschen anziehe, die nirgendwo sonst zu Erfolg kommen könnten (die mithin um jeden Preis ein politisches Amt anzustreben versuchen) und deshalb völlig bedenkenlos den weiten Spielraum, den Politiker haben, auch nutzen. Wirtschaft und Gesellschaft erlitten ganz gewiß schwere Schäden, wenn sich der Einfluß der Politik so weit ausdehne, »daß fast alle menschlichen Belange« der Bürger zum Gegenstand des politischen Kampfes um Ämter werden und dann ausgeliefert sind an die schnellatmige, stets nur am wiederum nächsten Wahltermin orientierte Strategie von Parteien, für die ganz naturgemäß ein kurzer Erfolg viel mehr zählt als ein langer Schaden.
Die Analyse der Politik und ihrer Akteure mit den Handwerkszeugen der Logik und der Ökonomie klingt böse, fast zynisch -- und gleichwohl ziemlich plausibel. Denn die Politik, insbesondere die Sozial- und Wirtschaftspolitik, scheint tatsächlich auch hierzulande so und nicht edler und schöner zu funktionieren.
Die Bürger sind so, wie von den Wissenschaftlern theoretisch beschrieben: klug, meist gut informiert in all ihren privaten Bereichen und dort auch nicht ganz leicht zu übertölpeln von Marktschreierei. In politischen Dingen jedoch ist ihre Kenntnis gering.
Bei der Auswahl und beim Kauf langlebiger Konsumgüter pflegen sich fast alle erwachsenen Deutschen ziemlich genau und sorgfältig zu informieren -- vor dem Kauf einer Stereoanlage oder eines Farbfernsehers verschaffen sich 97 Prozent genauere Kenntnisse über Qualität und Preis der verschiedenen Produkte (durch das Studium von Testberichten, Prospekten, durch Anfragen in Geschäften). Vor dem Kauf eines Autos machen sich nach den Erfahrungen der Marketing-Abteilung vom Volkswagenwerk 84 Prozent durch Studium von Prospekten klug über komplizierte technische Daten, 60 Prozent lesen Testberichte in Autozeitschriften.
Bei der Auswahl ihrer politischen Repräsentanten dagegen mühen sie sich wenig bis gar nicht um einigermaßen exakte Informationen. Zwar beteiligen sich seit Bestehen der Bundesrepublik im Schnitt 87 Prozent der wahlberechtigten Bürger an den Bundestagswahlen, doch viel Zeit auf das Erwerben von politischen Kenntnissen verwenden sie nie. Vor allen bisherigen Bundestagswahlen lag die Zahl derjenigen, die sich »nicht besonders« oder »gar nicht« für Politik interessierten, nach den Ermittlungen des Allensbacher Instituts für Demoskopie bei über 50 Prozent.
Und selbst bei jener Minderheit, die sich politisch interessiert, gibt es Indizien, daß die Wißbegier ziemlich begrenzt bleibt, daß auch in diesem Bevölkerungsteil gilt, was Schumpeter einmal so beschrieb: »Normalerweise teilen die großen politischen Fragen im Seelenhaushalt des typischen Bürgers den Platz mit jenen Mußestunden-Interessen, die nicht den Rang von Liebhabereien erreicht haben, und mit den Gegenständen der verantwortungslosen Konversation.«
Nach den Ermittlungen der Allensbacher Demoskopen gibt es nur wenige, die sich über bestimmte politische Fragen besonders eingehend informieren (26 Prozent der Bevölkerung). Das Emnid Institut fand heraus, daß 63 Prozent der Bürger meinen, man könne sich in der Politik ohnedies nicht zurechtfinden, weil das meiste hinter den Kulissen passiere.
Und so können die Politiker und die Parteien, ähnlich wie im (der Praxis schon abgelauschten) Modell der Forscher beschrieben, an irrationale Vorurteile, an Gefühle, an unterschwellige Ängste appellieren und manches Mißmanagement vor ihren Wählern kaschieren. Und weil sie es können, tun sie es auch.
Freilich, das war immer schon so in allen großen Demokratien. Neu ist hier und heute nur dies: Langsam scheinen jene Sicherungen durchzuglühen, die dafür sorgen könnten, daß Wirtschaft und Gesellschaft, aller politischen Ignoranz der Bürger und aller gewitzten Werbetechnik der Parteien und Parlamentskandidaten zum Trotz, keinen größeren Schaden erleiden. Es sind jene Sicherungen, die nach der alten liberalen Tradition Europas (und der USA) ohnedies als unabdingbar gelten, um rechtsstaatliche Demokratien vor dem Zerfall zu bewahren, vor der S.82 schleichenden Umwandlung in einen totalitären, nur dem Namen nach noch demokratischen Obrigkeitsstaat.
Zu diesen Sicherungen des Rechtsstaats und der Demokratie gehörte seit je, daß Politiker und Parteien die Verfassung so respektieren, wie Verfassungen immer gemeint sind -- als eine Schranke, die dem Staat auferlegt ist, als ein Schutzschild der Bürger gegen amtliche Anmaßung und gegen hoheitlich verfügte Beglückungsversuche, und seien sie auch noch so nett gedacht und noch so wohlgemeint.
Dazu gehört, daß ein großer Teil vor allem der wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidungen kleineren Einheiten (also etwa die Finanzierung von Arbeitsplatz-Rettungsversuchen den Gemeinden) und autonomen Institutionen (also etwa die Rentenversicherung den Selbstverwaltungsorganen) überlassen bleibt. Denn dann ist die Verschleierungsmöglichkeit der Politiker kleiner, und die Informationsbereitschaft der Bürger wächst erfahrungsgemäß, wenn ihre nächste Umgebung berührt ist.
Dazu gehört, wie Schumpeter schon betonte, daß »die Leute, die die Parteimaschine bedienen, ins Parlament gewählt werden und zu Kabinettsposten aufsteigen, von hinreichend hoher Qualität« sind und die mangelhafte Kontrolle von seiten des Volkes durch eine Art »demokratischer Selbstkontrolle« ersetzen.
In der großen und in der kleinen Politik von heute jedoch schimmert ganz anderes auf. Da hat sich zunächst das Verfassungsverständnis völlig gewandelt.
Man verstehe dort die Verfassung nicht mehr als »Schranke« für politisches Handeln, so beobachtete der Kölner Politikwissenschaftler Ulrich Matz, »sondern als ein durch die Politik erst zu erfüllendes Programm«.
Vor allem das so vieldeutige und so viel ge- wie mißbrauchte Wörtchen »sozial«, das im sonst recht präzisen Grundgesetz eingestreut ist, dient oft als Vorwand, um die Verfassung, die eigentlich der Politiker Macht-Möglichkeiten einschränken soll, umzudeuten in einen Freibrief für eine stete Mehrung der Macht in Politiker-Händen.
Immer häufiger wird ausgerechnet das Sozialstaatsprinzip, von dem niemand ganz genau weiß, was es denn sein soll oder was es sein könnte, als »Angelpunkt der ganzen Verfassung« (Matz) interpretiert, dem alle anderen Teile, alle Grundrechte insbesondere, zu- und unterzuordnen seien.
Und die Konsequenz lautet dann, daß die Freiheit und damit die Würde der Bürger nicht etwa, wie alle Verfassungsväter der westlichen Welt einmal glaubten, schon naturgegeben, aber vom Staat stets bedroht sei und deshalb nur durch politische Macht-Abstinenz gewährleistet werden könne. Statt dessen heißt nun das Credo, Bürger-Freiheit und Menschenwürde könnten erst durch eine im Prinzip unbegrenzte Vielfalt sozialstaatlicher Eingriffe hergestellt werden.
Daß die Verfassung vor allem Verbote enthält für Regierende, daß sie den Politikern Respekt abverlangt für die Autonomie aller Bürger, das wird verdrängt. Statt dessen werden Aufträge zur Beglückung des Volkes in die Schriften hinein- und wieder herausgelesen.
So behaupten etwa die SPD-Politiker Herbert Ehrenberg und Anke Fuchs, es gebe den »Verfassungsauftrag«, die »praktische Freiheit des kleinen Mannes« durch staatliche Maßnahmen »tatsächlich zu verwirklichen«. (Auch die anderen, die Konservativen in CDU und CSU etwa, lesen gern aus der Verfassung Ziele, die noch durch staatliche Eingriffe zu verwirklichen seien, heraus -- nur andere, etwa den Auftrag zu einer weit überbordenden Familien-Subventionierung.)
Freiheit und Würde als gnädig verteiltes Sozialgeschenk vom gütigen Staat, etwa gar noch wie alle sozialen Geschenke davon abhängig, wieviel Geld gerade wieder einmal in den Finanzkassen klimpert -- das war nicht die Vorstellung der Vorväter, die für Verfassungen kämpften; das bietet keinen automatischen Schutz mehr für die Bürger von vielköpfigen Demokratien, die sich nicht stets und ständig über Politik schlau machen mögen; das hat die Tür weit geöffnet für jene riesige Zahl angeblich sozialer Geschenke, die doch nur von den damit beglückten Bürgern selbst bezahlt werden müssen, die deswegen nur eine Verletzung der Freiheit sind, der Freiheit nämlich, das selbst verdiente Geld auch nach eigenem Gusto ausgeben zu können.
Und dies alles wurde noch mehr gefördert durch einen schleichenden Abbau des föderalen Systems und durch stetes Herummodeln der Politik an den Sozialversicherungen, an jenen Institutionen also, für deren Aufgabe, Bestand S.84 und Solidität gesetzgeberische Ruhe eher zuträglich ist als hektische Aktivität.
Die Macht der Politiker, unsinnige, dazu zu teure Sozialgesetze zu machen, wäre wesentlich kleiner, wenn vor allem die Sozialversicherungen, so wie es die Liberalen schon zur Zeit Bismarcks verlangten, wirklich autonome, von den Versicherten selbst geführte Institutionen würden, wenn also auch im Bereich des Sozialstaats das föderale Prinzip der Macht-Teilung wieder und mehr Geltung bekäme.
Die Rentenversicherung beispielsweise kann ihren Zweck, die langfristige Garantie der Altersversorgung, am besten erfüllen, wenn sie der Selbstverwaltung durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber allein überlassen bliebe, die beide kein Interesse an unsolid hohen Zusatzausgaben und an exorbitanten Beitragserhöhungen haben können (dazu müßten die Staatszuschüsse zur Rentenversicherung allerdings gestrichen und auf die Beiträge umgelegt werden; da 90 Prozent aller Steuerzahler auch in der Rentenversicherung sind, die Staatszuschüsse mithin vom gleichen Kreis aufgebracht werden, wäre das ohnedies sinnvoll).
Doch das Prinzip, wonach die (Zentral-)Regierung nicht alle Staatsmacht über jedes und jeden ausüben darf, sondern sie teilen soll auf föderalistische Art, das Prinzip also, das bei liberalen Staatslehrern immer als »wirksamste und geeignetste« Maßnahme (Lord Acton) galt, um den Rechtsstaat zu sichern, steht bei Politikern hierzulande nicht mehr in sehr hohem Kurs: Die Eingriffe, die Aufgaben, mithin die Machtbefugnisse der Bundesregierung sind in den vergangenen Jahren erheblich gestiegen, vor allem dadurch: Ein Großteil der Gemeinde- und Länderausgaben wird unterdes über die sogenannten Gemeinschaftsaufgaben vom Bund angeregt, also auch indirekt mitbestimmt.
Und all das -- das so seltsam gewandelte Verfassungsverständnis, die abnehmende Achtung vor dem föderalen Prinzip -- ist ein Indiz, daß sich zumindest in jener kleinen Personengruppe, die innerhalb der Parteien die Parlamentskandidaten auswählt, also lenkt und beeinflußt, wohl auch manches verändert hat. Es ist ein Indiz, daß dort anders als früher nicht mehr jene den Takt schlagen, die den bürgerlichen Idealen anhängen -- den Idealen der individuellen Autonomie, der Vertrags- und Koalitionsfreiheit, dem Ideal des sparsamen, dazu der Inflation feindlich gesinnten Staates, dem Ideal der Gerechtigkeit, der Gleichheit vor dem Gesetz, Idealen also, denen auch die Arbeiterschaft S.85 anhing und dies mit großer Wahrscheinlichkeit immer noch tut.
Es ist ein Zeichen, daß sich dort nun ein ganz anderer Kreis mit einer ganz anderen Haltung betätigt und (zumindest auch teilweise) durchsetzt -- ein Kreis, der die Gesellschaft und deren überkommene Ideale nicht mehr repräsentiert, sondern »ihr Gestalter, Formierer, Schmeichler oder Züchtiger« sein möchte, wie der Freiburger Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis bemerkte.
Alle Parteien, »alle miteinander«, so Hennis, trieben der Versuchung zu, die Gesellschaft nach windigen, schnell ausgedachten Modellen willkürlich formen, ihr »durch Zielvorgaben das Korsett anpassen« zu wollen.
Schumpeter hatte einmal geschrieben, zu dieser Haltung, die stets zu einer gewaltigen Ausdehnung der politischen Zugriffe auf den privaten Lebensbereich der Bürger führt und immer einen Mangel an demokratischer Selbstkontrolle bedeutet, neigten vor allem Angehörige solcher Schichten, die selber und ganz »naturgemäß versuchen, auf Kosten des Staates zu leben«.
Zumindest was die größere der beiden Regierungsparteien anlangt, scheint die Vermutung belegbar zu sein. Unter jenem Viertel der SPD-Mitglieder, die nach einer 1976 angefertigten Untersuchung Funktionen und Mandate wahrnehmen oder aktiv an der Willensbildung mitarbeiten, »ist der Anteil der Beschäftigten im öffentlichen Dienst ... überdurchschnittlich« ("Sozialdemokrat-Magazin").
Überrepräsentiert sind auch die Jungsozialisten, von den 250 000 Aktiven stellen sie allein 14 Prozent (Anteil der Juso-Mitglieder an den gesamten Parteimitgliedern: acht Prozent). Vor allem junge Lehrer, Regierungsräte und sonstige öffentliche Angestellte, Studenten, also Leute mit viel freier Zeit und häufig genug auch fixen Ideen, haben mithin einen überproportional hohen Einfluß darauf, wer als Parlamentskandidat aufgestellt wird, und darauf, was er tut, sagt und läßt, denn er möchte ja meist auch beim nächsten Wahltermin wieder ihr Kandidat sein.
Mit schuld an der Neigung, Gesellschaft und Bürger mit immer wieder hastig erdachten Konzepten glücklicher, schöner, besser zu machen, ist auch eine seltsam wirklichkeitsferne Gesellschaftskritik, die seit einigen Jahren modisch ist, sich oft auch Wissenschaft nennt und von den Zuständen hier ein Bild malt, das einer mißlungenen Kreuzung aus dem Spanien des verblichenen Franco und dem von Elend geplagten Bagladesch gleichen mag, jedoch mit der hiesigen Wirklichkeit gar nichts gemein hat.
In den vergangenen Jahren erschienen ganze Berge von Schriften, in denen angeklagt wird, es gebe hier »die skandalöse Tatsache erheblicher Armut« (Johano Strasser) und »gewaltförmige Kontrollen in der Erwerbs-Sphäre« (der Hannoveraner Psychologe Peter Brückner).
Da wird behauptet, hier geschehe eine »Disziplinierung der Lohnabhängigen ... die an Effektivität der offenen terroristischen Disziplinierung im Faschismus durchaus vergleichbar« sei (ein »Kursbuch«-Autor namens Manfred Clemenz). Da wird dies System als inhuman gebrandmarkt und als rigide Klassengesellschaft.
Und das alles ist einfach nicht wahr und traf auch schon gestern und vorgestern nicht zu.
Hier muß niemand sich knechten lassen in den Fabriken -- und zwar nicht etwa, weil ein wacher Sozialstaat ihn schützte; die Gewähr dafür bietet schon ganz automatisch der Umstand, daß Freizügigkeit herrscht, daß Verkehrsmittel (im Verhältnis zum Einkommen relativ) billig und schnell sind, daß anders als zu Beginn der Industrialisierung regionale Arbeitgeber-Monopole auf den Arbeitsmärkten die Ausnahme und nicht mehr die Regel sind.
Denn das garantiert Arbeitnehmern (neben der Koalitionsfreiheit, die es ihnen ermöglicht, sich zu Gewerkschaften zusammenzuschließen) mehr Schutz vor Willkür als jeder staatliche Eingriff und als jede Veränderung der Gesellschaftsordnung. Denn das schafft den Werktätigen auf dem Arbeitsmarkt Wahlfreiheit; ein Betrieb mit üblem Klima und einem autoritären Boß wird deshalb tendenziell seine besten Kräfte immer schnell wieder verlieren. Gefährdet ist dies nun allerdings durch den Sozialstaat; denn die durch den Sozialen Wohnungsbau und die Eingriffe in das Mietrecht erhöhte Gefahr, an einem anderen Ort viel mehr Geld für das Wohnen ausgeben zu müssen, hemmt die Mobilität der Arbeitskräfte.
Auch sonderlich inhuman ist hier niemand und nichts -- schon gar nicht die Arbeitswelt, die angeblich des staatlichen Eingriffs zum Zwecke der Humanisierung in wachsender Weise bedarf. Westdeutschlands Arbeitsplätze zählen zu den bestausgestatteten auf dieser Welt. Allein zwischen 1966 und 1979 stieg die Summe, die Unternehmen für betriebliche Zusatzleistungen und für ein angenehmeres Arbeitsplatz-Umfeld ausgaben, von 24 Prozent des gezahlten Bruttolohns auf 36,4 Prozent.
Die Unternehmer taten das alles gewiß nicht ganz uneigennützig aus purer Liebe, sondern weil der Wettbewerb S.86 um qualifizierte Arbeitskräfte sie dazu zwang (die Gewerkschaften haben während der vergangenen Jahre im wesentlichen nichts Zusätzliches durchgesetzt, sondern vor allem nur die tarifliche Absicherung früher freiwillig gezahlter Leistungen). Aber was schließlich zählt, ist das Ergebnis.
Alle sozialstaatlichen Eingriffe in das Arbeitsrecht, die eine Verringerung der Belegschaft bei Absatz-Rückgang erschweren und damit das Risiko für Unternehmen erhöhen, können hier leicht den Rückschritt fördern. Denn sie mindern tendenziell die Investitionsbereitschaft, machen Kapital im Vergleich zur Arbeit relativ knapper und teurer -- mit dem Effekt, daß die Betriebe sich nicht mehr so arg um ihre Belegschaft mühen müssen und können.
Auch jene Behauptung, daß die Klassenschranken in der Gesellschaft kaum überwindbar seien, daß den Kindern aus sozial schwächeren Schichten die »Förderung und Motivierung« zum Aufstieg »durch das Elternhaus« (Bildungsbericht ''70 der Bundesregierung) fehle, scheint nicht ganz zu stimmen.
Gern zwar berichten auch empirisch forschende Soziologen in klagendem Ton, es gebe »eine Struktur der Privilegierung und der Unterprivilegierung, die ... durch die gesamte Gesellschaft hindurch wirkt« (der Mannheimer Soziologe Karl Ulrich Mayer). Doch die Zahlen, die dann zum Beleg für eine »krasse Ungleichheit« (Mayer) bei der Verteilung von Aufstiegschancen vorgelegt werden, zeigen ganz etwas anderes. Sie zeigen eine -- angesichts des Faktums, daß Familien häufig bestrebt sind, den eigenen Status an Sohn und Tochter weiterzugeben -- ganz erstaunlich mobile Gesellschaft.
Nach den Zahlen, die Soziologe Mayer aus einer Großerhebung des Statistischen Bundesamtes zog, hat nur eine Minderheit unter den Söhnen der obersten Schicht die Chance, den Status zu erben. Schon 1960, als der Staat sich noch nicht dauernd um alles sorgte, waren unter hundert Söhnen von Selbständigen nur 32 im gleichen Beruf wie ihr Vater tätig, 28 waren Arbeiter, 30 (meist mittlere) Angestellte oder Beamte geworden. Bei den Kindern von höheren Beamten und leitenden Angestellten war es ähnlich; nur 31 Prozent hatten den Status des Vaters geerbt, 15 Prozent waren selbständig geworden -- und die Mehrzahl, 53 von 100, war gesellschaftlich abgestiegen. Anfang der 70er Jahre war der Befund ähnlich.
Und die untersten Schichten hatten durchaus beachtlichen Aufstiegsmut und eine beachtliche Aufstiegschance: Mehr als 70 Prozent aller Söhne von ungelernten Arbeitern sind in den 60er wie in den 70er Jahren die gesellschaftliche Leiter nach oben geklettert -- gut zwei Drittel davon bis in die mittleren und höheren Angestellten- wie Beamtenpositionen, die dann, für die nächste Generation, wieder ein gutes Sprungbrett sind für weiteren Aufstieg.
Die oberste Schicht der höheren Beamten und leitenden Angestellten bestand 1960 zu 21 Prozent (1971: 22 Prozent) aus Abkömmlingen der gleichen Klasse. Der Rest kam aus anderen, im wesentlichen niedrigeren Schichten.
Die Chance, daß sich in nur zwei Generationen das oberste zum untersten kehrt (und natürlich auch andersherum), und das auf friedliche Weise, ist mithin nicht klein. Und ob es Gesellschaften geben kann, die unter Wahrung von Freiheit und Recht und ohne Ruin der Familie einen viel schnelleren Kreislauf erzeugen, ist fraglich.
So schlecht ist das Ergebnis des Spiels um Auf- und Abstiegschancen, wenn es weitgehend dem Markt überlassen bleibt, also nicht. Und es ist zu bezweifeln, ob weitere Eingriffe des Staates bessere Leistungen bringen, ob jenes neue Familienrecht, das den Vormundschaftsgerichten einen größeren Einfluß auf die Berufswahl der Kinder einräumt, wirklich den damit Beglückten zum Vorteil gereicht.
So häßlich ist diese Kapitalistengesellschaft dann doch nicht, daß es kein Jammer wäre, sie ganz und gar zu ruinieren.
Und ruiniert wird diese Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung auf Dauer ganz sicher, wenn der Staat sich ständig und zunehmend in alles einmischt.
Bevor ihre Farben ganz verblassen, bevor die grauen Staatsbürokratien all ihre Flexibilität aus angeblich guten, weil sozialen Gründen ersticken, lohnt es sich, zu erkennen -- so schrieb einst Schumpeter --, »wie farbenreich sie in der Zeit ihrer Vollkraft war, wie weite und gleiche Möglichkeiten sie den Familien (wenn nicht den einzelnen) eröffnete, wie groß die persönliche Freiheit war, die sie jenen (oder den Kindern jener) gewährte, die ihre Prüfung bestanden«. Und wichtig sei auch, sich zu erinnern, daß der zu ihr gehörende Menschentyp, der Typ, »der in erster Linie durch seine eigenen Belange in Anspruch genommen wird«, in der Regel größere Toleranz zeigt »gegenüber politischen Differenzen und Achtung für Ansichten, die er nicht teilt, als irgendein anderer Typ menschlichen Wesens«.
Und nicht vergessen werden sollte auch dies: »Die Radikalen mögen darauf bestehen, daß die Massen nach Erlösung von unerträglichen Leiden schreien und in Nacht und Verzweiflung mit ihren Ketten rasseln, aber selbstverständlich hat es früher niemals so viel persönliche -- geistige und körperliche -- Freiheit für alle gegeben, niemals so viel Bereitschaft, die Todfeinde der führenden Klasse zu dulden (ja sie zu finanzieren), niemals so viel tätiges Mitgefühl mit wirklichen und eingebildeten Leiden, niemals so viel Bereitschaft, Lasten auf sich zu nehmen, wie in der modernen kapitalistischen Gesellschaft.«
Was diejenigen treibt, die den antikapitalistischen Zeitgeist produzieren S.88 und artikulieren, was die politisch aktiven Gruppen in den Parteien bewegt, auf immer mehr systemschädliche Sozialeingriffe zu drängen und damit den schleichenden Verfall der einzig wirklich für alle offenen Gesellschaft der Menschheits-Geschichte zu betreiben -- der Philosoph Karl R. Popper hat es beschrieben: Es ist eine atavistische Sehnsucht nach der Ruhe und Ordnung einer geschlossenen Gesellschaft, eine Sehnsucht nach Stillstand, nach Endgültigkeit. Kein Wachstum mehr, kein spontaner, nur noch geordneter Strukturwandel, kein Arbeitsplatz- und kein Wohnungswechsel mehr, Sicherung des sozialen Besitzstands, all diese Forderungen sind Indizien dafür.
Es ist eine Sehnsucht, die auftaucht, wenn »die Last ... der Zivilisation fühlbar ... zu werden« beginnt -- eine Last, die, wie Popper spottet, »in Deutschland gerne mit dem ... sentimentalen Namen ''Selbstentfremdung des Menschen'' belegt« wird.
Denn die Vorteile, die offene Gesellschaften zu bieten haben, verlangen einen Preis. Der Preis -- so Popper -heißt Unruhe und Konkurrenz, heißt ständige Auf- und Abstiege, heißt Mangel an Wärme, an Emotionen, heißt Mangel an magischen Mythen.
Und er heißt »persönliche Entscheidung« und »persönliche Verantwortlichkeit«, beinhaltet also das Risiko, sich auch einmal schuldig fühlen und die Gründe für etwaiges Versagen sich selbst anlasten zu müssen -- ein Risiko, das es in der geschlossenen Gesellschaft mit Gruppenverantwortung und nur noch kollektiven Entscheidungen nicht gibt; denn diese Institutionen lassen »keinen Raum für persönliche Verantwortlichkeit« (Popper).
All jene, denen dieser »Preis für die Humanität« (Popper) zu hoch erscheint, mögen vielleicht verständliche, sehr persönliche Gründe dafür vorweisen können. Im Interesse des Volkes, der einfachen Bürger jedoch, die bei einer Rückkehr zur geschlossenen Gesellschaft nur zu verlieren hätten, sprechen sie mit ziemlicher Sicherheit nicht.
Die kapitalistischen Wirtschaftssysteme waren nur in einer kurzen Anlaufphase auch Schrecken der arbeitenden Massen, dann aber stets ihr Zufluchtsort: Seit es sie gibt, sind die Menschen dorthin und nicht weggewandert. Geflüchtet sind sie stets nur aus Systemen, in denen der Staat -- ob als Gottes-Gnaden-Monarchie, ob als sozialistischer Alles-Macher, ob als faschistisches Terror-Regime -- eine überbordende Rolle einnahm.
Und es ist ganz sicher, daß auch eine »neue Form des Obrigkeitsstaats in Gestalt des Wohltäters« (Norbert Blüm) nicht viel weniger Bedrückung verbreiten wird als die totalitären Staaten von früher und jetzt. Und zum Obrigkeitsstaat wird der Sozialstaat ganz sicher entgleisen, wenn die regierungsamtliche Wohltuerei nicht gebremst, gekappt, sortiert und umorganisiert wird.
Jetzt schon ist das sozialstaatliche »Normenmeer« (Matz), das die Gesetzesmacher zusammengossen, so riesig, daß kein Bürger es mehr zu überschauen vermag. In vielen Sozialstaatsbereichen gibt es in sich widersprüchliche, dazu noch unpräzise Gesetze, die im Streitfall den Ermessensspielraum von Richtern so riesig machen, daß (wie im sozialen Mietrecht etwa) von Rechtssicherheit nicht mehr die Rede sein kann.
Derzeit bereits haben Beglückungsbürokratien (wie etwa die Wohngeldämter) einen Zugriff auf das Privatleben der Bürger, der mit dem Schutz desselben nur schwerlich vereinbar erscheint. Und auch gegen die Gleichheit vor dem Gesetz, den wichtigsten Grundsatz des Rechtsstaats, wird bereits nach obrigkeitsstaatlicher Willkür-Art im Namen eines angeblich sozialen Verfassungsauftrags verstoßen.
Daß dabei auch noch die Dynamik der Wohlstandsentwicklung leidet, ist vielleicht sogar der geringere, auf Dauer aber auch ein schmerzlicher Schaden. Und das ist keineswegs nur die einzige schädliche Folge für die Ökonomie. Denn durch jene Sozialstaatsmanöver, die auf Kosten der fleißigen, tüchtigen Bürger den »findigsten Schnorrer« (Stützel), den Simulanten, den Schwarzarbeiter prämieren, kann auch die Verteilung der Einkommen gewiß nicht gerechter und besser werden.
Und dazu kommt noch dies: Durch die soziale Umsorgerei von Bürgern, die sich auch selbst helfen könnten und würden, wenn der Staat ihnen nur den nötigen Frei-Raum und dazu den nötigen Teil ihres Verdienstes beließe, bleibt für die kleinen Gruppen, die wirklich der Hilfe bedürfen, weniger amtliche Energie und oft auch weniger Geld, als nötig und wünschbar wäre.
Und daß überdies das Riesengebilde namens Sozialstaat die teuren Bürokratien zusätzlich bläht und dank seiner gewaltigen Kosten die Staatsbudgets und die Einkommen der Bürger immer stärker belastet, wird unterdes sogar von Politikern nicht mehr ganz ernsthaft bestritten.
Und so ist die Gefahr riesengroß, daß im Namen der sozialen Gerechtigkeit erst langsam und schleichend, dann immer schneller alles zerstört wird: Recht und Freiheit und der Wohlstand dazu.
Über die liberalen Ideen, die dann aus der Gesellschaft verschwinden, hatte Ortega y Gasset geschrieben: »Die Wahrscheinlichkeit war gering, daß die Menschheit eine so schöne, geistreiche, halsbrecherische und widernatürliche Sache erfinden würde. So ist es kein Wunder, wenn nun diese selbe Menschheit entschlossen scheint, sie aufzugeben. Ihre Ausübung ist allzu schwierig und verwickelt, als daß sie auf dieser Erde Wurzel schlagen könnte.«
Es gibt noch die Hoffnung, daß er sich irrte.
Ende
Diese SPIEGEL-Serie erscheint demnächst als SPIEGEL-BUCH.
S.761975 bei dem Autowerk Audi-NSU, dessen Arbeitsplätze unterdes nichtmehr bedroht sind.*